Nachbetrachtung:

"Geh´ mit Gott - aber geh‘!"

 

ch sitze am Tisch und trinke genüßlich meinen Cappucino, während mir das zuvor bestellte Frühstück gebracht wird. Die Atmosphäre erinnert mich irgendwie an ein typisches französisches Straßencafe. "Kein Wunder", denke ich und muß schmunzeln, "wenn man bedenkt, daß wir erst vor kurzem von unserer zweiwöchigen Wandertour durch Südfrankreich mit einer Gruppe der Bewährungshilfe Marburg zurückgekommen sind". In diesem Moment trifft Peter mit einem Lächeln und einem herzlichen `Hallo´ ein und setzt sich neben mich. Wir beide haben Abstand zu den phasenweise sehr anstrengenden zurückliegenden zwei Wochen gewonnen und uns nun das Ziel gesetzt, unsere Gedanken und Gefühle zu den Ereignissen auf der Tour zu reflektieren, und für uns sowie als Transparenz der erlebnispädagogischen Unternehmung mögliche Erwartungen und Ergebnisse ersichtlich zu machen. Ein Vorhaben, zu dem uns auf der Tour stets zu wenig Zeit, Ruhe und Abstand zur Verfügung stand. Nun erinnert lediglich das auf dem Tisch liegende Handy an Zeitknappheit und Streß.

"Geh´ mit Gott", sagt Peter langsam, "aber geh´!". Zuerst kann ich einen rätselnden Blick nicht verkneifen, aber dann beginne ich zu begreifen, daß dieser Satz symbolisch sehr viel über die Tour, über Erwartungen an die Unternehmung und mögliche Ergebnisse für die Gruppenteilnehmer, sowie die Umstände, unter denen die Gruppe zwei Wochen gewandert ist, aussagt. Der erste Teil dieses Satzes, der den Überlieferungen zufolge ein üblicher Gruß an die Pilger auf dem Jakobsweg darstellte und daher auch die religiöse Prägung erklärt sowie die Ergänzung `aber geh´ wirken für uns wie ein Schlüssel für die nun folgenden Aspekte.

Bedeutung der Gruppenwanderung auf einem der ältesten Pilgerwege Europas im Rahmen des Angebots der Bewährungshilfe Marburg

eh´ mit Gott – aber geh´! Aus gesellschaftlicher Sicht sind die Probanden, die das Angebot der Bewährungshilfe einer zweiwöchigen Wanderung freiwillig angenommen haben, keine `Engel´. Es sind Menschen, die aufgrund verschiedener Problemlagen straffällig geworden sind, zum großen Teil eine Haftstrafe verbüßt haben und nun die verschiedenen Beratungs-, Betreuungs- und Unterstützungsangebote der Bewährungshilfe annehmen können, bzw. ein Minimum dessen annehmen müssen. In dieser Diskrepanz zwischen Zwang und Hilfe steht auch die pädagogische Arbeit der BewährungshelferInnen. Daher ist eine freiwillige Teilnahme an dem Angebot einer Gruppenaktivität in Form einer erlebnispädagogischen Wanderung eine unbedingte Voraussetzung für eine realistische pädagogische Arbeit.

Darüber hinaus sind es Menschen, die aufgrund ihrer individuellen Biographien, die für die Gesellschaft sichtbar über eine Straffälligkeit und einen Strafvollzug bis hin zur Bewährungshilfe führten, Ausgrenzungen und Stigmatisierungen erfahren haben. "Geh mit Gott" mit der Betonung auf "– aber geh´" drückt so gesehen eine ablehnende und ausgrenzende Haltung des Umfeldes, der Gesellschaft den Straffälligen gegenüber aus, bei der das Spektrum von Ignoranz über Verdrängung bis hin zur Hoffnungslosigkeit reichen kann.

Stigmatisierung und Ausgrenzung werden aber immer Begleiterscheinungen sein, wenn Menschen einen gesellschaftlich und vor allem rechtlich vorgegebenen Weg verlassen. In der Bewährungshilfe werden die Probanden bei der nötigen Anpassung an ihre realen Lebensbedingungen von BewährungshelferIn unterstützt. Diese sollen die Probanden basierend auf persönlichen Beziehungen und in einem länger andauernden Prozeß zu einer Verhaltensänderung und konstruktiven Lebensbewältigung befähigen. Proband und BewährungshelferIn `gehen´ also einen zeitlich begrenzten Weg gemeinsam.

Die Wanderung auf dem Jakobsweg stellt eine besondere Art des möglichst breiten und vor allem annehmbaren Beratungsangebots dar. In dem Feld der Gruppenaktivitäten der Marburger Bewährungshilfe besitzt dieses Angebot einen sehr speziellen und vor allem intensiven Charakter, der Chancen für eine produktive Arbeitsweise in sich birgt. Mit der Bereitschaft der Probanden wie auch der BewährungshelferInnen, sich intensiv und über einen direkt sichtbaren und somit ernst zu nehmend längeren Zeitraum auf eine persönliche Beziehung zueinander einzulassen, wächst die Möglichkeit, über die persönliche Beziehung und mit Hilfe der Gruppendynamik zu arbeiten. Dabei ist es vor allem den BewährungshelferInnen möglich, Zeit zielorientiert zu investieren, die ihnen in der üblichen Arbeitsorganisation nicht zur Verfügung stehen. Eine häufige Diskrepanz zwischen Bedarf der Probanden und Möglichkeiten sowie Zielen der BewährungshelferInnen, die sich negativ auf die möglichen Ergebnisse der pädagogischen Arbeit auswirken kann.

Der Weg ist lang, intensiv und nicht immer leicht zu gehen!

eh´ mit Gott – aber geh´! Vor uns stand also ein langer `gemeinsamer Weg´, auf dem sich jedes Gruppenmitglied für sich in die Gruppe einfügen mußte. Aber jeder begab sich auch selber auf einen Weg, für dessen Verlauf es zwar sicherlich Vermutungen und Vorhaben jedoch keine Garantie gab, und dessen Ausgang `in den Sternen´ stand. Für die meisten Teilnehmer war dieser Weg ein unbekannter und neuer Weg. Hinzu kommt, daß jeder Gruppenteilnehmer seine ganz eigene Vergangenheit mitbrachte, in der bereits Erfahrungen mit Gruppen und daraus resultierend Verhaltensmuster in Gruppen gemacht wurden. Es war klar, daß auf der zweiwöchigen Wandertour eine Interaktion und Konfrontation mit dem jeweils Gegenüber nicht zu vermeiden war. Unsicherheit und Angst, die jedoch häufig nicht gezeigt werden durften, spielten in dieser Hinsicht sicherlich eine Rolle und beeinflußten das jeweilige Verhalten in der Gruppe.

Die Teilnahme an der Gruppenunternehmung `Jakobsweg 1999´ war in vieler Hinsicht ein Wagnis, ein Vorhaben für jeden Einzelnen, und so gesehen verbunden mit einem Ziel, das erst einmal erreicht werden muß.

Nicht immer leichte Ziele und Vorhaben

nser Ziel in den Interaktionen war es, über einen längeren Prozeß hinweg eine Beziehung zu den einzelnen Probanden aufzubauen, deren Charakter von einer Art Vertrauen geprägt sein sollte. Seinen Interaktionspartner dabei in möglichst vielen Situationen ernst zu nehmen und ihn in seiner Person anzuerkennen, war dabei ein sehr wichtiger und zentraler Aspekt. Es zeigte den Probanden vor allem auch, daß Ihnen nicht grundlos mißtraut wurde. Diese auf der einen Seite sehr offene und ideale, auf der anderen Seite in gewisser Weise aber auch immer naive Art und Weise mag ein gewisses Risiko in sich bergen, zeigt aber die normalen Werte von sozialen Beziehungen, die notwendig sind, um beziehungs- und konfliktfähig zu sein. In diesem Zusammenhang war es wichtig, daß Entscheidungen in die Gruppe gereicht und gemeinsam argumentativ getroffen wurden. Dabei war es unser Ziel, möglichst jeden Gruppenteilnehmer zu befähigen, zu fördern und zu ermutigen, sich an möglichst vielen Entscheidungen, Regelfindungen und Konfliktlösungen, die die Gruppe betrafen, zu beteiligen. Diese Basis ermöglichte es zunehmend, ein Klima in den einzelnen Beziehungen sowie in der Gruppe zu schaffen, in dem konstruktive Kritik anstatt ignoriert und abgetan, aufgenommen und teilweise an sich heran gelassen werden konnte.

Durch den Ansatz, die Gruppe als ein Gefüge zu betrachten, in dem jeder Einzelne seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten entsprechend gefördert und anerkannt aber auch gefordert wurde, wurde die Notwendigkeit vermittelt, selber aktiv werden zu müssen, ohne jedoch als eine Art `Einzelkämpfer´ isoliert zu sein. Die Werte von Geben und Nehmen treten in solch einem Gruppenprozeß häufig nicht in direktem Zusammenhang auf, ähnlich wie bei einem Tauschhandel, sondern in Form einer zeitlich verzögerten Arbeitsteilung und indirekten Beziehungen. Leistung und Gegenleistung treten nicht immer parallel auf und sind nicht immer meß- und vergleichbar, sondern viel mehr ungeachtet dessen ein wichtiger Bestandteil sozialer Beziehungen, wenn mit ihnen anerkennend umgegangen wird.

Grenzwerterfahrungen

as intensive Gruppenleben über einen langen Zeitraum stellte für die Teilnehmer wie auch für die Gruppenleiter eine hohe Anforderung dar. Alle Gruppenmitglieder mußten einen Weg finden, eigene Bedürfnisse und Vorstellungen mit denen der anderen Mitglieder der Gruppe mit anerkannten Mitteln ständig auszuhandeln und abzustimmen. Für die einzelnen Personen hieß dies, daß sie sich entweder bremsen mußten oder gefordert wurden. Die Gruppe ließ es auf Dauer nicht zu bzw. nicht unangesprochen, daß sich einzelne Personen insofern fallen ließen, als daß sie die Bedürfnisse anderer, die der Gruppe und der gemeinsamen Zielsetzungen und Regeln zugunsten eigener Handlungsmustern mißachteten. In diesem Bereich sind aufgrund dieser sehr hohen Anforderungen Spannungen entstanden, die in einem gemeinsamen Prozeß erlebt, durchlebt und in den meisten Fällen geregelt wurden. Dabei erwies es sich als besonders positiv, daß es uns in der Gruppe häufig gelang, möglichst alle Problemthemen schnell, direkt und offen anzusprechen – so auch die auftretenden Alkohol- und Geldprobleme.

ine sehr viel bewußtere Ebene stellte die körperliche Grenzwerterfahrung des Wanderns dar. Unannehmlichkeiten, Schmerzen an den Füßen, Sonnenbrand und Unlust waren auf der Tour ständig präsent. Man schimpfte über den schlechten Weg oder die brennende Sonne, über Regengüsse und falsche Kilometerangaben. Die Erfahrung aber, trotzdem durchgehalten zu haben und ein selbst gestecktes Ziel in Form des Etappenziels nach ca. 230 Kilometern konsequent verfolgt und erfolgreich erreicht zu haben, machte viele in der Gruppe stolz. Diese Erfahrung stärkte sicher nicht nur auf der bewußten und direkten Ebene des Wanderns das eigene Selbstwertgefühl und es ist zu hoffen, daß aus dieser selbst erlebten Erfahrung Mut, Hoffnung, Halt und Struktur für das eigene Leben mitgenommen werden konnte.

chließlich beinhalteten die Grenzwerterfahrungen einen sehr wichtigen Lernaspekt. Die meisten der in diesem Zusammenhang gemachten Erfahrungen zeigten auf, daß Grenzüberschreitungen in sozialen Beziehungen nicht zwangsläufig einen Abbruch der Beziehung bedingten. Es kam viel mehr darauf an, sich selber und anderen gegenüber Schwächen und Fehler einzugestehen, kritikfähig zu sein und diese Kritik produktiv und konsequent zu nutzen.

Effektive Vermittlung von Erfahrungen

eh´ mit Gott – aber geh´

Die Gruppenmitglieder sind nicht als Engel gestartet und auch nicht als Engel zurückgekehrt. Auch haben wir die Wanderung auf dem Pilgerweg nicht als eine Strafpilgerschaft aufgefaßt und gestaltet. Die Tour hat viele positive Möglichkeiten gezeigt, die Ziele der Bewährungshilfe `effektiv´ zu vermitteln. Jeder einzelne Teilnehmer hat dieses Angebot der Marburger Bewährungshilfe in erster Linie für sich selber genutzt und dabei von anderen profitiert. Es wurden Erfahrungen gemacht, auf die im späteren Leben zurückgegriffen werden kann. Die Tour hat sich alleine dann gelohnt, wenn sich die Teilnehmer in zentralen, lebensrelevanten Situationen an erfolgreich erlebte Situationen der Jakobsweg – Wanderung erinnern.

Und dennoch war es für keinen von uns ein Spaziergang!

Kai Großer



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