Erlebnisorientierte Gruppenarbeit

als Methode in der Arbeit

mit Probanden der Bewährungshilfe

 

 

 

 

 

Diplomarbeit an der

Universität - Gesamthochschule Siegen

 

Studiengang Außerschulisches Erziehungs- und Sozialwesen

 

 

 

 

bearbeitet von:                 Stephanie Volk

                                     

 

 

 

 

 

Hüttenberg, im Juli 1997

 

 

 

 


Inhalt:

 

 

1.         Einleitung

 

2.         Strafaussetzung und Bewährungshilfe

            in der Bundesrepublik Deutschland

 

2.1        Definition der Bewährungshilfe

2.2        Geschichte und Entwicklung der heutigen

            Strafaussetzung zur Bewährung

2.3        Rechtsgrundlagen der Bewährungshilfe

2.4        Organisationsformen der Bewährungshilfe

2.5        Soziale Arbeit in der Bewährungshilfe

2.6        Resümee und Ausblick

 

3.         Erlebnispädagogik als Methode in der sozialen Arbeit

 

3.1        Exkurs: Traditionelle Methoden der Sozialarbeit

3.2        Definition der Erlebnispädagogik

3.3        Geschichtliche Entwicklung der Erlebnispädagogik

3.3.1     Die frühen Wegbereiter der Erlebnispädagogik

3.3.2     Die Reformpädagogik

3.3.3     Erlebnispädagogik vom Nationalsozialismus bis heute

3.4        Didaktik und Methodik der Erlebnispädagogik

3.5        Ziele der Erlebnispädagogik

 

4.         Erlebnispädagogik in der Bewährungshilfe

 

4.1        Methodische Ansätze der Sozialarbeit

            in der Bewährungshilfe

4.2        Soziale Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe

4.3        Erlebnispädagogik mit Randgruppen

4.4        Straffälligenhilfe und Erlebnispädagogik

4.4.1     Exkurs: Ausgewählte Kriminalitätstheorien

4.5        Erlebnispädagogik als Mittel zur Vermeidung von Straftaten ?

 

5.         Projektvorstellung der Bewährungshilfe Marburg

 

5.1        Erlebnisorientierte Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe

5.2        Die Wanderung in Frankreich

5.3        Die Wanderung aus der Sicht teilnehmender Probanden

5.4        Zusammenfassung der Ergebnisse

5.5        Fazit und kritische Würdigung

 

6.         Schlußbetrachtung

 

7.         Literaturverzeichnis der Diplomarbeit

 

Anhang A)

Interview mit drei der teilnehmenden Probanden an der erlebnis-

pädagogischen Wanderung der Bewährungshilfe Marburg

 

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1. Einleitung

 

Zu Beginn möchte ich erläutern, warum ich gerade dieses Thema für meine Diplomarbeit ausgewählt habe, wie ich sie aufgebaut habe und mit welchen Intentionen.

 

Bereits zu Beginn meines Studiums begegnete mir das Thema: "Erlebnispädagogik in der sozialen Arbeit" und erweckte großes Interesse bei mir. Des weiteren absolvierte ich das zweite 45-Tage Praktikum bei der Bewährungshilfe in Wetzlar und diese Arbeitsfeld gefiel mir sehr gut. Ich hatte dort die Möglichkeit, einen sehr guten Einblick in das gesamte Arbeitsfeld sowie in seine Problembereiche zu erhalten. Eines der größten Probleme sah ich in dem Zwangscharakter der Beratung, der zur Folge hatte, daß die Probanden häufig sehr verschlossen und distanziert waren. Sicherlich gab es hier auch Ausnahmen aber die Mehrzahl der Probanden lernte man nur oberflächlich kennen Um Hilfe baten sie in der Regel nur bei Problemen mit Ämtern oder Behörden, bei Bewährungsangelegenheiten oder in Schuldensachen. Die große Anzahl der unterstellten Probanden und ihr Erscheinen alle sechs bis acht Wochen führte ebenfalls zu einem recht oberflächlichen Verhältnis, was den Eindruck im mir erweckte, eigentlich überhaupt nicht zu wissen, mit welchen Menschen man es hier zu tun hatte. Ich war auch der Ansicht, daß ein effektives Arbeiten an Problemen und Notlagen, die zur Straffälligkeit geführt hatten, überhaupt nicht möglich war und die resozialisierende Wirkung, die der Bewährungshilfe zugesprochen wird, nur schwer erfüllbar ist. Das dies nicht Schuld der dort tätigen Bewährungshelfer war, wurde mir schnell klar. Denn meiner Auffassung nach lagen die Gründe dafür eher in der Organisationsform der Bewährungshilfe, nämlich als Institution der Justiz und in der Arbeitsweise der Bewährungshilfe, als soziale Einzelhilfe. Das diese Arbeitsweise dominiert, ist wohl einerseits in der namentlichen Bestellung des Bewährungshelfers durch das Gericht begründet, andererseits in der Überlastung der Bewährungshelfer durch die Vielzahl der unterstellten Probanden, was vielleicht dazu führt, daß für Arbeitsaufwand und Risiko neuerer Ansätze keine Zeit bleibt.

 

Im Laufe meines Praktikums erfuhr ich dann von einem Marburger Bewährungshelfer, der hin und wieder erlebnispädagogische Wanderungen mit seinen Probanden durchführte. Wie bereits erwähnt hatte ich mich an der Universität schon verstärkt mit dem Thema der Erlebnispädagogik sowie mit der Straffälligenarbeit beschäftigt. Mich interessierte die Kombination beider Bereiche und so nahm Kontakt mit dem Marburger Bewährungshelfer Peter Reckling auf. Dieser war von Beginn an sehr hilfsbereit und versorgte mich mit Material über seine erlebnispädagogischen Aktivitäten und über Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe. Der Bewährungshelfer versuchte hiermit genau das zu überwinden, was ich an der Arbeit der Bewährungshilfe kritisierte: daß keine Nähe zu den Probanden aufgebaut wird und somit effektives Arbeiten sowie Resozialisierungsabsichten nur schwer zu realisieren sind. Peter Reckling erklärte sich bereit mich bei anliegenden Fragen und Vorhaben zu unterstützen.

 

Meine Diplomarbeit beginne ich mit der Beschreibung der Bewährungshilfe, d.h. mit der geschichtlichen Entwicklung, den rechtlichen Grundlagen, den Organisationsformen sowie der sozialen Arbeit in der Bewährungshilfe. Damit beabsichtigte ich, zunächst das Arbeitsfeld der Bewährungshilfe sowie seine Problembereiche vorzustellen, um später dann eine bessere Integration der erlebnispädagogischen Methode in das Arbeitsfeld vornehmen zu können und auch besser die daraus entstehende Vorteile aufzeigen zu können. Des weiteren habe ich die Methode der Erlebnispädagogik vorgestellt, ebenfalls in ihrem geschichtlichen Werdegang, ihrer Methodik und Didaktik sowie ihre Zielvorstellungen. Ab dem Vierten Gliederungspunkt meiner Diplomarbeit gehe ich dann speziell auf die Erlebnispädagogik mit Randgruppen und insbesondere mit Straffälligen ein. Hierbei verfolgte ich die Absicht die Relevanz dieser Methode einmal auf die Zielgruppe der Straffälligen zu untersuchen und die Vorteile einer erlebnisorientierten Arbeit mit ihnen aufzuzeigen. Das Thema Erlebnispädagogik boomt seit den 80er Jahren nahezu in allen Arbeitsfeldern der sozialen Arbeit, aber gerade im Bereich der Straffälligenarbeit wird sie gegenüber anderen Arbeitsfeldern noch relativ selten angewendet. Im Gegensatz zu der Bewährungshilfe ist die Methode der Erlebnispädagogik jedoch schon vielfach im Jugendarrest und im Jugendstrafvollzug anzutreffen und freie Träger der Straffälligenhilfe haben sich hin und wieder damit befaßt. In der Arbeit der Bewährungshilfe spielt die Erlebnispädagogik immer noch eine sehr untergeordnete Rolle, abgesehen von vereinzelten Maßnahmen einiger Bewährungshelfer. Dies entspricht ebenfalls dem Bild der Anwendung von Gruppenarbeit generell in der Bewährungshilfe, die auch nur sporadisch von einzelnen Bewährungshelfern angewandt wird. Im fünften Teil meiner Arbeit stelle ich ein konkretes Projekt einer erlebnispädagogischen Maßnahme in der Bewährungshilfe am Beispiel der Bewährungshilfe in Marburg dar, wo erlebnispädagogische Wanderungen mit Probanden auf dem historischen Jakobsweg in Frankreich durchgeführt werden. Um diese Maßnahme noch transparenter darzustellen, habe ich Interviews mit dem durchführenden Bewährungshelfer und drei der teilnehmenden Probanden gemacht. Abschließend habe ich noch einige Kritikpunkte angeführt, die trotz positiver Beurteilung der Methode von meiner Seite, durchaus berechtigt sind und nicht verschwiegen werden dürfen.

 

Zielvorstellung meiner Diplomarbeit war es demnach, deutlich zu machen, daß auch die Bewährungshilfe als traditionelle, ambulante, Institution der Resozialisierung neue Arbeitsweisen zur Verfügung stellen sollte, die durchaus förderlich wären die die Probanden auf ein Leben in Straffreiheit vorzubereiten anstatt ständig an alten und vielleicht überholten Methoden streng festzuhalten. Des weiteren wollte ich aufzeigen, daß die Gruppe der Straffälligen durchaus mit solchen Maßnahmen erreicht werden kann und die Erlebnispädagogik vielleicht einen neuen Weg im Umgang mit dieser Zielgruppe darstellen kann.

 

 

2. Strafaussetzung und Bewährungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland

 

2.1 Definition der Bewährungshilfe

 

Bevor ich in diesem Teil meiner Arbeit näher auf die Geschichte der Bewährungshilfe, ihre Rechtsgrundlagen, Organisationsformen sowie auf ihre Arbeitsweisen und -bedingungen eingehe, möchte ich vorab noch einige Definitionen zur Bewährungshilfe geben.

 

Die Strafaussetzung zur Bewährung, so wie wir sie heute kennen, gehört zu den tiefgreifenden Reformen des deutschen Strafrechtes und hat zu wesentlichen kriminalpolitischen Neuorientierungen beigetragen. Im Rahmen des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4.8.1953 wurde die Strafaussetzung zur Bewährung eingeführt und im Zuge des 2. Gesetzes zur Reform des Strafrechtes erweitert.

 

Die Zahl der Probanden der Bewährungshilfe, welche bei weitem die der Strafgefangenen übersteigt, macht deutlich, welche Bedeutung der Strafaussetzung zur Bewährung heute zukommt. Die Wurzeln dieser Umverteilung liegen wohl in der weitgehend gewachsenen Erkenntnis in die negativen Folgen des Strafvollzuges. Andererseits kommt hier auch ein gewisser Glaube an bessere Resozialisierungsmöglichkeiten im Rahmen ambulanter Maßnahmen zum Ausdruck. (vgl. Maelicke, 1986, S.143)

 

Bewährungshilfe bezeichnet zunächst diejenige Institution, die bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung sowie bei der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung tätig wird. Oberstes Ziel dieser Einrichtung besteht darin, bei der Resozialisierung von Straffälligen mitzuhelfen, um so den Vollzug einer Freiheitsstrafe oder einer weiteren Vollzug überflüssig zu machen. (vgl. Maelicke, 1986, S. 145)

 

Da die Institution der Bewährungshilfe eine ambulante Maßnahme zur Resozialisierung von Straftätern darstellt, möchte ich nun hier noch kurz den Begriff der Resozialisierung erläutern. Der Begriff der Resozialisierung bezeichnet ein Ziel gesellschaftlicher Reaktion auf Kriminalität und zwar bedeutet das in diesem Zusammenhang die Wiedereingliederung der Straftäter in die Gesellschaft. (vgl. Schellhoss, 1993, S. 429)

 

Aufgrund des erheblichen Anstieges der Strafaussetzung zur Bewährung wurde die Bewährungshilfe in den letzten Jahren erheblich ausgebaut und hat sich so im Laufe der Zeit zu einem eigenständigen Teil der Justiz entwickelt. Die Bewährungshelfer unterstehen in der Regel der Dienstaufsicht des jeweiligen Landgerichtspräsidenten und sind somit der Justiz zugehörig. (vgl. Maelicke, 1986, S.145)

 

Kerner geht in seinen Ausführungen zur Bewährungshilfe etwas präziser vor. Bewährungshilfe besteht für ihn gemäß des Gesetzes darin, einen Verurteilten für die Dauer seiner Bewährungszeit einem Bewährungshelfer zu unterstellen. Ziel dieser Unterstellung ist zunächst, den Verurteilten von Straftaten abzuhalten. Weiterhin beinhaltet die Bewährungszeit auch das Bereitstellen spezieller Hilfsmaßnahmen für den Probanden. Bei all diese Aufgaben, muß der Bewährungshelfer seine Arbeit weitgehend selbständig organisieren. Weiterhin geht Kerner auf die Doppelfunktion des Bewährungshelfers ein, die ihm das Gesetz aufgebürdet hat. Einerseits ist er nämlich Helfer des Probanden und andererseits ist er verlängerter Kontrollarm der Justiz. (vgl. Kerner, 1993, S. 78)

 

Die Anordnung eines Bewährungshelfers geschieht automatisch bei allen Formen der Aussetzung im Jugendstrafrecht (§ 24 JGG). Im allgemeinen Strafrecht ist dies etwas anders geregelt. Hier kommt es zu einer Unterstellung bei allen Verurteilten unter 27 Jahren, wenn Freiheitsstrafen von über 9 Monaten ausgesetzt werden, ansonsten bei Erwachsenen nur dann, wenn dies im Einzelfall angezeigt ist, um den Verurteilten von erneuten Straftaten abzuhalten.

 

Abschließend zu diesem Punkt möchte ich nun einen Ausschnitt eines Definitionsvorschlages der Bewährungshilfe vorstellen, den ein Bewährungshelfer selbst gegeben hat. Ich denke dieser Definitionsvorschlag stellt ein gutes Pendant zu den eher formell und institutionsgebundenen Definitionen dar. Nach Bernd Schulze, der selbst seit 31 Jahren als Bewährungshelfer tätig ist, ist Bewährungshilfe „der Versuch, sozial bindungsschwachen Menschen, die aus diesem Grund in Sozialkonflikte geraten und daher straffällig geworden sind, zur Bindungsfähigkeit zu verhelfen. Es gilt eine defizitäre Entwicklung, die zu gesellschaftlicher Isolierung geführt hat, aufzuhalten und umzukehren. Dies ist möglich über die Herstellung einer Bindung zwischen Helfer und Klient, die Modellcharakter hat. Mit den Mitteln der Sozialpädagogik wird eine positive Sozialpartnerschaft hergestellt. Der Helfer stützt und unterstützt zunächst den schwächeren Partner, überwindet durch sein Verständnis, durch sachgemäße fürsorgerische und sonstige Hilfeleistungen dessen Mißtrauen und stellt ein freundschaftliches Verhältnis zum Klienten her. In dem Maße,wie das gelingt, wächst des Klienten Vertrauen und seine Leistungsbereitschaft." (Schulze, 1990, S. 322)

 

 

2.2 Geschichte und Entwicklung der heutigen Strafaussetzung zur Bewährung

 

Betrachtet man die Geschichte der sozialen Hilfen für straffällige Menschen, so zeichnet sich hier ein Wechsel der verschiedensten Einstellungen gegenüber Straffälligen ab. Die Reaktionen der Gesellschaft reichen von staatlicher Zurückhaltung über soziale Erniedrigung bis hin zu caritativen Bemühungen von privaten Organisationen und Privatpersonen.

 

Im Laufe dieser historischen Entwicklung wird jedoch auch ein Anwachsen des Wissens um die sozialen Entstehungsfaktoren von Kriminalität deutlich. Die Folge davon ist ein Ausbau von Fachkräften und Institutionen, die sich um einen professionellen Umgang mit den Straffälligen bemühen und so versuchen, deren Resozialisierungschancen zu verbessern. (vgl. Maelicke, 1994,S. 9)

 

Des weiteren möchte ich nun speziell auf die Geschichte der Strafaussetzung und Bewährungshilfe in Deutschland eingehen. Eines der ältesten Zeugnisse einer Strafaussetzung stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde in Form eines Scherzspieles von Andreas Gryphius überliefert. Dieses Scherzspiel in schlesischer Mundart handelt von einem Gutspächter, der als Gerichtsherr drei Bauern und eine Kupplerin zu Freiheits-, Leibes- und Lebensstrafen verurteilte und diese dann unter besonderen Auflagen zur Bewährung aussetzte. Hier existierte keine Rechtsnorm, sondern es geschah aus reiner Ermessenssache des Gutspächters. Nichts desto trotz ist dies jedoch ein Beweis dafür, daß die bedingte Verurteilung sowie die bedingte Begnadigung schon damals bekannt waren. (vgl. Tögel, 1990, S. 3) Zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 immer noch orientiert an der klassischen Vergeltungsidee und eine bedingte Gnadenentlassung war noch immer ein Privileg des Souveräns. In dieser Zeit regten sich jedoch erste Reformbestrebungen, die eine der angelsächsischen Probation ähnliche Rechtsfolge vorsahen. Die Reformvorschläge scheiterten zu diesem Zeitpunkt jedoch noch, hatten aber die Auswirkung, daß einige Bundesländer dazu übergingen, die bedingte Gnadenentlassung den Staatsanwaltschaften zu übertragen. (vgl. Spieß, 1983, S. 23)

 

Eine aufgrund richterlicher Entscheidung bedingte Strafentlassung im Urteil weist erstmals das Jugendgerichtsgesetz von 1923 auf. In dieser Fassung waren jedoch weniger Maßnahmen der Betreuung und Überwachung im Sinne der heutigen Bewährungshilfe vorgesehen. Es bestand hier eine Form von begleitenden Maßnahmen, bei denen es sich jedoch in erster Linie um Schutz- und Kontrollmaßnahmen handelte, im Sinne einer Polizei- und Schutzaufsicht. (vgl. Sobottka, 1990, S. 4) Maßgeblich war hier, daß sich der Proband während einer zwei- bis fünfjährigen Bewährungszeit einen Straferlaß verdienen konnte, indem er sich gut führte. Diese Regelung konnte sich jedoch nur einer 20-jährigen Dauer erfreuen, denn sie wurde 1943 wieder abgeschafft. (vgl. Spieß, 1983, S. 23) Der Umstand dieser Gesetzesfassung führte jedoch zu Unstimmigkeiten unter den engagierten Praktikern, was zur Folge hatte, daß nach 1945 zunächst ohne gesetzliche Regelungen Initiativen durchgeführt wurden. Diese Initiativen bestanden in einer Versuchsreihe in fünf deutschen Großstädten, wo Ansätze einer Aussetzung der Jugendstrafe sowie des Jugendarrestes und eine daran gekoppelte Unterstellung unter einen Bewährungshelfer durchgeführt wurden. Orientiert wurde sich dabei wiederum an dem angelsächsischen Modell der Probation und an der "liberté surveillée" in Frankreich. Im weiteren Verlauf beschränkte man sich jedoch auf die Aussetzung der Jugendstrafe , was auch in dem neuen Jugendgerichtsgesetz von 1953 mit den entsprechenden Richtlinien zur Bewährungshilfe verankert wurde. (vgl. Spieß, 1983, S. 24) Ebenfalls 1953 wurde auch das allgemeine Strafrecht reformiert und die Strafaussetzung sowie die Bewährungshilfe und die gerichtliche Strafaussetzung rechtlich verankert. Die Aufhebung der Obergrenze von 9 Monaten auf ein Jahr und bei besonderen Umständen in der Tat und Persönlichkeit des Täters sogar auf zwei Jahre, bedeutete eine Ausweitung des Anwendungsbereiches grundsätzlich aussetzungsfähiger Freiheitsstrafen. Eine weitere Ausweitung vollzog sich im Bereich der bedingten Entlassung, hier sah man eine etwaige Entlassung bereits nach der Verbüßung der Hälfte der Strafe vor. Grundlage beider Erneuerungen bildete das erste Strafrechtsreformgesetz von 1969. Die Aussetzungsmöglichkeit der Reststrafe einer lebenslangen Freiheitsstrafe ließ dann in ihrer gesetzlichen Verankerung recht lange auf sich warten und wurde erstmals 1981 eingeführt. Die erste Chance zur Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ist demnach erst nach der Verbüßung von mindestens 15 Jahren möglich. (vgl. Spieß, 1983, S. 24)

 

 

2.3 Rechtsgrundlagen der Bewährungshilfe

 

Das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland kennt zwei Hauptformen der Strafaussetzung zur Bewährung:

- als Aussetzung der (gesamten) Freiheitstrafe, was bezeichnet wird als Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser Fall ist geregelt in § 56 STGB für das allgemeine Strafrecht und in § 21 JGG für das Jugendstrafrecht.

- als Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrestes, was bezeichnet wird als Strafrestaussetzung zur Bewährung. Geregelt ist dies in den §§ 57, 57a STGB für das allgemeine Strafrecht und in §§ 88, 89 JGG für das Jugendstrafrecht. (vgl. Maelicke, 1994, S. 18)

 

Darüberhinaus kann im Rahmen der Gnadenordnung des Bundes und der Länder ebenfalls eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. (vgl. Maelicke, 1994, S. 18)

 

Neben der üblichen Strafaussetzung zur Bewährung existiert auch noch die Führungsaufsicht. Zu einer Führungsaufsicht kommt es, wenn eine freiheitsentziehende Maßregel ganz oder teilweise nachträglich zur Bewährung ausgesetzt wird. Unter einer freiheitsentziehenden Maßregel ist zum Beispiel die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt oder in einer Entziehungsanstalt gemeint. Des weiteren tritt Führungsaufsicht auch dann ein, wenn die Entlassung aus einer erstmaligen Sicherungsverwahrung nach Ablauf der Höchstfrist von 10 Jahren ansteht. Die Möglichkeit der Unterstellung unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers im Rahmen der Führungsaufsicht kennt das Gesetz seit 1975. Geregelt ist dies in den §§ 67b, 67c STGB. (vgl. Spieß, 1983, S. 32)

 

Die Vorgaben für eine Strafaussetzung nach allgemeinem Strafrecht sowie nach Jugendstrafrecht bestehen in der Regel darin daß eine Aussetzung, bei der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und wenn besondere Umstände in der Tat und der Persönlichkeit des Täters vorliegen, auch bei einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren möglich ist. Bedingung für eine Aussetzung ist unter den gegebenen Voraussetzungen, daß der Strafzweck auch ohne Einwirkung des Vollzuges erreicht werden kann und zwar in diesem Fall mit Hilfe der Strafaussetzung, eventuell mit Unterstützung der Bewährungshilfe. Geregelt ist dies in den §§ 56 Abs. 1 StGB, 56 Abs. 2 StGB, 21Abs. 1 JGG, 21 Abs. 2 JGG. (vgl. Spieß, 1983, S .30)

 

Bei der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung sind die Regelungen etwas anders: Im allgemeinen Strafrecht ist eine Aussetzung des Strafrestes möglich, wenn zwei Drittel, mindestens jedoch zwei Monate der Strafe verbüßt worden sind. Hinzu kommt hier noch das Kriterium, ob der Versuch verantwortet werden kann zu erproben, daß der Verurteilte auch außerhalb des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird § 57 Abs. 1 STGB. Weiterhin besteht auch die Möglichkeit einer Strafrestaussetzung zur Bewährung schon nach einer Verbüßung der Hälfte einer Freiheitsstrafe. Dies ist nach einer Gesamtwürdigung aller Umstände sowie der Tat und Persönlichkeit des Täters dann möglich, wenn hier besondere Umstände vorliegen. Zur Anwendung in diesen Fällen kommen hier. §§ 57 Abs. 1 STGB, 57 Abs. 2 STGB. (vgl. Maelicke, 1994, S. 18-19) Welche besonderen Umstände in der Tat und Persönlichkeit des Täters im zweiten Fall gemeint sind, wird vom Gesetz her nicht näher definiert.

 

Im Falle einer Jugendstrafe ist die Strafrestaussetzung erst nach einer Verbüßung von sechs Monaten möglich bzw. bei einer Jugendstrafe von mehr als einem Jahr schon nach der Verbüßung von einem Drittel. Geregelt ist dies im § 88 Abs. 2 JGG. (vgl. Spieß, 1983, S. 31) Voraussetzung ist in beiden Fällen, daß der Verurteilte einen Teil der Freiheitsstrafe verbüßt hat und nun der Versuch unternommen werden kann zu erproben, ob der Verurteilte auch ohne die weitere Einwirkung des Jugendstrafvollzuges in der Lage ist ein rechtschaffenes Leben zu führen, vgl. hierzu § 88 Abs. 1 JGG.

 

Bei der Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung gelten die besonderen Bestimmungen des § 57a STGB. Hier kann nach der Verbüßung von mindestens fünfzehn Jahren eine Aussetzung angestrebt werden. (vgl. Maelicke, 1994, S. 19)

 

Das Gericht kann dem Verurteilten in Verbindung mit der Strafaussetzung Auflagen und Weisungen erteilen, welche ihre gesetzliche Grundlage in den §§ 56b STGB und 56c STGB, und in § 23 JGG haben. Ziel dieser Auflagen und Weisungen ist es, einerseits die Lebensführung des Probanden günstig zu beeinflussen und andererseits, die Zusammenarbeit mit der Bewährungshilfe sicherzustellen. Möglich ist eine Aufhebung oder Abänderung der Auflagen und Weisungen im Laufe der Bewährungszeit, wenn dies aus bestimmten Gründen angezeigt ist.

 

Die häufigsten Auflagen und Weisungen, die erteilt werden, sind:

- mit dem Bewährungshelfer Kontakt zu halten und seinen Vorladungen zur Sprechstunde Folge zu leisten

- Arbeitsplatz und Wohnsitz nur im Einvernehmen mit dem Bewährungshelfer zu wechseln

- Unterhaltsverpflichtungen nachzukommen

- eine begonnene Ausbildung abzuschließen

- Aufenthalt in bestimmten Lokalen oder Verkehr mit bestimmten Personen zu meiden

- Wiedergutmachung eines Schadens

- die Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung

- das Ableisten von Arbeitsstunden

- Meldepflicht sich zu bestimmten Zeiten bei Gericht

(vgl. Spieß, 1983, S. 33-34)

 

Eine der wichtigsten flankierenden Maßnahmen in Verbindung mit einer Strafaussetzung ist die Unterstellung des Verurteilten unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers. (vgl. Spieß, 1983, S. 34)

 

Geregelt ist die Bestellung eines Bewährungshelfers im allgemeinen Strafrecht im § 56d STGB und im Jugendstrafrecht im § 24 JGG. Das Gericht hat demzufolge die Möglichkeit den Verurteilten für die Dauer oder nur für einen Teil der Bewährungszeit unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers zu stellen. Ziel dieser Unterstellung ist es, den Verurteilten von etwaigen neuen Straftaten abzuhalten.

 

Aufgabe des Bewährungshelfers ist es, dem Verurteilten helfend und betreuend zur Seite zu stehen und im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen zu überwachen. In Zeitabständen, die das Gericht dem Bewährungshelfer vorgibt, hat dieser über die Lebensführung des Probanden zu berichten. Mitzuteilen hat der Bewährungshelfer dem Gericht gröbliche und beharrliche Verstöße gegen Weisungen und Auflagen sowie gegen Anerbieten und Zusagen. (vgl. Maelicke, 1994, S. 19)

 

Im Falle der Aussetzung einer Jugendstrafe oder bei der Aussetzung des Strafrestes einer Jugendstrafe ist die Bestellung eines Bewährungshelfers die Regel. Sie erfolgt hier für eine Bewährungszeit von zwei bis drei Jahren, kann jedoch nachträglich auf ein Jahr verkürzt oder auf maximal vier Jahre verlängert werden. (vgl. Spieß, 1983, S. 33) Das JGG gibt dem Bewährungshelfer besondere Befugnisse. Er kann sich Zugang zu dem unterstellten Jugendlichen zu verschaffen, er hat das Recht von Erziehungsberechtigten, der Schule, dem Lehrherrn oder dem Ausbildungsleiter Auskünfte über die Lebensführung des Jugendlichen einzuholen. Weiterhin stehen dem Bewährungshelfer die gleichen Zutrittsrechte zu wie einem Verteidiger, falls sich der Jugendliche in Untersuchungshaft befindet. (vgl. Spieß, 1983, S. 35)

 

Nach allgemeinem Strafrecht sehen die Voraussetzungen etwas anders aus. Hier ist die Bestellung eines Bewährungshelfers bei der Strafaussetzung nicht obligatorisch. Vorgeschrieben ist sie nur bei Verurteilten unter 27 Jahren, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als neun Monaten verurteilt wurden oder wo es angezeigt ist, um den Verurteilten von Straftaten abzuhalten. Im Rahmen der Strafrestaussetzung nach einer Strafverbüßung von einem Jahr und mehr ist die Bestellung eines Bewährungshelfers ebenfalls die Regel. Die Dauer der Bewährungszeit beträgt hier zwischen zwei und fünf Jahren. (vgl. Spieß, 1983, S. 33)

 

Neben hauptamtlichen Bewährungshelfern ist auch die Bestellung von ehrenamtlichen Bewährungshelfern möglich. Die Praxis hat jedoch bewiesen das überwiegend hauptamtliche Bewährungshelfer bestellt werden, vorgeschrieben sind diese aber nur im JGG. (vgl. Spieß, 1983, S. 35)

 

Abschließend in diesem Teil über die gesetzlichen Grundlagen der Bewährungshilfe möchte ich nun noch auf den Widerruf der Bewährung eingehen Eine Strafaussetzung zur Bewährung kann unter den Voraussetzungen des § 65f STGB und nach dem § 26 JGG widerrufen werden.

 

Das Gericht hat die Möglichkeit eine Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen:

- wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine neue Straftat begeht und somit deutlich macht, daß sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag nicht erfüllt hat

- wenn der Verurteilte gröblich und beharrlich gegen Weisungen verstößt und sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers entzieht

 

Absehen kann das Gericht von einem Widerruf, wenn es genügt die Bewährungszeit zu verlängern oder weitere Auflagen und Weisungen zu erteilen. (vgl. Maelicke, 1994, S. 19) Die Bewährungszeit endet auf dem normalen Wege durch den Straferlaß (vgl. § 56d STGB und § 26a JGG).

 

 

2.4 Organisationsformen der Bewährungshilfe

 

Die Institution der Bewährungshilfe gehört zum Bereich der justizförmigen Straffälligenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland. Der Begriff der Straffälligenhilfe beinhaltet sämtliche öffentliche und private Hilfeformen, deren Ziel es ist, zur Resozialisierung von Straftätern beizutragen. Es gibt zwei Arten von Straffälligenhilfe und zwar einerseits die justizförmige Straffälligenhilfe und andererseits die freie Straffälligenhilfe, welche durch private und öffentliche Träger geleistet wird und ihre gesetzliche Basis in § 72 BSHG findet. Zur justizförmigen Straffälligenhilfe gehört die Gerichtshilfe, die Bewährungshilfe, die Führungsaufsicht sowie die soziale Hilfe im Strafvollzug und in der Untersuchungshaft. (vgl. Maelicke, 1994, S. 10)

 

Gekennzeichnet ist die justizförmige Straffälligenhilfe durch Anbieten sozialer Hilfen im Auftrag der Justiz, z.B. der Staatsanwaltschaften, der Gerichte und der Vollzugsanstalten. Zusätzlich zu den sozialen Hilfen wird hier jedoch auch Kontrolle im Auftrag der Justiz ausgeübt. Der jeweilige Aufgabenkatalog der einzelnen Fachdienste im engeren Sinn richtet sich nach den entsprechenden Regelungen im Strafgesetzbuch, in der Strafprozeßordnung sowie im Strafvollzugsgesetz und in der Untersuchungshaftvollzugsordnung. (vgl. Maelicke, 1994, S. 11)

 

Die Institution der Bewährungshilfe ist strukturell gesehen durch private sowie durch staatliche Elemente charakterisiert. Die Bewährungshelfer besitzen in der Regel eine Ausbildung als Diplom-Sozialarbeiter/-Sozialpädagoge und sind überwiegend Staatsbedienstete. Gemäß dem Justizmodell der Länder ist die Bewährungshilfe dem Landgericht zugeteilt, und Stadtstaaten ist sie den Sozialbehörden zugehörig. Die Bestellung eines Bewährungshelfers durch den Richter ist nicht als Einschaltung einer Behörde anzusehen, sondern als persönlicher Einzelauftrag. (vgl. Kerner, 1993, S. 81)

 

Dieser persönliche Einzelauftrag hat jedoch oft zur Folge, daß in der Praxis der Bewährungshelfer alleine in seinem Büro sitzt und auf Probanden wartet und Gruppenarbeit oder gegenseitiger Austausch findet so gut wie nicht statt. Dominik Eichmann sieht hierin ein Grundproblem der Bewährungshelfer, welches sich in Einzelgängertum und Mangel an Lob und Kritik äußert, da kein Austausch untereinander stattfindet. Wer hingegen Dankbarkeit und Lob von seinen Probanden erwarte, der sei in der Bewährungshilfe völlig fehl am Platz. (vgl. Eichmann, 1995, S. 53)

 

Die Bewährungshilfe als Glied der justizförmigen Straffälligenhilfe ist demnach der Justiz zugehörig und untersteht demzufolge der Dienstaufsicht der Justizbehörde. (vgl. Spieß, 1983, S. 35)

 

In Deutschland wird die Arbeit der Bewährungshilfe zum größten Teil von hauptamtlichen Bewährungshelfern erledigt, nur etwa 2% aller Probanden werden durch ehrenamtliche Bewährungshelfer betreut. Die ehrenamtliche Bewährungshilfe wird überwiegend von Trägern der freien Straffälligenhilfe getragen. Es gilt hier auch noch zu erwähnen, daß die einzelnen Fachdienste der justizförmigen Straffälligenhilfe organisatorisch getrennte Dienste darstellen und weitgehend unabhängig voneinander ihre Aufgaben erfüllen. (vgl. Sobottka, 1990, S. 7)

 

Die Auswahl der zu bestellenden Bewährungshelfer erfolgt in der Praxis nach dem internen Geschäftsverteilungsplan der örtlichen Geschäftsstelle. Seltener ist eine Spezialisierung von Bewährungshelfern auf bestimmte Probandengruppen wie z.B. mit Drogenabhängigen oder ausländischen Probanden. (vgl. Spieß, 1983, S. 34)

 

Ideelle und materielle Unterstützung erhält die Bewährungshilfe häufig vor Ort im Rahmen regionaler Bewährungshilfefördervereine. Hinzukommt noch auf der Bundesebene die Deutsche Bewährungshilfe e.V., mit Sitz in Bonn, die sich als übergreifende Vereinigung zur Unterstützung von Bewährungshilfe, Gerichtshilfe und Straffälligenhilfe versteht. (Kerner, 1993, S. 81)

 

 

2.5 Soziale Arbeit in der Bewährungshilfe

 

Die bereits erläuterten gesetzlichen Grundlagen der Bewährungshilfe umreißen in groben Zügen den Aufgabenkatalog der Bewährungshelfer. In diesem Teil meiner Arbeit geht es nun um die tatsächlichen Aufgaben und Arbeitsweisen im Rahmen der Bewährungshilfe .

 

Nach dem Gesetz ist zunächst vorrangig, das der Bewährungshelfer dem Klienten hilft, ein straffreies Leben zu führen und die vom Gericht auferlegten Weisungen und Auflagen überwacht. (vgl. Sobottka, 1990, S. 16)

 

In der Regel beginnt die Tätigkeit der Bewährungshilfe mit der Bestellung eines Bewährungshelfers durch das Gericht. Eine Ausnahme bildet hier lediglich die Mitwirkung eines Bewährungshelfers bei der Erstellung eines Jugendgerichtshilfeberichtes für einen Beschuldigten, der dem Bewährungshelfer bereits aus früheren Unterstellungen bekannt ist. (vgl. Spieß, 1983, S. 38)

 

Da die Arbeitsbedingungen Aufschluß darüber geben, wie hier die soziale Arbeit aussieht, zunächst einige Anmerkungen hierzu. Zunächst einmal zum Umfang der Unterstellungen eines Bewährungshelfers. Erst seit dem Jahre 1963 existieren überhaupt offizielle Zahlen zur hauptamtlichen Bewährungshilfe und diese werden vermittelt durch die Bewährungshilfestatistik. Demzufolge entwickelten sich die jährlichen Zugänge zur Bewährungshilfe wie folgt:

1963 - 11.646 neue Zugänge

1980 - 40.615 neue Zugänge

 

Seit 1980 werden nur noch Abgänge mitgeteilt. Hier ist nun folgender Trend zu beobachten:

1980 - 30.892 Abgänge

1985 - 39.206 Abgänge

1989 - 130.767 Abgänge

Hierzu muß jedoch angemerkt werden, daß aufgrund von Mehrfachunterstellungen die Personenzahlen geringer anzusetzen sind. (vgl. Kerner, 1993, S. 80)

 

Diesem ansteigenden Trend der Bewährungshilfeprobanden steht jedoch keine dementsprechende Ausweitung des Personals der Bewährungshilfe gegenüber. .Auch zu dieser Entwicklung führt Kerner einige Entwicklungstendenzen an: Er bezeichnet das Verhältnis von Bewährungshelfer zu Probanden als sogenannten „Pensenschlüssel". Dieser schwankte bis ins Jahr 1974 zwischen 1:49 und 1:64, im Jahre 1980 pendelte er sich bei 1:55 ein und stieg dann 1989 wieder auf 1:69 an, einschließlich Führungsaufsicht. Kerner führt an, daß die allgemein vertretbare Obergrenze auf keinen Fall die Zahl von 40 Probanden überschreiten dürfte, denn sonst sei eine ausreichende und intensive sozialpädagogische Betreuung der Probanden nicht mehr möglich. (vgl. Kerner, 1990, S, 80)

 

Ein weiterer nicht zu verachtender Faktor, welcher die Arbeitsbedingungen der Bewährungshelfer beeinflußt, ist die Aussetzungspraxis. Zu diesem Punkt macht Spieß sehr deutliche Aussagen. Betrachtet man die Qualität derer die unter Bewährungsaufsicht stehen, so wird schnell ersichtlich, das zunehmend solche Täter dem Aufgabenbereich der Bewährungshilfe zufließen, die wohl früher kaum Aussicht auf eine Strafaussetzung zur Bewährung gehabt hätten. Dies manifestiert sich in einem Zugang zum Teil erheblich vorbelasteter Täter. Von 1963 und 1980 ging die Zahl der erstmals Straffälligen unter den Bewährungshilfeprobanden von etwa 42% auf 22% zurück Dem steht eine Verdreifachung der bereits mehrfach zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und der Bewährungsaufsicht unterstellten Probanden gegenüber. (vgl. Spieß, 1983, S. 30)

 

Führt man nun die Wechselwirkung dieser zwei Bedingungsfaktoren zueinander, so kommt man zu dem Ergebnis, daß einerseits die steigende Zahl und andererseits der Zustrom an Problemprobanden mit erheblichen Integrationsschwierigkeiten, die Arbeitsbedingungen der Bewährungshelfer entscheidend beeinträchtigen.

 

Bei der Betrachtung der sozialen Arbeit der Bewährungshilfe steht die Frage, wie die Klientel Bewährungshilfe aussieht und welche Problemlagen sie überwiegend mitbringt im Vordergrund. Maelicke führt an, daß die Arbeitslosenquote der Bewährungshilfeprobanden im Bundesdurchschnitt bei über 60% liegt, demzufolge leben über 50% der Probanden unter dem Sozialhilfeniveau und die wenigsten besitzen eine eigene Wohnung. Die durchschnittliche Verschuldung der Probanden betrug bereits Anfang der achtziger Jahre über 10 000 DM, Suchtprobleme weisen über 50% der Probanden auf und weit über 75% der Probanden sind ledig, geschieden oder verwitwet. (vgl. Maelicke, 1994, S. 21) Hinzu kommen hier natürlich noch Ehe- und Familienkonflikte, nicht selten die Tendenz zu Suizidhandlungen und schwere Selbstbildschäden. (vgl. Kerner, 1993, S. 80)

 

Spieß führt zu diesem Punkt weiter aus, daß etwa drei Viertel der Probanden aus unvollständigen und erheblich konfliktbelasteten Familien stammen. Über eine abgeschlossene Schulausbildung verfügten nur etwa zwei Drittel aller Probanden und nur ein Drittel über eine abgeschlossene Berufausbildung. (vgl. Spieß, 1983, S. 39)  Die Tendenz der hier aufgeführten Problemlagen dürfte wohl in allen Bereichen ansteigend sein, um nicht zu sagen, sie hat bereits heute verheerende Ausmaße angenommen.

 

Die ersten Kontakte des Bewährungshelfers mit seinem Probanden sind in aller Regel davon geprägt, sich gemeinsam ein Bild über die dringensten Probleme der Existenzsicherung zu machen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Den Schwerpunkt hier zu setzen ist entscheidend, um überhaupt Voraussetzungen für eine Reintegration des Probanden zu schaffen. Ganz im Vordergrund steht natürlich die Hilfe bei Beschaffung von Wohnung und Arbeit sowie die Klärung von Ausbildungsmöglichkeiten. Der hohe Anteil von Suchtmittelabhängigen bei den Bewährungshilfeprobanden setzt eigenständig gleich einen weiteren Schwerpunkt in der sozialen Arbeit des Bewährungshelfers fest. Dies manifestiert sich in der Suche nach geeigneten stationären oder ambulanten Therapiemöglichkeiten sowie in der Klärung der Kostenübernahme für diese Maßnahmen. Eine hohe Schuldenbelastung ist, wie bereits erwähnt, ein ebenfalls häufiges Charakteristikum der Probanden. Diese sind meist nicht in der Lage, ihre Schuldensituation ohne Mithilfe zu klären. Haben die Belastungen ein bestimmtes Maß überschritten, so bemüht sich der Bewährungshelfer in der Regel um Kontakte mit den Gläubigern, um eventuell Absprachen über Stundungen oder Abzahlung der Schuld in Raten zu treffen. Weiterhin bedarf es häufig der Intervention des Bewährungshelfers, um etwaige vorhandene Ansprüche der Probanden oder deren Eltern auf staatliche Sozialleistungen zu klären und bei gegeben Anspruch, diese durchzusetzen. Unter diese sozialstaatlichen Leistungen fällt zum Beispiel die Hilfe zum Lebensunterhalt, Umschulungs -und Ausbildungsbeihilfen sowie Kindergeld. (vgl. Spieß, 1983, S. 39)

 

Die komplexen Problemkonstellationen machen deutlich, daß die Bewährungshelfer hier in vielen Bereichen über Kenntnisse verfügen müssen, um überhaupt helfen zu können. Nach Eichmann stellt die Berufsgruppe der Bewährungshelfer eine Gruppe Generalisten dar, deren Professionalität darin besteht, von allem etwas zu beherrschen. Während andere Berufsgruppen bei fachübergreifenden Fragen schnell ratlos sind, ist der Bewährungshelfer in vielen Bereichen kompetent und kann aktiv werden. (vgl. Eichmann, 1995, S. 53)

 

An dieser Stelle möchte ich nun auf die konkreten Hilfeleistungen eingehen, die Bewährungshelfer im Rahmen ihrer sozialen Arbeit ausführen. Anlehnen werde ich mich hierbei an das Berufsbild für Bewährungshelfer, welches die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Bewährungshelfer (ADB) 1985 herausgegeben hat und das eine Leitfunktion für die einzelnen Bundesländer zur Erstellung einer Arbeitsplatzbeschreibung haben sollte. Diesem Berufsbild zur Folge bilden folgende soziale Hilfeleistungen den Schwerpunkt der helfenden und betreuenden Aufgaben der Bewährungshelfer:

 

a) Hilfe zur Gestaltung der existentiellen Lebensbedingungen

- Hilfe zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes

- Hilfe bei der Wohnungssuche

- Hilfestellung zur Berufsberatung und Arbeitsfindung

- Hilfe bei einer Schadenswiedergutmachung oder bei etwaiger Schuldentilgung

 

b) Hilfeleistungen bei speziellen Problemen

- Neuordnung des sozialen Umfeldes

- Bearbeitung von persönlichen und zwischenmenschlichen Konflikten

- Beratung bei Drogen- und Alkoholabhängigkeit und, wenn nötig, die Weitvermittlung in andere Einrichtungen

- Gegebenenfalls Vermittlung in psychiatrische Hilfen

- Erziehungs- und Eheberatung, auch hier Weitervermittlungsfunktion

- Hilfestellung bei der Freizeitgestaltung

 

c) Weitere Problembereiche, mit denen sich Bewährungshelfer und Klient im Laufe der Bewährungszeit auseinandersetzen müssen

- Zukunftsängste des Klienten

- Berufliche Aussichtslosigkeit

- Dauerarbeitslosigkeit

- Dauerverschuldung

- Zunehmende wirtschaftliche Verelendung

- Ausländerfeindlichkeit

- Erschließung vorhandener Hilfsmöglichkeiten

- Planung von Projektarbeit im Rahmen gezielter Bewährungshilfe

(vgl. Sobottka, 1990, S. 17 f)

 

Nach Dominik Eichmann sieht es in der Praxis so aus, daß die Probanden den Bewährungshelfern die größte Kompetenz bei Problemen mit Gerichten, Behörden und Schulen beimessen. Geht es um Wohnungs- oder Arbeitssuche, wenden sie sich seiner Meinung nach bedeutend seltener an den Bewährungshelfer. Noch weniger gefragt ist der Rat des Bewährungshelfers bei psychischen Problemen oder bei Konflikten in Partnerschaft und Ehe. In diesen Fällen wird bevorzugt Rat bei Freunden oder anderen sozialen Einrichtungen gesucht, da zum Bewährungshelfer in der Regel anscheinend doch nicht das genügende Vertrauen besteht, um solche Probleme anzusprechen. (vgl. Eichmann, 1995, S. 53)

 

 

2.6 Resümee und Ausblick

 

Zum Abschluß dieses Teiles über die Strafaussetzung und Bewährungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland möchte ich nun zusammenfassend einige wichtige Aspekte herausgreifen und neue Entwicklungstendenzen aufzeigen.

 

Eine entscheidende Veränderung für die Arbeit der Bewährungshilfe hat die geänderte Aussetzungspraxis nach sich gezogen. Dieser Umstand läßt sich recht gut an folgenden Daten aufzeigen. Im Jahre 1990 wurden etwa 67% aller verhängten Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt, des weiteren wurden ca. 30% aller Strafgefangenen frühzeitig auf Bewährung aus dem Strafvollzug entlassen. Diese Zahlen charakterisieren die Bewährungshilfe bereits als die kriminalpolitische Maßnahme zur Haftvermeidung und -verkürzung. Die Ursache für diese veränderte Aussetzungspraxis liegt einfach in dem gewachsenen Vertrauen der Richter in die Arbeit der Bewährungshilfe, was zur Folge hat, daß immer stärker auch solche Probanden in die Bewährungshilfe einfließen, die durch ungünstige soziale und persönliche Verhältnisse gekennzeichnet sind und bereits strafrechtlich zum Teil erheblich vorbelastet sind. Zur Ausweitung der Probanden durch erheblich vorbelastete Täter kommt noch eine sich verschlechternde Lebenslage der Probanden im allgemeinen. Seitens der Bewährungshilfe werden aufgrund der dargestellten Problematik die Rufe nach personellem Ausbau und einer Senkung der Fallzahlen immer lauter. (vgl. Maelicke, 1994, S. 23 f)

 

Angezweifelt wird mittlerweile auch die Effektivität der dominierenden Arbeitsweise in der Bewährungshilfe, die soziale Einzelhilfe. Es wird hier nämlich in Frage gestellt, ob diese Arbeitsweise geeignet dazu ist, eine Isolation der Probanden aufzuheben und eine bessere Integration zu fördern. Es herrscht die Ansicht, die Bewährungshilfe müsse neue Arbeitsweisen entwickeln, die sich ihrer verändernden Klientel anpassen und deren schwierigen Problemlagen Rechnung tragen. Diese Innovationsgedanken speisen sich aus dem Umstand, daß viele der dominierenden Probleme der Probanden mit der traditionellen Arbeitsweise nicht mehr lösbar sind und an die Stelle der Arbeit mit den Probanden eine Verwaltung derer tritt. (vgl. Maelicke, 1994, S. 25)

 

Die heutige Diskussion über eine Reform der Bewährungshilfe kreist um viele verschiedene Themenbereiche. Einmal geht es um den vielfach diskutierten Rollenkonflikt des Bewährungshelfers zwischen Hilfe und Kontrolle. Hier sind die Bestrebungen zugunsten der Funktion des Helfens ausgerichtet, was möglicherweise durch die Verankerung des Freiwilligkeitsprinzips in der Bewährungshilfe erreicht werden könnte. Das Pendant zu dieser Ansicht stellt der Gedanke dar, Bewährungshilfe stärker noch auf den harten Kern anzusetzen, um so eine weitere Reduzierung der Inhaftierten zu erreichen. Bestrebungen, die versuchen die Aufgaben von Gerichtshilfe und Bewährungshilfe zusammenzufassen, existieren auch schon. Der Grund hierfür ist, daß der Proband während der Zeit, die entscheidend von Justizkontakten gekennzeichnet ist, eine gewisse Sicherheit erhält, wenn vieles von ein und derselben Person erledigt wird und der Proband nicht ständig mit neuen Sozialarbeitern konfrontiert wird. Es wird hiermit also eine Verbindlichkeit und Verläßlichkeit in der Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klient angestrebt, welche dann auch von beiden eingefordert werden kann. Derjenige der also die Diagnose und die Prognose erstellt, soll auch zuständig bleiben für die Realisierung seiner vorgeschlagenen Schritte, ohne daß es zu ständigen künstlichen Einschnitten und Abbrüchen aufgrund verfahrensbestimmter Zuständigkeiten kommt. (vgl. Maelicke, 1994, S. 25 f)

 

Ein weiterer veränderungsbedürftiger Punkt in der Arbeit der Bewährungshilfe wäre eine stärkere Vernetzung unter den verschiedenen Beratungsstellen der Bewährungshilfe. Hier fehlen bis heute fast völlig gemeinsame Fallbesprechungen und gemeinsame Standards über die Form der Berichterstattung oder über Stellungnahmen in Folgeverfahren und bei einem Widerruf. Eine ausreichende Vernetzung fehlt außerdem innerhalb der sozialen Dienste der Justiz sowie mit freien Trägern der Straffälligenhilfe und anderen sozialen Institutionen wie dem Jugendamt und dem Sozialamt. Eine engere Zusammenarbeit im Bereich der justizförmigen Straffälligenhilfe würde eine durchgehende Betreuung ermöglichen, was die Resozialisierungschancen entscheidend verbessern könnte. Ein Beispiel hierfür wäre eine engere Zusammenarbeit der Sozialarbeiter im Strafvollzug mit den Sozialarbeitern der Bewährungshilfe. Die ersten Schritte des Probanden in Freiheit könnten hier entscheidend erleichtert werden. (vgl. Maelicke, 1994, S. 22)

 

Als letzten Punkt in diesem Teil möchte ich nun noch einmal auf die Forderung nach stärker einzelfallübergreifenden Aktivitäten eingehen, um auch entsprechend zum nächsten Teil meiner Arbeit überzuleiten.

 

Hilfe, die sich auf den Einzelfall bezieht, muß sich auf persönliche Beratung beschränken, da die immer schlechter werdenden Lebenslagen der Probanden keine andere Möglichkeit mehr offen lassen. Dies ist zum Einen darin begründet, daß der Bewährungshilfe in den Bereichen Lebensunterhalt, Arbeit, Wohnen und Schuldenregulierung nicht genügend Ressourcen zur Verfügung und zum Anderen darin, daß bei sozialen Leistungsträgern die Angebote ebenfalls zurückgehen. Aus diesen Gründen werden vermehrt einzelfallübergreifende Aktivitäten gefordert, die auch eine Ausgestaltung der Bewährungshilfe als sozialen Dienst einschließen. (vgl. Maelicke, 1994, S. 22)

 

Wie bereits bei den methodischen Ansätzen in der Bewährungshilfe erwähnt, ist die traditionelle Methode der sozialen Einzelhilfe nur wenig dazu geeignet, die Probanden aus ihrer Isolation herauszuführen und ihre Reintegration zu verbessern. Eine bessere Möglichkeit würde hier die soziale Gruppenarbeit mit Probanden bieten, die einerseits die Möglichkeit bietet, gemeinsame Erfahrungen zu machen und diese auszutauschen, andererseits die Erkenntnis erleichtert, daß Straffälligkeit und soziale Problemlagen nicht Einzelschicksale sind. Die dargestellte aktuelle Situation der Bewährungshilfe, die gekennzeichnet ist durch immer höhere Fallzahlen und ein ständig schwieriger werdendes Klientel führt vielfach zu einem reinen Verwahren der Probanden, weil keine anderen Möglichkeiten mehr offen sind. Könnte hier nicht die soziale Gruppenarbeit mit Probanden einen Ausweg aus dem Dilemma darstellen? Legt nicht gerade der Zwangscharakter der helfenden Beziehung eine gewisse Distanz fest, welche eine Schreibtischsozialarbeit nicht aufbrechen kann und demzufolge auch nicht in der Lage ist an die wahren Belange dieser schwierigen Klientel heranzukommen? Des weiteren stellt sich die Frage, ob der Bewährungshelfer bei der Vielzahl seiner Probanden und deren schwierigen Lebenslagen überhaupt noch die Gelegenheit hat, den Einzelnen als Person kennenzulernen und zu erfahren. Dieser Vielzahl von Fragen möchte ich im Rahmen meiner Diplomarbeit nachgehen, indem ich versuche die erlebnisorientierte Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe darzustellen und die Effektivität anhand von einem Praxisbeispiel zu überprüfen.

 

 

 

 

 

3. Erlebnispädagogik als Methode in der Sozialen Arbeit  

 

 

3.1 Exkurs: Die traditionellen Methoden der Sozialarbeit

 

In der aktuellen Diskussion wird heute durchaus bezweifelt, ob es sich bei den drei Methoden der Sozialarbeit: der Einzelhilfe, der Gruppenarbeit und der Gemeinwesenarbeit nicht lediglich um Arbeitsformen handelt, die in diesem Sinne überhaupt keine Methoden darstellen. Begründet ist dieser Kritikpunkt in der Tatsache, daß sich die soziale Arbeit, ob nun mit Einzelnen oder mit Gruppen, in der Regel auf methodische Konzepte verschiedenster psychologischer Richtungen stützt.

In der Praxis der Sozialarbeit sind die einzelnen Arbeitsformen oder Methoden sehr unterschiedlich gewichtet. Man kann davon ausgehen, daß sich ca. 66 - 75 % aller Sozialarbeiter überwiegend mit der Arbeitsform der sozialen Einzelhilfe beschäftigen, hingegen nur ca. 16 % mit sozialer Gruppenarbeit und 11 % mit Gemeinwesenarbeit. Warum die Anwendungsverhältnisse der einzelnen Methoden so stark differieren, läßt sich nicht ohne Weiteres feststellen, hierfür wäre eine spezielle Untersuchung nötig. (vgl. Belardi u.a., 1995, S. 68 f)

 

Im folgenden möchte ich nun die drei traditionellen Methoden kurz in ihrer geschichtlichen Entwicklung und speziellem Gegenstand vorstellen, um dann zur Methode der Erlebnispädagogik überzugehen.

 

Die Geschichte der sozialen Einzelhilfe begann gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den USA und in Europa zu einem Zeitpunkt der schnell fortschreitenden Industrialisierung. Es regten sich in dieser Phase vermehrt Bemühungen,, der traditionellen Armenpflege  eine wissenschaftliche Basis zu geben. 1898 wurde in New York die erste Schule für Wohlfahrtspfleger gegründet, die nicht nur Almosen geben wollte um soziale Notstände zu beheben, sondern den Betroffenen stärker stärker zur Selbsthilfe zu befähigen. Eine große Rolle in der Geschichte der sozialen Einzelhilfe, auch Social Casework genannt, spielt das von Mary Richmond 1917 erschiene Buch mit dem Titel :"Social Diagnosis", worin sie den Grundstock der diagnostischen Einstellung des Sozialarbeiters legt. Mary Richmond hat damit die wissenschaftliche Grundlage für einen neuen Beruf geschaffen, wofür sie 1921 mit dem "Master of  Arts" ausgezeichnet wurde. Gegen Ende der 20er Jahre und in den 30er Jahren übte Freuds analytische Psychologie und Psychotherapie einen entscheidenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der Einzelhilfe aus, was zur Folge hatte, daß nicht mehr die Einflüsse der Umwelt und ihre Folgen im Mittelpunkt des Interesses standen, sondern vielmehr darauf geachtet wurde, wie der Mensch diese Einflüsse erlebt und verarbeitet oder eben nicht verarbeitet.

 

In Deutschland wurde die Entwicklung der sozialen Einzelhilfe vor allen Dingen von Alice Salomon in den 20er Jahren geprägt. Salomon war Direktorin der sozialen Frauenschule in Berlin und veröffentlichte nach ihrem Studium der Sozialarbeit in den USA das Buch :"Soziale Diagnose". Damit lieferte sie einen wichtigen Beitrag für die Verbreitung der sozialen Einzelhilfe in Deutschland.

 

In den 60er Jahren wurden neue Impulse in die Methode der sozialen Einzelhilfe hineingetragen. Bei der Beschreibung und Bearbeitung von Problemlagen wurden nun vermehrt auch kulturelle und soziale Rahmenbedingungen in die Betrachtung mit einbezogen und vermehrt Handlungsableitungen von anderen Basiswissenschaften herangezogen. Systemtheoretische Erkenntnisse erhielten eine stärkere Gewichtung. Mitte der 60er Jahre bis etwa Mitte der 70er Jahre kam es in Deutschland zu einer kritischen Überprüfung der bis dahin entwickelten Methoden der Sozialarbeit und vor allen Dingen die Einzelhilfe stand hier auf dem Prüfstein, da sie als Instrument zur ungerechtfertigten Anpassung sozial Benachteiligter angesehen wurde.

Die soziale Einzelhilfe, als weitverbreitetste Arbeitsform in der Sozialarbeit, hat in der Regel psychosoziale Notlagen von Einzelnen oder von Familien zu ihrem Gegenstand. Diese psychosozialen Notlagen manifestieren sich zum Beispiel in Erziehungsnotständen und Dissozialität, in Familienproblemen, abweichendem Verhalten, Drogen- und Alkoholabhängigkeit sowie in Altersproblemen und Behinderungen verschiedenster Art. Das Ziel der sozialen Einzelhilfe besteht dementsprechend in der Beseitigung oder zumindest Verringerung dieser Notlagen und zwar immer in dem Maße, wie dies die vorhandene Struktur, in der der Klient lebt, dies zuläßt.

 

Der Hilfeprozeß der Einzelhilfe läßt sich systematisch in Phasen einteilen, wenn auch diese in der Praxis nicht in dieser Reihenfolge oder überhaupt in zeitlicher Folge ablaufen müssen. Der Hilfeprozeß ist demnach gegliedert:

a) in die Fallstudie, in der es um das Sammeln von Daten geht

b) in die Diagnose, hier werden die vorhandenen Daten geordnet und überdacht, um zu einer zielgerichteten Erklärung zu gelangen und

c) die Behandlung, in der die Schlußfolgerungen angewendet werden, um das vorhandene Problem zu beseitigen bzw. Wege zu, wie dies geschehen kann. (vgl. Belardi, 1995, S. 69 ff)

 

Nach der Einzelhilfe ist die soziale Gruppenarbeit die zweithäufigste Arbeitsform der Sozialarbeit. Die Arbeitsmöglichkeiten mit Gruppen in der Praxis lassen sich unterscheiden nach:

a) der Art der Gruppenmitglieder wie zum Beispiel nach Geschlecht und Alter oder einem sozialen Merkmal

b) der Beschaffenheit des Problems, welches als Kriterium für die Gruppenzugehörigkeit gilt

c) der Art des Programms der Gruppe

d) der Zielsetzung der Gruppe.

Möchte man hier nun den genauen Gegenstandsbereich der sozialen Gruppenarbeit herausarbeiten, so steht man gleich vor einem Definitionsproblem, denn die bekanntesten Autoren der sozialen Gruppenarbeit fassen hier alle Arbeitsformen mit Gruppen, ob nun mit Erwachsenen oder mit Kindern, ob behandlungsorientiert oder bildungsorientiert unter dem Oberbegriff der sozialen Gruppenarbeit zusammen. Nach Konopka umfaßt soziale Gruppenarbeit alle Arbeitsformen mit Gruppen behandlungs- sowie bildungsorientierter Art. Um diese Unschärfe zu umgehen kann man schließlich davon ausgehen, daß soziale Gruppenarbeit nur aussagt, daß in der Arbeitsform einer Gruppe gearbeitet wird.

 

Die soziale Gruppenarbeit entstand wie die Einzelhilfe um die Jahrhundertwende aus der in den USA entwickelten Sozialarbeit. Ihre wissenschaftliche Basis bilden die Soziologie, die Sozialpsychologie, die Psychoanalyse und die Gruppendynamik. Die soziale Gruppenarbeit ist jünger als die in den 20er Jahren entwickelte Einzelhilfe und wurde in Deutschland erst nach 1945 aufgenommen. Im Gegensatz zu dieser eher sozialwissenschaftlich ausgerichteten Gruppenarbeit entwickelte sich in Deutschland bereits schon zur Zeit der reformpädagogischen Bewegungen eine Gruppenarbeit mit stärkerer pädagogischer Ausrichtung. Es ging hier darum, alten Autoritätsverhältnissen neue Formen der Arbeits- und Lebensgemeinschaft gegenüber zu stellen. Somit ist die Geschichte der deutschen sozialpädagogischen Gruppenarbeit als eher bildungsorientiert zu bezeichnen, im Gegensatz zu der in den USA entwickelten sozialen Gruppenarbeit, die stärker behandlungsorientiert ist.

 

In den 50er Jahren begann man an die Stelle der sozialen Gruppenarbeit den Begriff der Gruppenpädagogik zu setzen, um deutlich zu machen, daß es sich hier um eine bewußt pädagogische Arbeitsweise handelt. Gruppenpädagogik beschäftigt sich also primär mit der sozialisierenden Wirkung der Gruppe selber und weniger mit sozialen und psychischen Defiziten oder der Vermittlung von Lerninhalten. Die Gruppe selbst stellt das Mittel zum Zweck dar und beabsichtigt damit vor allen Dingen die menschliche und soziale Reifung der Gruppenmitglieder zu fördern. (vgl. Belardi, 1995, S. 141 ff)

 

Die dritte traditionelle Methode der Sozialarbeit ist die Gemeinwesenarbeit. Ihr Gegenstandsbereich umfaßt die sozialen Aktionen von Menschen, die entweder durch räumliche Nähe miteinander verbunden sind oder die gemeinsame Problemlagen aufweisen, aufgrund dessen sie benachteiligt sind und deshalb durch gemeinsames Planen und Handel versuchen ihre Benachteiligung aufzuheben. Sie setzen in Kommunikationsprozessen ihre eigenen Fähigkeiten zur Verbesserung ihrer Situation ein.

 

Die geschichtlichen Wurzeln der Gemeinwesenarbeit liegen einerseits in der bedrohlichen Ausbreitung von Slums in den Industriestädten des 19. Jahrhunderts und in der Entwicklung von Programmen für landwirtschaftlich unterentwickelte und arme Gebiete. Anfänglich wurde dann vor allen Dingen in den USA im Rahmen von organisierter Hilfe für Unterpriveligierte ein Feldzug gegen die Armut des 19. Jahrhunderts gestartet. Eine bedeutende Rolle spielt hier die Settlement Bewegung um den Pfarrer Samuel Barnett, der mit seiner Frau und einigen Studenten in ein Slumviertel zog, um dort gemeinsam mit der Bevölkerung für bessere Wohnverhältnisse zu arbeiten. Anders war dies bei den landwirtschaftlichen Entwicklungsprogrammen. Der Westen war zu dieser Zeit von Siedlern bereits voll erschlossen worden, die Erträge waren jedoch gering und die Menschen litten unter großer Armut. Aufgrund staatlicher Initiativen wurden dann sogenannte Agriculture Colleges geplant, die einerseits wirtschaftliche und bildungsmäßige Hilfen anboten, andererseits jedoch auch die Entwicklung von Gemeinden, Schulen und Marktmöglichkeiten vorantrieben. Beide Arbeitsansätze bringen die gemeinsamen Merkmale von Gemeinwesenarbeit, die im Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe bestehen, in einer selbstorganisierten Gruppenbildung mit einem demokratischen Veränderungsanspruch, in einer Betreuung und Beratung durch Fachleute sowie in der Förderung kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten zum Ausdruck.

 

Als dritten Entwicklungsstrang der Gemeinwesenarbeit kann man die Gemeindearbeit bezeichnen. Hier stand die Vermittlung von Kontakten, Hilfen und Verständnis füreinander innerhalb von Wohnbereichen im Vordergrund. Gesellschaftspolitische Forderungen traten stärker in den Hintergrund und die Aufhebung von Isolierung sowie die Förderung von Kommunikation und Kreativität hatten Priorität. Zusammenfassend könnte man Gemeinwesenarbeit heute als einen Protest gegen vorgegebene Isolierungstendenzen und gegen die Auslieferung von Menschen an Machtfaktoren, welche ihre humanen und gerechten Lebensbedürfnisse einschränken, verstehen.

 

In Deutschland setzte die Gemeinwesenarbeit in den 50er Jahren ein und zwar als erstes in Form von Initiativen in Obdachlosensiedlungen. Hier versuchten Einzelne oder Gruppen, meist politisch, sozial oder kirchlich engagiert, Solidarisierungsprozesse unter der Betroffenen zu wecken und zu unterstützen, damit diese für bessere Wohnbedingungen, weniger Kontrolle durch die Behörden sowie Diskriminierungsprozesse durch die Presse eintreten und Veränderungen anstrebten. Parallel zu der Arbeit in Obdachlosensiedlungen entwickelte sich in Neubau- und Sanierungsgebieten die Gemeinwesenarbeit als Stadtteilarbeit. Hier erhoben betroffene Anwohner, Initiativgruppen, fachliche Berater, Sozialarbeiter und Kirchen gemeinsam Kritik gegen die herrschenden Lebensbedingungen und Reglementierungen und forderten Veränderungen der Wohn- und Lebenssituationen. (vgl. Belardi, 1995, S. 229 ff)

 

 

3.3 Geschichtliche Entwicklung der Erlebnispädagogik

 

3.3.1 Die frühen Wegbereiter der Erlebnispädagogik

 

Des weiteren werde ich nun Rahmen meiner Ausführungen über die geschichtliche Entwicklung der Erlebnispädagogik auf die bekannteste Wurzel dieser eingehen, nämlich auf die Reformpädagogik. Vorab werde ich noch zwei Persönlichkeiten vorstellen, die das Gedankengut der Erlebnispädagogik schon in früherer Zeit geprägt haben.

 

Die Rede ist hier von Jean-Jaques Rousseau und von David Henry Thoreau. Beide lebten im Zeitalter der Aufklärung und haben das philosophische sowie das pädagogische Denken ihrer Kontinente entschieden beeinflußt und geprägt. Gemeinsam ist ihnen, daß sie Utopien der Erziehung und des modernen Staates entwickelt haben, die dem Zeitgeist entgegenliefen und  die die Schaffung eines neuen Menschen vor Augen hatten. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 3)

 

Zuerst einmal zu Jean-Jaques Rousseau: Die Parallelen seines Denkens und Werkens zur Erlebnispädagogik werden am deutlichsten in seinem Roman: "Emile- oder über die Erziehung". Rousseau lebte von 1712 bis 1778 und somit steht sein Werken vor dem Hintergrund der Aufklärung. Die Erziehung zur Zeit der Aufklärung war geprägt von Wissenserwerb, Training der Denkfunktion, Lernen im Unterricht und Förderung der Vernunft. Seiner Ansicht nach war dies jedoch nicht das Entscheidende, was die menschliche Existenz prägen sollte, sondern für ihn stand die Erfahrung durch die Sinne, ein Feingefühl für das innere Empfinden und die Gefühle im Mittelpunkt des Interesses.

 

Der Roman Rousseaus: "Emile- oder über die Erziehung", läßt sich aus heutiger Sicht sehr gut mit den Augen eines Erlebnispädagogen lesen. Der wohl bekannteste Satz diese Romans: "Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des Menschen" (Rousseau, 1975, S .9), läßt hier schon auf eine bestimmte Ausrichtung des Denkens Rousseaus schließen. Der zu Erziehende in diesem Roman, genannt Emile, sollte sein Wissen nicht aus den Belehrungen seines Erziehers ziehen, sondern alleine aus seinen Erfahrungen erwerben und aus der Sache selbst. Der Erzieher hat bei Rousseau lediglich die Aufgabe, negative Einflüsse auf diesen Erziehungsprozeß zu verhindern und die Erziehungsgewalt der Natur und der Dinge zu stärken. Negative Einflüsse im Sinne Rousseaus sind die Gesellschaft, die Wissenschaft, die Zivilisation und die Kunst. Der Erzieher hat die Rolle eines Anwaltes. der für die natürlichen Bedürfnisse des Kindes eintritt.

 

Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß Rousseau versucht, sich auf die Lebenswelt des Kindes auszurichten. Seiner Meinung nach sind Abenteuer, Erfahrung und Erlebnis Lernprinzipien, die der Natur des Kindes entsprechen und seine Entwicklung fördern. Wichtig ist für ihn das direkte Lernen über die Sinne und nicht das Erlernen und das Unterrichten. Mit diesem Gedankengut hat Rousseau bereits die Grundmauern der Erlebnispädagogik errichtet, was folgendes Zitat noch einmal in aller Kürze verdeutlicht: "Und denkt daran, daß ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch Worte belehren müßt. Denn Kinder vergessen leicht was sie gesagt haben und was man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben oder was man ihnen tat." (Rousseau, 1975, S. 80) Es gilt jedoch zu erwähnen, das Rousseau zeit seines Lebens ein Schreibtischtäter geblieben ist und seine eigene Kinder nicht selber erzogen hat, sondern sie ins Findelhaus gab.

 

Knapp 100 Jahre später wurde diese Gedanken von David Henrey Thoreau wieder aufgegriffen und weitergeführt. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 4 ff) David Henry Thoreau war ebenfalls der Ansicht, daß die Natur die größte Erzieherin und Lehrmeisterin ist, er jedoch lieferte im Gegensatz zu Rousseau auch ein praktisches Beispiel seiner Lebenskunst.

 

Thoreau zog am 4.Juli 1845 in eine selbstgebaute Hütte am Waldensee in der Nähe seiner Heimatstadt Concord und sein Leben dort zweieinhalb Jahre lang war geprägt von Einfachheit und Einsamkeit. Den Grund hierfür bildete nicht etwa ein romantischer Rückzug Thoreaus in die Natur, sondern lag in einem komplexem Gedankengebäude und seine persönliche Situation. Dieses sogenannte Walden-Experiment war Ausdruck für die Distanz, die Thoreau zum "American way of life" einnahm. Das Leben in Amerika war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet von Aufbruchstimmung und Naturbeherrschung sowie von Technik und Industrialisierung, Naturwissenschaft und Fortschritt. Er nahm die Rolle des Skeptikers ein. Des weiteren prangerte er den Luxus, die Mode, die Bequemlicht, die Zivilisation sowie die Technik an, die seiner Meinung nach Schuld daran sind, daß die Unmittelbarkeit des Lebens verloren geht. Im Rahmen des Walden-Experimentes versuchte Thoreau den ursprünglichen Bedürfnissen des Lebens auf den Grund zu gehen, indem er ein asketisches Leben führte und so hoffte das wirklich wichtige, die Wirklichkeit, zu erfahren.

 

Thoreau hatte viele Ideen der späteren Reformpadägogik bereits in seinem Gedankengebäude integriert, wie vor ihm schon Jean-Jaques Rousseau. Das Jahrhundert des Kindes, welches im Jahre 1900 von Ellen Key ausgerufen wurde, hatte hier bereits begonnen. Ausgangspunkte all dieser Überlegungen sind immer die eigenen Erfahrungen sowie das Lernen durch Versuch und Irrtum und dies in möglichst realen Situationen. Das Leitmotiv Thoreaus war es, einen neuen Menschen zu schaffen, der die Tugenden Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe, Einfachheit und Weisheit besitzen sollte, eben ein konstruierter Mensch, so wie Emile einer war.

Abschließend läßt sich sagen, das David Henry Thoreau, wie auch Jean-Jaques Rousseau, als Wegbereiter der Erlebnispädagogik genannt werden können. Das Walden-Experiment ist quasi eine Selbsttherapie von Thoreau gewesen, denn sein Leben in der Einsamkeit und Einfachheit befreite ihn von den schweren Depressionen, an denen er nach dem Tod seines Bruders litt. Die Erlebnisse in der Natur haben ihm demnach zur Überwindung seiner Depressionen entschieden beigetragen, sozusagen eine Erlebnistherapie. Den Ausdruck der Erlebnistherapie finden wir ca. 100 Jahre später in dieser konkreten Bezeichnung und zwar prägte diesen Begriff Kurt

Hahn. (vgl.Heckmair/Michl, 1994, S. 9 ff)

 

 

3.3.2 Die Reformpädagogik

 

Die Epoche der Reformpädagogik ist vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umwälzungen zu sehen, die der erste Weltkrieg mit sich brachte. Einerseits herrschte natürlich große Not in Deutschland, wie das nach Kriegen die Regel ist, andererseits entstand jedoch auch eine geistige Blütezeit, welche die unterschiedlichsten Gedanken zum Erziehungsprozeß hervorbrachte. Einer der entscheidenden Gesichtspunkte, den die Reformpädagogen hervorbrachten, war die Kritik an den herrschenden Strukturen in den Schulen und anderen pädagogischen Institutionen, die von Autorität geprägt waren. Das weitverbreitetste Mittel pädagogischer Intervention war der Zwang, und das Lernen vollzog sich im Stil des Eintrichterns von Informationen und Wissen. (vgl. Sommerfeld, 1995, S. 24)

 

Die Reformpädagogik und alle ihre Bewegungen gelten allgemein als die eigentliche Wurzel der Erlebnispädagogik. Die Epoche der Reformpädagogik wird in der aktuellen Literatur datiert zwischen den Jahren 1890-1933 und beschränkte sich in den Anfängen zunächst auf den deutschsprachigen Raum, bevor sie dann nach Europa überschwappte. Die Reformpädagogik gliedert sich in Bewegungen, deren Gemeinsamkeit es ist, daß der Begriff des Erlebens in allen eine zentrale Rolle spielt. Weitere Begriffe oder besser gesagt Ideen der Reformpädagogik sind die des Augenblicks, der Unmittelbarkeit, der Gemeinschaft, der Natur sowie der Echtheit und Einfachheit.

 

Am Anfang des 20. Jahrhunderts schien sich das Wort Erlebnis zu einem Modewort entwickelt zu haben. Beispielsweise verwendete Hugo Gaudig in der Einleitung seines Buches: "Was der Tag mir brachte" siebenunddreißigmal den Begriff des Erlebens, Wilhelm Dilthey schrieb eine Abhandlung über das Verhältnis Dichtung und Erlebnis. Kurzum die Begriffe des Erlebens und des Erlebnisses schienen in aller Munde zu sein.

 

Die Geschichte der Reformpädagogik sowie auch der Erlebnispädagogik beginnt mit der Kulturkritik zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die wohl bekanntesten Kulturkritiker waren Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Friedrich Nietsche. Ausgangspunkt ihrer Kriktik stellte das veraltete und überholte Preußische Schul- und Bildungswesen dar. Ihrer Meinung nach stand hier eine Verwissenschaftlichung und ein Expertentum im Vordergrund, was nicht eine Ganzheitlichkeit und Volksbildung zum Ziel hatte, wie es ihrer Ansicht nach wichtig wäre. Die Kulturkritiker wandten sich hauptsächlich an die Jugend mit dem Ziel, ihr neue Ideale vermitteln zu wollen. Einen ebenso hohen Stellenwert für die Geschichte der Erlebnispädagogik nimmt neben der Kulturkritik die Lebensphilosophie dieser Reformpädagogen ein, die sich damit beschäftigte, daß das menschliche Leben nach aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt strebt. Gefühl, Intuition, Anschauung sowie Unmittelbarkeit stellen die wahren Erkenntnisfunktionen des Menschen dar. Zu nennen wären hier exemplarisch Henri Bergson, Georg Simmel, Hugo Gaudig und Martin Luserke.

 

Ich möchte nun die zentralen Begriffe der Reformpädagogik erläutern, bevor ich näher in die Thematik einsteige:

 

a) Der Begriff des Augenblicks

Dieser Begriff soll dem, der etwas erlebt, Identität verleihen, da er im Zusammenhang steht mit Plötzlichkeit, Ergriffenheit, Eingebung und Intuition. Die augenblicklichen Anforderungen, die an ein Individuum gestellt werden, machen ihm die Grenzen zwischen sich selbst und der Umwelt bewußt. Des weiteren ist der Augenblick dazu geeignet die Zukunft und die Vergangenheit ineinander zu verschmelzen, damit das Gefühl des Erlebens und der Präsenz eines Individuums in seiner Umwelt verstärkt werden.

 

b) Der Begriff der Unmittelbarkeit

Die bürgerliche Jugend der Jahrhundertwende empfand ihre Umwelt als von Erwachsenen beherrscht und vorgeformt, langweilig und triste. Das ganze Erleben war gefiltert durch die Erwachsenen und mittelbar. Die Jugend suchte jedoch nach Unmittelbarkeit und eigens gestalteten Erlebnissen, welche sie nur in der Natur, fernab von der Welt der Erwachsenen finden konnte. Gemäß der Tradition der Jugendbewegung suchten demzufolge die Pädagogen des anfangenden 20. Jahrhunderts nach dieser Unmittelbarkeit, um sie für pädagogische Zwecke zu nutzen. Jedoch alleine dieses planmäßige Vorgehen verurteilte die Aktionen häufig schon im Vorfeld zum Scheitern, wie dies auch bei heutigen Unternehmungen der Fall ist.

 

c) Einfachheit und Echtheit

Mit den Begriffen der Einfachheit und Echtheit war verbunden, daß wahre Erziehung nur auf dem Land und somit in einer natürlichen Umgebung vollzogen werden sollte. Die Großstadt galt in der Zeit der Reformpädagogik als ungünstiges Erziehungsumfeld, wie dies bereits von Rousseau und Thoreau postuliert wurde.

 

d) Die Gemeinschaft

In der Zeit der Reformpädagogik spielte die Bedeutung der Gruppe in fast  allen pädagogischen und psychologischen Theorien eine wichtige Rolle, sei es in der Erlebnistherapie von Kurt Hahn oder in Adlers Individualpsychologie. Die Gemeinschaften waren anfangs kleinere soziale Gebilde wie z.B. eine Pfadfindergruppe oder eine Kindergruppe, später weitete sich dieser Gruppenbegriff auf größere Gemeinschaften aus wie die des Deutschen Volkes oder des Volkes überhaupt. Basis bildete hier immer eine Gleichgesinnung und ein Gleichempfinden der Gemeinschaftsmitglieder. Vielleicht war gerade diese Eigenschaft verantwortlich dafür, daß sie später leicht umfunktionalisierbar für den Nationalsozialismus war.

(vgl. Heckmair/Michl, 1994, S.17 ff)

 

Ein weiterer entscheidender Impuls für die Entwicklung der Erlebnispädagogik stellte die Landerziehungsheim Bewegung der Reformpädagogik dar. Das Kind war bisher, Objekt der Pädagogik und ihrer hochgesteckten Leitlinien gewesen, nun sollte es in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden, um ihm endlich eigene Bedürfnisse zuzugestehen. An die Stelle der starren Schulanstalt sollte nun eine Schulgemeinschaft treten, in deren Umfeld sich das Kind unter Gleichaltrigen selber erziehen konnte. (vgl. Antes, 1995, S. 14)

In Gang gesetzt wurde die Landerziehungsheim Bewegung 1889 durch den Engländer Cecil Reddie, der dort sein erstes Heim in Abbotsholme gründete. Von diesem Zeitpunkt an breitete sich die Landerziehungsheimbewegung schnell in verschiedenen europäischen Ländern aus. Ausgangspunkt dieser Heimgründungen war sie Absicht, junge Menschen von den schlechten Einflüssen der Zivilisation fernzuhalten und ihnen  im Gegensatz dazu ein Lernfeld anzubieten, welches geprägt ist von einer gesunden, naturgemäßen und vernünftigen Lebensweise. In diesem Lernfeld sollten auch nicht nur die intellektuellen Fähigkeiten gefördert werden, sondern besondere Betonung lag auf der Förderung von seelischen und körperlichen Kräften. Jede neue Heimgründung arbeitete mit anderen Erziehungsschwerpunkten und besonderen Ausprägungen des Lebens in der Schulgemeinde. (vgl. Potthoff, 1992, S. 15)

 

In meinen weiteren Ausführungen zur Landerziehungsheim Bewegung möchte ich mich auf den bekanntesten deutschen Initiator Hermenn Lietz beschränken, da eine vollständige Darstellung dieser Bewegung den Rahmen sprengen würde, und weil Lietz auch ein entscheidenes Vorbild für Kurt Hahn, den Urvater der Erlebnispädagogik, war. Hermann Lietz wird von seinen ehemaligen Schülern als begnadeter Erzieher beschrieben. Geprägt war Lietz stark von den Einflüssen des Engländers Cecil Reddie und von Konzeptionen älterer Internate. Lietz kann man ebenfalls als einen Vertreter der Kulturkritik bezeichnen und er bemängelte ebenfalls wie seine Vorgänger und seine Nachfolger, die einseitige intellektuelle Ausbildung an den Schulen.

 

In seiner Erziehungskonzeption ging es Lietz darum, die verschiedenartigen Anlagen des Kindes zu entwickeln und zwar nicht durch bloßen Unterricht, sondern in Form einer Umstellung der gesamten Lebensweise. Voraussetzung hierfür war eine Erziehung auf dem Land fernab von Masseneindrücken und gräßlichen sowie häßlichen Dingen der Stadt. Die von Lietz favorisierten Erziehungsmittel waren eine gesunde, naturgemäße und vernünftige Lebensweise, planmäßige Körperübungen und Arbeit sowie das Spiel.

Lietz arbeitete mit dem System der Familienerziehung in seinen Heimen, d.h jeder Lehrer betreute etwa 12 Schüler als sogenannter Familienvater. Ziel dieses Systems war eine wirkliche Begegnung zwischen Lehrer und Schüler, die für Lietz sozusagen das Kernstück der Erziehung darstellte. Einen großen Teil seiner Lebenslehre, welcher auch besonders interessant im Hinblick auf die Erlebnispädagogik, stellten Wanderungen und Reisen dar. Die Anstrengungen, die Lietz im Rahmen dieser Aktivitäten von seinen Schülern verlangte, nahm er auch immer selber auf sich. Ziel dieser Unternehmungen stellte das Herstellen eines Gemeinschaftsgefühls sowie eine Weltoffenheitsorientierng dar. (vgl. Potthoff, 1992, S. 92 ff)

 

Kurt Hahn gilt als Vater der Erlebnispädagogik. Er war von Hause aus weder studierter Pädagoge, noch Politiker mit Mandat. Trotzdem hat er die Pädagogik entschieden mitbeeinflußt. Nach dem ersten Weltkrieg machte sich Hahn als politischer Berichterstatter, Redenschreiber und Berater verdient. Er gehörte zu den engsten Vertrauten des letzten deutschen Reichskanzlers Max von Baden, der nur 40 Tage an der Macht war und später unterstützt von Kurt Hahn die Landerziehungsheim Schule Schloß Salem gründete. Hahn wurde zum Leiter dieser Schule ernannt und verstand es hervorragend, Schüler, Kollegen und sein Umfeld für seine Ideen zu begeistern. Hahn war weit davon entfernt, das Rad neu zu erfinden. Er bediente sich der uneinheitlichen und zum Teil recht außergewönhlichen Modelle der Reformpädagogik. Seine pädagogische Praxis war inspiriert von der britischen Tradition des demokratischen Handelns, welches er im Rahmen seiner zahlreichen Reisen durch England kennengelernt hatte. Des weiteren war er beeinflußt von dem Gedankengut Platons, das sich um ein harmonisches Staatsverständnis drehte und der daraus abgeleiteten Hoffnung, man könne durch eine richtige Erziehung den dafür geschaffenen Staatsbürger hervorbringen. Das von Platon geschaffene Gleichnis "Politeia" prägte entscheidend Hahns Einstellung, denn hier ging es darum, daß eine ideale Gemeinschaft in der Lage ist, durch Erziehung das Gute im Menschen hervorzubringen. Ähnlich beeindruckend und und prägend wirkten sich auch die Landerziehungsheime von Reddi und Lietz bis hin zu Wynekens und Geheebs aus, die im Sinne einer pädagogischen Provinz, die Trennung der Kinder von ihren Eltern postulierten, da man annahm, daß sie nicht in der Lage sind, die verantwortungsvolle Aufgabe der Erziehung zu leisten.(vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 21 ff)

 

Erziehung nach der Vorstellung Hahns war ein Lernen, das durch konkretes Handeln und praktischen Lebensbezug gekennzeichnet war. Mit dieser Auffassung lief Hahn der öffentlichen Erziehung zuwider. Er stellte eine neue Rangfolge der Erziehungsaufgaben auf:

1. Charakter

2. Intelligenz

3. Wissen

 

Gespeist hat sich Hahns entwickelte Erlebnistherapie aus der Erkenntnis, daß die jungen Menschen stark an modernen Verfallserscheinungen litten, denen in irgendeiner Form begegnet werden mußte. Die Verfallserscheinungen äußerten sich nach Hahn in:

a) der Zuschauerkrankheit- der fehlenden Selbstinitiative, verursacht durch die modernen Kommunikationsmittel.

b) dem Verfall körperlicher Tauglichkeit- verursacht durch die modernen Fortbewegungsmöglichkeite

c) dem Verfall der nötigen Geschicklichkeit und Sorgfalt- der aufgrund der schwächer werdenden Tradition des Handwerkertums zustande kam

d) der mangelnden Fähigkeit, Empathie für andere Menschen zu entwickeln,- verursacht durch eine ständige Hast und Eile, die das moderne Leben mit sich brachte. (vgl. Antes, 1995, S. 15)

 

Die von Hahn vorgenommene Gesellschaftsdiagnose förderte also Verfallserscheinungen zu Tage, denen er mit einem erlebnistherapeutischen Konzept begegnen wollte, um damit heilende Kräfte zu aktivieren. Den vier Verfallserscheinungen der modernen Gesellschaft, setzte vier Aktivitäten gegenüber, die seine Erlebnistherapie bildeten:

 

a) Das körperliche Training

Hierunter waren leichtathletische Übungen sowie je nach Standort der Einrichtung unterschiedlich geprägte Natursportarten zu verstehen, wie z.B. Bergsteigen, Skilaufen, Segen und Kanufahren. Ergänzt wurden diese Aktivitäten mit unterschiedlichen Ballspielen und Übungen in speziellen Parcours.

 

b) Die Expedition

Anspruchsvolle Naturlandschaften bildeten hier das Medium. Die Expedition bestand aus einer mehrtägigen Tour, der eine Planungs- und Vorbereitungsphase vorausging. Im Mittelpunkt stand hier zwar die körperliche Anstrengung und Betätigung, eingebettet war dies jedoch in alltagspraktische Tätigkeiten wie Selbstversorgung, Entsorgen, Transportieren und ein Nachtlager vorbereiten.

 

c) Das Projekt

Hierbei wurden an die Teilnehmer handwerklich-technische sowie künstlerische Anforderungen gestellt. Das ganze vollzog sich in einem abgesteckten Rahmen thematischer sowie zeitlicher Art. Heute würde man dies als prozeß- und produktionsorientierte Aktion bezeichnen.

 

c) Der Dienst

Das Element des Dienstes am Nächsten war für Hahn das wichtigste in seiner gesamten Erlebnistherapie. Je nach Standort und Beschaffenheit der Umwelt wurden Tätigkeiten der Ersten Hilfe, der Berg- oder Seenotrettung sowie der Küstenwache eingeübt. Eine praktische Bedeutung hatten diese Kurse auch für die Regionen in denen sie stattfanden, da in den 50er und 60er Jahren diese Rettungsdienste noch nicht wie in der heutigen Form professionalisiert waren.

(vgl. Hechmair/Michl, 1994, S. 24 ff)

 

Es wäre durchaus denkbar, diese vier Elemente automatisch auf die jeweilig auftretende Verfallserscheinung anzuwenden, Kurt Hahn hat dies jedoch in dieser Weise nicht postuliert. Ihm war wichtig, daß erst die Verknüpfung der einzelnen Elemente und ein Zusammenspiel dieser die eigentliche charakterbildende Wirkung zum Vorschein bringt. (vgl. Bauer/Nickolai, 1991, S. 16) Vorrangigstes Ziel war es nach Hahn, allseitig gebildete Menschen zu erziehen, die in der Lage sind sozial kompetent und verantwortungsbewußt zu handeln. Um dieses Ziel zu verwirklichen, hat er für sich und damit für sein pädagogisches Handeln zwei Grundprinzipien herausgearbeitet, die auch in seinen Internaten und Kurzschulen fest institutionalisiert wurden.

 

Das erste Prinzip besagte, daß Erleben immer besser ist als Belehren. Nach Hahn ist faktisch niemand in der Lage, Verantwortungsbewußtsein zu erlangen, wenn er niemals in die Situation versetzt wird selber Verantwortung tragen zu können. Hier kommt zum Ausdruck, daß die gedankliche Ebene und die Handlungsebene nicht identisch sind und bei Hahn eine größere Gewichtung auf der Handlungseben liegt. Die herkömmliche Pädagogik der Schule spricht nach Hahn lediglich die Ratio der Schüler an und wendet sich somit gegen eine ganzheitliche Sichtweise des Menschen, die Herz und Hand miteinschließt. Demnach ist es Aufgabe der Pädagogik, ganzheitliche Erziehungsformen zu entwickeln und Erlebnisräume zu schaffen, die eine Entwicklung und Erziehung ermöglichen.

 

Das zweite Prinzip der Erlebnistherapie ist die Erziehung durch die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat einerseits die Funktion eines Erziehungsmittels und andererseits die eines Disziplinierungsmittels, d.h. sie wird  quasi als soziale Kontrolle moralischer Forderungen eingesetzt. Demnach sind die körperlichen Grenzerfahrungen nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern schließen den Aspekt einer gemeinschaftlichen Bewältigung einer Sache mit ein. Die Teilnehmer werden so dazu gezwungen, aufeinander einzugehen und miteinander zu kooperieren. Aufgrund dessen werden ganz besondere Lernerfahrungen möglich, ohne daß diese angesprochen oder gelehrt werden müssen. Das Erlebnis in Gestalt einer gemeinsamen Aktion wird zum Mittel erzieherischer Intervention und ist in der Lage, den Lernenden in eine aktive Rolle zu versetzen in einem Prozeß, der einen sozialen Charakter besitzt und welcher beeinflußt und gestaltet werden kann. (vgl. Sommerfeld, 1995, S. 28 f)

 

Es stellt sich nun die Frage, wie die von Hahn so hochgeschätzten Erlebnisse sein müssen, um die entsprechende Wirkung zu erzielen. Kurt Hahn vertrat die Ansicht, daß die Erlebnisse einen hohen Intensitätsgehalt besitzen müssen, damit diese, wie Hahn sie selber bezeichnet, "Heilsamen Erinnerungsbilder" auch nach Jahren noch in einer Situation der Bewährung abrufbar sind und entsprechend steuernd wirken können. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 25)

 

Zum Abschluß dieses Punktes über Kurt Hahn möchte ich nun noch einige zusammenfassende und würdigende Anmerkungen anschließen. Wie bereits erwähnt hat sich Hahn von den breiten Strömungen der Reformpädagogik leiten lassen. Die Idealisierung des Kindes in der Reformpädagogik wurde in gewisser Weise auch von ihm übernommen, jedoch weniger romantisierend sondern mit einer ganz konkreten Ausrichtung, nämlich durch Erziehung mündige Staatsbürger zu schaffen, die Verantwortung übernehmen sollen. Ebenso wie Hermann Lietz und andere Reformpädagogen gründete Hahn Landerziehungsheime und Outward Bound-Bildungsstätten. In den von ihm gegründeten Einrichtungen stand jedoch nicht, wie dies bei den anderen der Fall war, das Fernhalten ihrer Zöglinge von der kranken Zivilisation im Vordergrund, sondern er brachte weltoffene Elemente in sein Konzept mit ein. Diese Weltoffenheit drückte sich in den Berg- und Seenotrettungsübungen, Feuerwehreinsätzen und Hilfsdiensten bei den umliegenden Bauernhöfen aus.

 

Kurt Hahn war eigentlich sein ganzes Leben lang bestrebt, möglichst viele Jugendliche zu erreichen. Er gründete mit dem Reeder Laurence Holt die erste Bildungsstätte, in der überwiegend kurzzeitpädagogische Kurse durchgeführt wurden. Als idealer Standort bot sich das an der englischen Westküste gelegene Aberdovey an. Laurence Holt gab der Bildungsstätte den Namen Outward Bound, was ein Seemannsausspruch für ein zum Auslaufen bereites Schiff  aus früherer Zeit ist. Noch heute ist Outward Bound eine Bezeichnung für sämtliche Programme und Einrichtungen nach Hahnscher Prägung. Hahns Erlebnistherapie, die zur heutigen Erlebnispädagogik mutiert ist, hat als erste die Natur- und Kulturlandschaft als konkretes Erziehungsmedium nutzbar gemacht. Seine Methode, die von Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit der Situationen gekennzeichnet war, hatte im Gegensatz zu einer Vielzahl anderer reformpädagogischer Modelle einen Erfolg aufzuweisen. Begriffe wie Echtheit, Direktheit und Authenzität sind in einer modernen Welt, welche gekennzeichnet ist durch hohe technische Standards und modernste Medienmöglichkeiten, mehr gefragt als je zuvor. Die Körperlichkeit und das lustvolle Empfinden psychischer und physischer Anstrengung wird heute wieder neu entdeckt. Der Boom der Fitnesswelle und die Vielzahl der Extremsportarten sind ein guter Beweis hierfür. Alleine aus diesen Gründen ist die Hahnsche Pädagogik ein Ansatzpunkt für viele pädagogische Praktiker geblieben. Hierzu läßt sich noch anfügen, daß vieles was Sozialwissenschaftler und Theoretiker in den späten 60er Jahren in den Bereich der Freizeit und Ersatzbefriedigung abgedrängt haben, heute wieder ausgegraben wird, um es für Bildung und Erziehung nutzbar zu machen. Die Aktualität Kurt Hahns spricht hier für sich. (vgl. Hechmair/Michl, 1994, S. 23 ff)

 

3.3.3 Erlebnispädagogik vom Nationalsozialismus bis heute

 

Die Pädagogik des dritten Reiches brachte keine Erneuerungen hervor. Der Nationalsozialismus arbeitete vielmehr mit dem Vorhandenen und zwar in der Form, daß er ausselektierte, was nicht seiner Ideologie entsprach, tolerierte, was ihm keinen Schaden zufügte und förderte, was ihm nützlich war. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß der Nationalsozialismus zwischen der traditionellen und weiterentwickelten reformpädagogischen Erziehungsarbeit schwankte, je nachdem, was seinen Interessen und Zielen entsprach. Die Strategien im Erziehungs- und Bildungsbereich waren ebenso schwankend und sprunghaft, wie die politischen Strategien. "Jederzeit konnte verdammt werden, was eben erst gefeiert war, wenn es dem Urteil Hitlers oder eines Gefolgsmannes als Führer in einer nationalsozialistischen Gliederung gefiel" (vgl. Dräger, 1995, S. 32)

Der relativ hohe Stellenwert der Erlebnispädagogik im Dritten Reich ist vielleicht darin begründet, daß die Weltanschauung der Nationalsozialisten wohl eher einen Erlebnisinhalt darstellte als eine Lehre. An der Erlebnispädagogik interessierte sie vornehmlich die Möglichkeit geleitete soziale Erlebnisse in einem kalkulierten Erlebnisszenario zu konstruieren. Absicht der Nationalsozialisten war es, den methodisch bedingten Subjektverlust des Einzelnen in eine Kollektivität zu überführen Die Highlights erlebnispädagogischer Verwendung im dritten Reich beschränkten sich auf Versammlungen, Aufmärsche, Kundgebungen, Fackelzüge, Feiern, Chorspiele und Zeltlager.(vgl. Dräger, 1995, S. 31 ff)

In der Betrachtung der Erlebnispädagogik nach 1945 bis heute beschränke ich mich den Autoren Heckmair und Michl folgend, auf die Entwicklung in Westdeutschland. Heckmair und Michl bezeichnen den Versuch einer Verortung hier als äußerst schwierig, da die Erlebnispädagogik oft als solche gar nicht erkennbar ist und auch die Entwicklungen in die Betrachtung mit einbezogen werden sollen, wo nur einige Elemente der Erlebnispädagogik auftauchen, ohne daß der Begriff als solcher verwendet wird.

 

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges drängten die Alliierten auf eine Umerziehung der deutschen Jugend die weg vom Nationalsozialismus hin zur Demokratie führen sollte. Es wurde den Jugendverbänden zunächst verboten, sich überregional zu organisieren. Die Alliierten empfanden verständlicherweise Unbehagen bei uniformtragenden Gruppen. In der damaligen Jugendarbeit waren es von Beginn an Fahrten und Zeltlager, die einen hohen Stellenwert einnahmen, um die Jugend wenigstens räumlich einmal aus dem Grauen Alltag zu befreien. Eine spezielle Jugendkultur hat sich in den beiden ersten Jahrzehnten der BRD nicht entwickeln können. Den genannten Unternehmungen das Etikett Erlebnispädagogik auf die Fahnen zu schreiben, würde nach Meinung der Autoren Hechmair und Michl der Sache nicht gerecht werden. Das Selbstverständnis der Jugendbünde war eher instrumentell, denn ein pädagogisch-reflexiv. Es herrschten hier stärker verbandspolitische Interessen vor, mit dem Ziel, durch Schaffung attraktiver Inhalte, Jugendliche zu binden und Nachwuchs für die Organisation zu rekrutieren. Festzustellen bleibt jedoch, daß eine Vielzahl von Jugendverbänden in ihren neu formulierten oder bestehenden pädagogischen Zielsetzungen auf Elemente der Hahnschen Pädagogik zurückgriffen, auch wenn dies meist unbewußt geschah. Deckungsgleich mit den Zielen und Vorstellungen der Erlebnispädagogik arbeitete die Jugend des deutschen Alpenvereins (JDAV), dessen Medium die Alpenistik darstellte. Die fachlich auf Bergsteigen fixierte JDVA formulierte in ihrer Arbeit Erziehungs- und Bildungsziele, die darin bestanden, die Persönlichkeitsbildung junger Menschen zu fördern.

 

Ob und in welchem Ausmaß die offene Jugendarbeit erlebnispädagogisch orientiert gearbeitet hat läßt sich den Autoren zur Folge aufgrund der einschlägigen Literatur nur schwerlich feststellen. Es zeichnete sich aber seit etwa mitte der 80er Jahre eine Entwicklung ab, die aus dem Haus hinaus in die Umwelt und Natur führt.

 

Eine durchgehende Entwicklung durchliefen demgegenüber die von Kurt Hahn ins Leben gerufenen Bildungsstätten von Outward Bound, die sich wie folgt charakterisieren läßt

 

1951     Erster Kurs für Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien am Plöner See in         Schleswig-Holstein

1952                 Gründung der Bildungsstätte Weißenhaus an der Ostsee durch die                        Deutsche Gesellschaft für Europäische Erziehung

1956                 Eröffnung des ersten alpinen Standortes in Baad/Kleinwalsertal

1968                 Gründung der Kurzschule in Berchtesgarden

1975                 Schließung des Weißenhauses an der Ostsee

1988                 Inbetriebnahme der Bildungsstätte Königsberg an der Schlei

1991                 Eröffnung des ersten Standortes in den neuen Bundesländern:

                        Outward Bound Schweriner See in Mecklenburg/Vorpommern

 

Die Geschichte der Erlebnispädagogik war auch immer eine Geschichte des Begriffes. So selbstverständlich wie heute in den 90er Jahren von Erlebnispädagogik gesprochen wird, so deutlich muß auch hervorgehoben werden, daß der Begriff erst zu Beginn der 80er Jahre in die Theoriediskussion eingeflossen ist. Im Zeitgeist der sozialen Bewegungen nach 1968 hatte eine pädagogische Richtung, die auf Körperlichkeit und Nutzbarmachung der Natur als Spielraum setzte keine Chance. Im Gegenteil hatte Sport in den intellektuellen Kreisen eher den Hauch des Primitiven und Bornierten. Wer sich in dieser Zeit als Student der Sozialpädagogik zum Sport bekannte, galt eher als Exot.

 

Hinzu kommt hier noch, daß pädagogische Nachschlagewerke und Lexikas den Begriff der Erlebnispädagogik weitgehend ignorierten. In umfangreiche Bibliographien, wie von Jagenlauf und Baumgarten taucht der Begriff der Erlebnispädagogik erst seit 1984  programmatisch in den Titeln auf. Es dominierten hier stärker Praxisberichte, die von einer starken Theoriefeindlichkeit geprägt waren sowie praxisorientierte Theorieversuche, in denen die Reformpädagogik und Kurt Hahn nicht einmal erwähnt wurden. Der Nachholbedarf auch in der Theoriediskussion ist demnach immens, zumal hier in Deutschland nicht auf Studiengänge des Experiential Education zurückgegriffen werden kann, wie dies in den USA oder in Großbritannien der Fall ist. Wie die beiden Autoren Heckmair und Michl es bezeichnen hat die Geschichte der Erlebnispädagogik gerade erst begonnen. (vgl. Hechmair/Michl, 1994, S. 26 ff)

 

 

3.2 Definition der Erlebnispädagogik

 

Beginnen möchte ich mit den Definitionsvorschlägen von Jörg Ziegenspeck, die dieser anläßlich eines Interviews mit Wolfgang Antes gegeben hat.

 

Ziegenspeck geht zunächst einmal auf den gesellschaftspolitischen Zusammenhang ein, auf dessen Hintergrund der Begriff der Erlebnispädagogik zu verstehen sei. Das Wort "Erlebnis" hat ja in letzter Zeit große Karriere gemacht. Die Palette der Erlebnisarten hat ein fast unüberschaubares Maß angenommen, sie reicht von Erlebnisreisen über Erlebniskneipen bis hin zu Erlebniswarenhäusern. Der Erlebnishunger der Menschen scheint demnach nahezu unstillbar geworden zu sein.

Die Frage, woher dieser immense Erlebnishunger und diese große Sehnsucht nach Abenteuer kommt. Leben wir nicht gerade in einem Zeitalter, wo nahezu alles möglich und wählbar ist oder besser gesagt, wo man für Geld nahezu alles geboten bekommt?

 

Ziegenspeck erläutert, was sich hinter dem Begriff des Erlebnisses verbirgt. Seiner Meinung nach hat die Menschheit das biblische Gebot, sich die Erde untertan zu machen, gründlich falsch verstanden. Die Menschen sind seiner Meinung nach eher unreflektiert und unbedacht an die Sache herangegangen, was zur Folge haben mußte, daß sie sehr bald an ihre Grenzen gestoßen sind, "...wenn ökologischer Unverstand  und soziale Unverträglichkeiten die Menschheit an den Rand humaner Existenzfähigkeit bringt, werden Überlebensstrategien angestellt. Wer sich um's Überleben Sorgen machen muß, muß zunächst einmal über das Leben - individuell und kollektiv - ganz neu nachdenken." (Ziegenspeck, 1995,S. 108)

 

Genau in diesen globalen Umbruch gehört seiner Meinung nach das Erlebnis. Von den Einen wird es vermarktet und zum Konsumgut herabgesetzt, von den Anderen wird es mit einem hohen erzieherischen, sozialen und psychologischen Wert ausgestattet, um die Ganzheitlichkeit des Menschen zu erneuern oder wiederherzustellen. In unserer Welt, die noch nie materiell so reich gewesen ist wie heute, und in der man abgesichert ist wie nie zuvor, wird seiner Meinung nach die sozial-emotionale, gesellschaftspolitische und kulturelle Armut hingegen immer größer. Jeder ist sich zunächst einmal selbst der Nächste und seines eigenen Glückes Schmied. Es drängt sich die Frage auf, wie es nun mit der Erziehung zur Verantwortung im Sinne Kurt Hahns aussieht in unserer Demokratie. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S. 108)

 

Des weiteren möchte ich nun damit fortfahren, wie ein Erlebnis im Sinne der Erlebnispädagogik zu verstehen ist und welche Wirkungen ihm hier beigemessen werden. Verstanden werden kann das Erlebnis als die Vorstufe einer Erfahrung, aus der später Erkenntnisse gezogen werden können. Das menschliche Erleben kann als unreflektierter Vorgang beschrieben werden, bei dem einige Faktoren eine Rolle spielen, wie der Raum und die Zeit sowie das Subjekt und das Objekt. Grundbaustein einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung ist demnach das Erleben. In unserer Zeit besitzen jedoch Erlebnisse aus zweiter Hand einen höheren Stellenwert und die Suche nach Erlebnissen aus erster Hand führt häufig in Süchte und Neurosen. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S. 109)

 

Nach Ziegenspeck sind mit Erlebnispädagogik überwiegend natursportlich orientierte Unternehmungen zu Land und zu Wasser sowie gelegentlich auch in der Luft gemeint. Man bezeichnet diese Aktivitäten auch als Outdoor-Pädagogik, eine stärkere Verlagerungen der Aktivitäten auch auf den Innenbereich steht noch aus. Erlebnispädagogische Programme beziehen also die natürliche Umwelt mit ein und schließen somit auch einen ökologischen Bildungsanspruch mit ein. Es ist jedoch nötig, hier auch einige Abgrenzungen vorzunehmen, denn Erlebnispädagogik ist weder Überlebenstraining noch eine Ranger-Ausbildung. Das erzieherische Vorhaben sollte in allen Unternehmungen sichtbar bleiben, um die jeweilige Praxis begründbar zu machen. Des weiteren bezeichnet Ziegenspeck die Erlebnispädagogik als eine recht junge wissenschaftliche Teildisziplin der Erziehungswissenschaft, ähnlich der Schul- und Sonderpädagogik, der Sport- und Freizeitpädagogik sowie der Sozialpädagogik. Abschließend konstatiert Ziegenspeck noch, daß bisher keine geschlossene Theorie der Erlebnispädagogik existiert, jedoch mit ihrer zunehmenden öffentlichen Wertschätzung wohl in absehbarer Zukunft mehr Mittel und Personal zur Verfügung gestellt werden, um die Erlebnispädagogik stärker zu fundieren und zu substantieren. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S. 110)

 

Anfügen möchte ich an dieser Stelle ein Zitat von Jörg Ziegenspeck, welches nochmal zusammenfaßt, was für ihn Erlebnispädagogik ist: "Unmittelbares Lernen mit Herz, Hand und Verstand in Ernstsituationen und mit kreativen Problemlösungsansätzen und sozialem Aufforderungscharakter bilden den Anspruchsrahmen erzieherisch definierter, verantwortbarer und auf eine praktische Umsetzung ausgerichteter Überlegungen, die auf individuelle und gruppenbezogene Veränderungen von Haltungen und Wertmaßstäben ausgerichtet sind und durch sie veranlaßt und begründet werden." (Ziegenspeck, 1994, S. 21)

 

Im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema: "Erlebnispädagogik - Mode, Methode oder mehr?" haben einige Praktiker und Theoretiker aus dem Bereich der Erziehungswissenschaften und Sozialarbeit Statements zu dieser Frage abgegeben. Einige dieser Statements werde ich nun in Bezug auf Definitionskriterien der Erlebnispädagogik hin vorstellen.

 

Für Bärbel Schöttler ist Erlebnispädagogik auf der einen Seite ein eigenständiges Fachgebiet, auf der anderen Seite kann es ihrer Meinung nach aber genauso ein Teilgebiet der Sozialpädagogik, der Freizeitpädagogik, der Familienpädagogik sowie der Sport-, Schul- und Kulturpädagogik sein. Des weiteren bezeichnet sie Erlebnispädagogik, im Gegensatz zu Ziegenspeck, als eine Methode, die in den unterschiedlichsten Einsatz- und Berufsfeldern nutzbar gemacht werden kann und folgende Merkmale beinhaltet :

- im Vordergrund steht immer das handlungsorientierte Lernen

- die Methode bietet für den Einzelnen und die Gruppe einen breiten Raum, in dem an die Grenzen des Möglichen gegangen werden kann, eingebettet und verbunden mit handwerklichem Geschick, hauswirtschaftlichem Können und naturkundlichen Kenntnissen

- ein gewisses Risiko ist in dosierter Form vorhanden, jedoch sollte es kalkulierbar bleiben

- unberechenbare und unvorhersehbare Erlebnisse sind in den Outdoor-activities beinhaltet

- aufgrund des Handlungsraumes Natur bietet die Erlebnispädagogik auch immer eine Möglichkeit, Kenntnisse über die Natur zu vermitteln und Anregungsmöglichkeiten zu ihrem Schutz zu geben (vgl. Schöttler, 1994, S. 23 ff)

 

Michael Jagenlauf bringt in seiner Umschreibung der Erlebnispädagogik gleich ein wenig Kritik mit ins Spiel, indem er betont, daß nicht jedes Picknick im Grünen und nicht jede Kajaktour bei Windstärke 4 als praktizierte Erlebnispädagogik bezeichnet werden kann. Erlebnispädagogische Maßnahmen sind seiner Meinung nach dadurch gekennzeichnet, daß sie Erlebnisse vermitteln, auf deren Basis Erfahrungen möglich sind, auch ohne ein allzu großes Risiko einzugehen. Entscheidend für den Erfolg erlebnispädagogischer Maßnahmen ist für ihn nicht das veränderte Verhalten nach einer solchen Unternehmung und den dort gemachten Erlebnissen, sondern die Reizauslösung für eine Reflexion des bisherigen Verhaltens und gegebenenfalls notwendigen Änderungen.

 

Um dies zu erreichen, müssen seiner Meinung nach folgende Auflagen erfüllt werden :

- die Ganzheitlichkeit des Erlebens, d.h. Herz, Hand und Verstand müssen gleichzeitig angesprochen werden

- das Moment der Unmittelbarkeit muß beachtet werden, d.h. sollen Situationen zum Erlebnis werden, dann dürfen Anfang und Ende der Aktion zeitlich nicht zu weit auseinander liegen

- die Deutungsversuche der neuen und offenen Situationen des Einzelnen müssen kontinuierlich pädagogisch begleitet werden (vgl. Jagenlauf, 1994, S. 33 f)

 

Abschließend zu diesem Teil noch die Auffassung von Hans G. Bauer zum Wesen der Erlebnispädagogik: Bauer konstatiert zunächst einmal, daß Erlebnispädagogik für ihn nicht das ist, was ihr äußeres Erscheinungsbild ihr auferlegt, nämlich etwas exotisches, spektakuläres, extremes und nicht alltägliches zu sein. Weiterhin ist Erlebnispädagogik auch für ihn nicht vornehmlich ein Instrument der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, auch wenn sie dort überwiegend eingesetzt wird. Seiner Meinung nach geht es der Erlebnispädagogik um Integration anstelle von Ausgrenzung, um Ganzheitlichkeit statt zu spezialisieren, um Handlung und Handlungserfahrungen anstelle von purer Action und um lebendige, primäre Bedürfnisse statt simulierter Bedürfnisbefriedigung. Die Erlebnispädagogik stellt weiterhin für ihn ein Pendant dar zu eher vermittelten, indirekten und bezugslosen Lernformen und besteht für ihn in einer Haltung und einem allgemeinen Bildungsansatz. (vgl. Bauer, 1994, S. 43 f)

 

 

3.4 Didaktik und Methodik der Erlebnispädagogik

 

Voraussetzung nahezu jeder professionellen pädagogischen Intervention ist es, zielgerichtet, planmäßig, absichtsvoll und erfolgreich zu handeln. Um dies zu realisieren muß jedoch das Handeln vorstrukturiert werden, d.h. einzelne Ziele und Schritte im Prozeß müssen festgelegt werden, der Prozeß und die geplante Abfolge müssen reflektiert werden und die erzielten Ergebnisse müssen überprüfbar und generell korrigierbar sein. Hat die heutige Erlebnispädagogik also den Anspruch, professionell wirken zu wollen, so benötigt sie ein Curriculum, welches durch methodische und didaktische Aspekte gekennzeichnet ist.

 

Der Didaktik und Methodik der Erlebnispädagogik gehen einige Grundannahmen voraus, welche sich auch später in der Praxis wiederfinden :

 

- jeder Mensch besitzt mehr Kompetenzen und Ressourcen, als er selber denkt

- eine kleine heterogene Gruppe ist sehr gut in der Lage, erfolgreich mit körperlichen und geistigen Anforderungen umzugehen

- nicht nur Erwachsene, sondern auch junge Menschen sind durchaus fähig kritische Entscheidungen zu fällen und dafür Verantwortung zu übernehmen

- durch die Herausforderung, sich einem Problem zu stellen, wird mehr gelernt als durch die bloße Darbietung von Lösungen und Methoden

- gemeinsam Erlebtes sowie Streß sind entscheidende Katalysatoren im Prozeß der Selbstfindung einer Person

- die Selbsteinschätzung eines Menschen ist ein wichtiger Faktor für seine Zukunft

- kurzfristige und intensive Erlebnisse sind dazu geeignet ein bedeutungsvolles und langfristiges Lernen herbeizuführen (vgl.Reiners, 1995, S. 21)

 

 

Didaktik der Erlebnispädagogik

 

Annette Reiners geht in ihren Ausführungen zur Didaktik der Erlebnispädagogik zunächst einmal davon aus, daß man hier drei spezifische Lernarten unterscheiden kann und zwar ein spezifisches Lernen, ein unspezifisches Lernen sowie ein metaphorisches Lernen.

 

Das spezifische Lernen ist gekennzeichnet durch einen spezifischen Lerneffekt. Hierbei eignet man sich z.B. etwas an und entwickelt eine Fähigkeit nach vorausgegangener Anleitung. Ein Beispiel für diesen Lerneffekt wäre die Fähigkeit, eine topographische Karte lesen zu können. Diese Art der Lerneffekte ist für das Alltagsleben nicht relevant, sondern dient nur dem Mittel zum Zweck. Macht sich ein Teilnehmer bestimmte selbsterarbeitete Methoden zu eigen, so kann man hier von einem unspezifischen Lerneffekt sprechen. Dies ist der Fall, wenn in seinem Selbstbild gewisse Konflikt- und Problemlösungsstrategien oder veränderte Ansichten und Wertvorstellungen auftreten. Das metaphorische Lernen erkennt man daran, daß hier analog zu Alltagssituationen Lernerfahrungen stattfinden, die dann später auch in das Alltagsleben übertragen werden können, wie z.B. Verhaltensänderungen. Stattfinden kann diese Form des Lernens entweder während einer Aktivität aufgrund alltagsähnlicher Strukturen oder nach Beendigung einer Aktivität in Form von Reflexionen. (vgl. Reiners, 1995, S. 21 f)

 

Nach den Autoren Hechmair und Michl sind erlebnispädagogische Aktivitäten wie z.B. Segeltörns oder Schlauchbootfahren Archetypen des sozialen Gruppenlernens. Diese Aktivitäten bieten einen breiten Raum für soziales Lernen aufgrund des Spaßes, den der Einzelne in der Gruppe erfährt sowie durch die Auseinandersetzung mit der Gruppe und der Rollenverteilung. Alle erlebnispädagogischen Maßnahmen beinhalten eine Planung, eine Durchführung sowie eine Nachbereitung und in diesen unterschiedlichen Phasen ist jeder Teilnehmer in gewisse Rollen eingebunden, die teilweise selbstbestimmt sind und teilweise verordnet werden. Des weiteren bietet die Gruppe die Chance, integrierend zu wirken und wertvolle Konflikte zu schaffen sowie für den Einzelnen Sicherheit und Entlastung zu bieten. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 71 f)

Doch in welcher Form findet das soziale Lernen nun in der Erlebnispädagogik statt und wie reicht es ein Erlebnispädagoge am Besten seinen Teilnehmern dar?

Nach Annette Reiners vollzieht sich Lernen generell in einem Prozeß. Die einzelnen Lernschritte in diesem Prozeß müssen vom Erlebnispädagogen so dargereicht und dosiert werden, daß es den Teilnehmern auch reizvoll erscheint, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Weiterhin müssen sich die einzelnen Lernschritte auch als ein zusammenhängendes Ganzes darstellen und am Ende einen Gestaltabschluß darstellen, in dem alle einzelnen Schritte zusammenlaufen. Dieser Zusammenhang der einzelnen Aktivitäten muß für die Teilnehmer ersichtlich sein, damit nicht die Frage nach dem "Warum" des Ganzen auftauchen. Motivationsfördernd auf den Lernprozeß wirkt sich auch die freie Entscheidungsmöglichkeit der Teilnehmer aus. Freie Entscheidungen zu sanktionieren, wäre demnach motivationshemmend und würde den Teilnehmern auch die Möglichkeit nehmen, verschiedene Lösungswege auszuprobieren, auszuwerten und sich dann für ein angemessenes Verhalten zu entscheiden. Das Feedback stellen also die vorhandenen Umstände dar, ohne das der Betreuer sanktionierend eingreifen muß. (vgl. Reiners, 1995, S. 22)

 

Den Prozeß des Lernens sehen Heckmair und Michl als dreiteiliges Gebilde an, welches ganz im Sinne Hahns durch Kopf, Herz und Hand gekennzeichnet ist. Die bildende Kraft, welche von Erlebnissen in und mit der Natur ausgeht, spricht also einerseits den Kopf und damit die kognitiven Funktionen an. Hierunter versteht man das Erwerben von Wissen, das Verarbeiten von Informationen und das Erkennen der Zusammenhänge. "Am Beispiel Bergsteigen heißt dies: Wissen über Klettertechniken, Wetterkunde, Geologie, Erste Hilfe, Gebrauch von Karten, Bergrettung, Landschaftskunde usw." (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 73) Als nächstes kommt das Lernen mit dem Herz hinzu, welches die senso-motorische Dimension bezeichnet. Hiermit ist das sinnliche Begreifen, das Erfahren und Ertasten sowie das Erfühlen der inneren und äußeren Natur gemeint. Die affektive Dimension wird hier erfahrbar durch den Umgang mit der natürlichen Umwelt, der uns wieder staunen, Freude spüren und Angst sowie Bedrohung an uns heranzulassen lehrt. Das Lernen durch Handeln bezeichnet ganz im Sinne Hahns die zentrale Rolle der Handwerker und der handwerklichen Tätigkeit. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 73 f)

 

Annette Reiners geht in ihren Ausführungen über den Lernprozeß der Erlebnispädagogik präziser auf die einzelnen Handlungsschritte ein und versucht hier einzelne Phasen herauszuarbeiten. Sie bezieht sich auf James S. Coleman, der das Lernen im Klassenzimmer mit handlungsorientierten Ansätzen vergleicht und dabei vier Schritte des erlebnispädagogischen Prozesses aufstellt. Am Anfang stehen das Handeln in einem bestimmten Augenblick und der nachfolgende Effekt diese Handelns im Mittelpunkt. Der zweite Schritt beinhaltet die Wirkungen in diesem bestimmten Augenblick und die Konsequenzen der Aktion werden sichtbar. Daraus folgt, daß ein Lernen zielgerichteten Verhaltens für bestimmte Umstände ermöglicht wird. Im dritten Schritt wird die stattgefundene Situation unter ein generelles Prinzip eingeordnet und ein Verständnis dafür entwickelt. Ist also nun das generelle Prinzip verstanden worden, so kann nun im vierten Schritt eine Umsetzung des Verstandenen auf neue Situationen erfolgen. Die Kette des Lernprozesses setzt sich also zusammen aus dem Handeln, dem Verstehen, der Generalisation und der Anwendung.

 

Des weiteren bezieht sich Reiners auf Laura Choplin, die ihrer Meinung nach ein ähnliches, jedoch ausdifferenzierteres fünf Phasen Modell entwickelt hat. Diesem Modell zur Folge beginnt der Lernprozeß damit, daß der Teilnehmer vor ein Problem gestellt wird. In der zweiten Phase, der sogenannten Aktionsphase, gilt es, dieses Problem zu lösen und zwar ist hierbei zu beachten, daß der Teilnehmer das Problem nicht umgehen kann und seine neu erlernten Fähigkeiten zur Lösung nutzen kann. Über die Beschaffenheit der Aktion sind keine engeren Eingrenzungen gemacht worden. Sie können entweder körperlich, emotional oder psychisch sein. Die dritte und vierte Phase ist durch eine Unterstützung und ein Feedback des Betreuers gekennzeichnet, welches dem Teilnehmer bei der Lösung behilflich sein soll und ihn zum Weitermachen animieren soll. Die fünfte und letzte Phase beinhaltet eine Nachbesprechung, um dem Teilnehmer zu helfen, aus seinen Erfahrungen zu lernen und diese auch in den Alltag zu übertragen.

 

Abschließend weist Reiners noch einmal auf die hier deutlich werdenden Unterschiede zur Erlebnistherapie Hahns hin. Hahn ging in seiner Erlebnistherapie noch von einer unbewußten Wirkung des Erlebnisses aus, während heute ein verstehendes Erleben die zentrale Rolle spielt. Absicht ist, Erfahrungen bewußt zu sammeln, um diese dann später auf den Alltag transferieren zu können.

 

Als weiteren wichtige didaktischen Punkt der Erlebnispädagogik ist das Lehr-Lerngefälle zwischen dem Betreuer und seinen Teilnehmern zu erachten.

Zu Beginn einer aktivität ist diese Gefälle noch sehr stark ausgeprägt. Der Betreuer ist der Experte und der Macher und die Teilnehmer nehmen stärker die Rolle der Konsumenten ein. Wichtig für den Lernprozeß ist es, diese Gefälle im Laufe der Aktivität immer stärker abzubauen, weil die Erlebnispädagogik erreichen will, daß die Teilnehmer eigenen Kompetenzen vertrauen lernen und diese weiterentwickeln, indem sie bei den Stärken der Teilnehmer ansetzt. Die direkte Verwicklung des Betreuers, in den Lernprozeß in der Kursanfangsphase wird immer im Verlauf der Aktitvität reduziert und die Entscheidungsfreiräume und - teilnahme der Kursteilnehmer wächst zusehens mit dem Rückzug des Betreuers. Dieser beschränkt mehr und mehr seine Aktivitäten darauf, die Teilnehmer in ihrem Lernprozeß, Verantwortung zu tragen zu unterstützen.

Letztliches Ziel des Prozesses ist ein gleichberechtigtes Agieren ohne Gefälle und der Rückzug des Betreuers in die Rolle des Beobachters, des Begleiters und des Beraters, der außer bei sicherheitstechnischen Aspekten nicht mehr in die Entscheidungsfindung eingreift und die Durchführung der weiteren Aktivitäten den Teilnehmern überläßt. (vgl. Reiners, 1994, S. 23 ff)

 

Des weiteren möchte ich nun auf die Rolle des Betreuers während einer erlebnispädagogischen Aktivität eingehen und die Beziehung zwischen ihm und seinen Teilnehmern näher beleuchten. Das Verhältnis des Betreuers zu seinen Teilnehmern ist vornehmlich berufsbedingt. Hinzu kommt jedoch in der Erlebnispädagogik, daß der Betreuer auch selbst Betroffener ist, indem er aktiv an der Maßnahme teilnimmt. Der Betreuer nimmt also demnach viele unterschiedliche Rollen ein, er ist einerseits der Fachmann und Experte, dann er ist er Gruppenleiter und andererseits ist er persönlich Betroffener. Die Rolle des Gruppenleiters schließt die Organisation des Programms, die Verantwortlichkeit für den Ablauf, die juristische Verantwortung für die Teilnahme der Teilnehmer sowie bei Minderjährigen, die Abwicklung von Rechtsgeschäften mit ein. Der Erlebnispädagoge ist demzufolge für die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen sowie der verabredeten Gruppenregeln verantwortlich. Mitunter muß er Grenzen aufzeigen und unter Umständen auch Teilnehmer ausschließen, wenn dies im Sinne der Aktivität geboten ist. Die Rolle des Experten ist gekennzeichnet von der Beherrschung des vorhandenen Mediums, wie z.B. das Wissen um Sicherheitsvorkehrungen beim Bergsteigen usw., von Situationen in denen er entscheiden muß, ob eine Maßnahme abzubrechen ist oder ob einige Teilnehmer ausgeschlossen werden müssen und wer überhaupt teilnehmen darf etc. In der Funktion des Erlebnisgefährten teilt der Betreuer mit den Teilnehmern die Freuden sowie die Unannehmlichkeiten einer Maßnahme. Er teilt eigene Bedürfnisse mit und geht persönliche Beziehungen mit den Teilnehmern ein, welche unabhängig von seinen Beruf sind. (vgl. Reiners, 1994, S. 27 f) Von vielen wird die Rolle des Erlebnisgefährten sehr geschätzt, da hier der Pädagoge ebenfalls in die Rolle des Lernenden wechselt und die Teilnehmer so miterleben, wie der "Experte" selber mit seiner Angst, mit seiner Unlust und mit seiner Autorität umgeht und wie er sich auf bestimmte Situationen einläßt. (vgl. Nickolai, 1994, S. 135) Zuletzt nimmt der Erlebnispädagoge noch die Funktion des Beobachters wahr, der sich in einer quasi Metaposition befindet und als Prozeßbegleiter entweder das ganze Geschehen beobachtet oder auch interveniert. Diese Funktion verlangt wiederum eine gewisse Distanz und Unparteilichkeit vom Pädagogen. (vgl. Reiners, 1995, S. 28) Der Wechsel in die unterschiedlichen Funktionen des Betreuers hat natürlich auch Auswirkungen auf die Beziehungssysteme mit den Teilnehmern, die demzufolge ebenfalls einem ständigen Wechsel unterliegen. Oftmals widersprechen sich die einzelnen Rollen sogar. Im Falle des Erlebnisgefährten, wo der Pädagoge involviert ist in das gesamte Geschehen und des Beobachters, wo eher eine gewisse Distanz zum Geschehen erforderlich ist. (vgl. Reiners, 1995, S. 28) Die damit verbundenen hohen Anforderungen an den Erlebnispädagogen können nur mit einer sehr guten Vorbereitung auf solche Maßnahmen kompensiert werden.

Entscheidend ist, daß der Erlebnispädagoge zwei Kompetenzen besitzt: einerseits die Beherrschung des Mediums, wie z.B. Bersteigen oder Kanufahren und andererseits die pädagogische Ausbildung d.h. der Pädagoge muß mindestens ein Grundwissen über gruppendynamische Prozesse und das Verhalten als Gruppenleiter besitzen. (vgl. Nickolai, 1994, S.134 f) Didaktisch wichtig sind des weiteren die Kommunikationsebenen, denn um die Teilnehmer zu erreichen und eventuelle Verhaltensänderungen anzustoßen, muß auf einer bestimmten Ebene kommuniziert werden. Annette Reiners unterscheidet hier die Inhalts- und Beziehungsebene sowie die Selbstoffenbarungs- und Appellebene. Die Intentionen erlebnispädagogischer Maßnahmen liegen ja meist darin, gewisse Verhaltensänderungen zu ermölichen und die Prozesse dafür anzustoßen. Voraussetzung dafür ist, daß sich der Erlebnispädagoge um ein gutes Verhältnis unter den Teilnehmern sowie auch zu sich selbst bemüht, d.h. hier ist die Beziehungsebene primär und die Inhaltsebene zunächst einmal sekundär. Die Erfahrung mutmachender Erlebnisse auf der Ebene der Gruppenbeziehung, in der Auseinandersetzung mit dem Medium sowie mit dem sozialen Umfeld sind Zielsetzungen erlebnispädagogischer Programme. Zur Erreichung ist jedoch ein positives Gruppenklima notwendig, denn wenn dies nicht vorhanden ist, werden viele Störungen der Beziehungsebene auf die Sach-/Inhaltesebene übertragen, was zur Folge hat, daß Widerstände gegen bestimmte Aktivitäten auftreten, die eigentlich nur im schlechten Gruppenklima begründet sind. Stimmen die Beziehungen unter den Teilnehmern und zum Betreuer, so kann sich stärker auf die inhaltliche Ebene der Aktion eingelassen werden, treten jedoch Störungen auf, so gilt es, diese im Hier und Jetzt zu bearbeiten und sie als Lernfeld zu betrachten.

 

Entscheidend für den Erfolg einer erlebnispädagogischen Maßnahme ist neben den unterschiedlichen Rollen des Betreuers und deren Verflechtung sowie den Beziehungen innerhalb der Gruppe und ihren Auswirkungen auch die Gestaltung der Situationen. Nach Reiners hängen die Handlungsstrategien und letztlich auch die Verhaltensänderungen immer von der Interpretation der Situation ab, welche sie in innere und äußere Situation unterteilt. Die innere Situation bezieht sich auf die innere Verfassung der Teilnehmer und des Betreuers, die äußere Situation schließt die Faktoren der Umwelt mit ein. Die Besonderheit der Erlebnispädagogik liegt ja letztlich darin, daß sie die Möglichkeit bietet, Lernsituationen zu schaffen, die physische, psychische, soziale und kognitive Fähigkeiten der Teilnehmer gleichzeitig ansprechen. Die Situationen in der Erlebnispädagogik sind vielfältig und nicht alltäglich und stellen somit reale und ernsthafte Situationen dar, die einen Aufforderungscharakter besitzen und die Teilnehmer geradezu zur Auseinandersetzung und zum Handeln zwingen. Ein Ausweichen oder Überspielen und einfach umgehen solcher Situationen, wie im Alltag vorkommt, ist im Rahmen erlebnispädagogischer Aktivitäten nicht möglich.

Aufgrund dessen kommt es auf die Gestaltung der Situationen in der Erlebnispädagogik an. Reiners führt hierzu aus, daß die einzelnen Situationen zwar eine Struktur besitzen müssen, jedoch nicht abgeschlossen sein dürfen. Denn je abgeschlossener eine Situation ist, desto weniger fordert sie zum Handeln heraus und umso weniger provoziert sie Erregung und Handlung. Strukturierte, aber zum größten Teil offene Situationen vermitteln das Gefühl, daß das Leben aktiv gestaltbar ist und spannend sein kann. In der Praxis bedeuet das, daß man eine Situation, wie z.B. eine mehrtägige Skitour in drei Phasen untergliedern kann. Zum Einen in die Anfangs- und Einstiegsphase, in der es hauptsächlich um die Motivation der Teilnehmer durch Informationen geht sowie um das bewußte Bearbeiten von Abwehr und Angst der Teilnehmer. Die zweite Phase ist die sogenannte Hauptphase, in der es hauptsächlich um die Lösung und um die Durchführung der Aktivität geht. Hierbei geht es vor allem um Entscheidungs-, Planungs- und Delegationsprozesse sowie um die Aktivität selber. Die dritte Phase bildet die Lösungs- und Abschlußphase, in der es um eine Reflexion und Zusammenfassung der Ergebnisse geht, mit dem Ziel, den Lernprozeß zu unterstützen. (vgl. Reiners, 1995, S. 28 ff)

 

 

Methodik der Erlebnispädagogik

 

Unter dem Begriff der Methodik versteht man eine bestimmte Verfahrensweise, mit deren Hilfe Lehr- und Lernprozesse planmäßig fachlich vorbereitet sowie gelenkt und gesteuert werden. Die Methodik der Erlebnispädagogik folgt einigen Prinzipien, die ich nun in Anlehnung an Annette Reiners erläutern möchte. Im Mittelpunkt steht das Prinzip des handlungsorientierten und sozialen Lernens. An den Teilnehmer sollen Anforderungen gestellt werden, die schwer, jedoch nicht unlösbar sind und die Möglichkeit zur Grenzerkundung bieten. Solche Grenzerkundungen tragen nämlich dazu bei, daß sich die Teilnehmer selber besser kennenlernen, indem sie in ihren Fähigkeiten und Eigenschaften gefordert werden. Des weiteren muß das Erleben sämtliche Lernebenen des Menschen einbeziehen, also die kognitive, die emotionale und die aktionale Ebene. Hat eine Aktivität erst einmal begonnen, so sollte der Gruppe im Laufe der Zeit immer stärker die Gruppensteuerung und die Selbstverantwortung überlassen werden. Weiterhin darf die Aktivität nicht einer künstlich geschaffenen Umwelt ähneln, sondern die Situationen müssen ernsthaft, direkt, konkret sowie authentisch sein. Die Teilnehmer sollen durch ein breit gefächertes Angebot an sportlichen, sozialen, kreativen und organisatorischen Aktivitäten immer wieder in Situationen geraten, denen sie nicht ausweichen können und in welchen sie sich bewähren und an ihre Grenzen stoßen können. Diese Prinzipien lassen deutlich werden, daß im Mittelpunkt der erlebnispädagogischen Aktivitäten immer die Situation und das Verhalten der Teilnehmer steht. Eine grundsätzliche Zielsetzung solcher Aktivitäten richtet sich demzufolge nach den individuellen Problemlagen der Teilnehmer sowie nach ihren Bedürfnissen und ihrem Leistungsvermögen. Abhängig von der Zielsetzung ist natürlich immer die gewählte Methode, das Medium und das Material sowie der zeitliche Rahmen einer Aktivität.

 

Der Begriff des Mediums hat seinen Ursprung im Lateinischen und bedeutet soviel wie Mittler, Vermittelndes und Mittel. Die Funktion eines pädagogischen Mediums besteht nicht nur darin, Informationen zu vermitteln, sondern hauptsächlich darin, Kommunikationen und Handlungen anzuregen. Im Bereich der Erlebnispädagogik stellen die Natursportarten das häufigste Medium dar, aber auch soziale, handwerkliche und ökologische Projekte werden hier als Medium verwendet, um der Aktivität einen Erlebnischarakter zu verleihen. Im Vordergrund steht nicht das Erlernen einer bestimmten Sportart oder Tätigkeit, sondern die Bereitstellung einer ungewohnten und interessanten Umwelt, die an den Einzelnen und an die Gruppe alltagsähnliche Anforderungen stellt. In der Psychologie existiert eine ähnliche Methode als Milieutherapie, die den Klienten ebenfalls einer besonderen Atmosphäre oder einem Mileu aussetzt, in dem dann spezifische Techniken angewendet werden. Den wesentlichen Einfluß hat hier jedoch, wie auch in der Erlebnispädagogik, die Atmosphäre als Ganzes und nicht nur einzelne Bestandteile. Entscheidend ist immer die Kombination, die Präsentation sowie  die Interpretation der Aktivitäten. Zusammenfassend zu der Funktion des Mediums läßt sich sagen, daß es immer den Kristallisationskern in der Erlebnispädagogik darstellt und die Aufgabe hat, eine Auseinandersetzung und Begegnung mit Situationen sowie mit sich selbst und anderen zu provozieren. Welches Medium für eine Aktivität ausgewählt wird, ist immer abhängig von finanziellen, zeitlichen und organisatorischen Faktoren sowie von den Voraussetzungen der Zielgruppe. Je nach der Wahl des Mediums, richtet sich auch das benötigte Material. Das Material setzt sich zusammen aus den benötigten Gegenständen und Dingen über die die Gruppe zum Teil selber entscheiden kann.

 

Im Weiteren möchte ich nun auf die Aktions- und Handlungsformen eingehen und zwar sind damit die Weisen gemeint, in denen der Betreuer agiert. Ganz generell kann man hier zwei Aktionsformen unterscheiden. Einerseits die direkte Aktionsform, in der sich der Lehrende direkt an die Lernenden richtet, zum Beispiel in Form einer Demonstration und andererseits die indirekte Aktionsform, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Betreuer die Teilnehmer sich selbst überläßt, während sie mit dem Lerngegenstand umgehen. Reiners unterscheidet vier Aktions- und Handlungsformen der Betreuer. Dieser Einteilung werde ich mich anschließen und die vier Formen hier kurz darstellen:

 

a) Arrangieren

Eine der vier Grundformen pädagogischen Handelns in erlebnispädagogischen Zusammenhängen ist das Arrangieren. Zentral ist hier das Arrangieren von offenen, schöpferischen Lernprozessen im Gegensatz zur Vermittlung von vorgefertigtem Wissen. Der Erlebnispädagoge ist bemüht, seinen Teilnehmern geeignete Bedingungen und Lernmöglichkeiten zu verschaffen, in denen diese Lernziele in Form von Selbsttätigkeit und aktiver Beteiligung verwirklicht werden. Wichtiger Bedingungsfaktor ist in der Erlebnispädagogik das Bilden von meist überschaubaren, altershomogenen Gruppen, um die sozialen Bedingungen für die Entstehung eines pädagogischen Feldes zu schaffen. Die Gruppe gibt dem einzelnen Teilnehmer eine soziale Orientierung und verleiht ihm einen sozialen Status. Außerdem ist die Gruppe ein ideales Lernfeld, um bestimmte Verhaltensweisen wie z.B. Kooperation, Kompromißfähigkeit etc. einzuüben, da das Zusammenleben rund um die Uhr gewisse Verhaltensweisen erforderlich macht und dazu anregt, alte Verhaltensweisen und Rollen zu überdenken. Die Medien, die in der Erlebnispädagogik zur Verfügung gestellt werden sind meist komfortarme Lebensräume in der Natur. Die Natur wird hier quasi zu Lehrmeisterin in deren Umgebung der Teilnehmer Entdeckungen macht und handelt sowie darüber nachdenkt, welche Schlüsse er aus den gemachten Erfahrungen ziehen kann. Demzufolge sind wichtige methodische Bausteine in der Erlebnispädagogik das Naturerlebnis, was sich in der Unberührtheit der Landschaft und den Wetterelementen festmacht, das Ich-Erlebnis, welches gekennzeichnet ist durch körperliche und geistige Leistung und durch die sinnliche Erfahrung des Körpers sowie das Gruppenerlebnis. Man versucht diese methodischen Bausteine mit Hilfe bestimmter Arrangements zusammenzufügen, um den Rahmen für diese Erlebnisse mit sich, der Natur und der Gruppe zu geben. Einen entscheidenden Faktor stellt in diesem Zusammenhang auch das Machen von Grenzerfahrungen dar. Diese Grenzerfahrungen sind nicht ausschließlich auf die Grenzen der eigenen körperlichen Leistungsfähigkeit beschränkt, sondern beziehen sich auch auf das Einhalten von Rahmenbedingungen und auf das Aushandeln von Grenzen innerhalb von Beziehungen, denn auch diese Erfahrungen können für die Teilnehmer durchaus zum Grenzerlebnis werden. Beim Arrangieren von Situationen und Aktivitäten ist des weiteren noch zu beachten, daß diese auch den entsprechenden Raum zum Handeln für die Teilnehmer bieten. Dies kann dadurch erreicht werden, daß die geplanten Aktivitäten eine Arbeitsteilung erforderlich machen, in der jeder einzelne Teilnehmer eine Aufgabe übernehmen kann und somit aktiv werden muß. Weiterhin sollten Wahlmöglichkeiten und Handlungsalternativen bestehen, an deren Auswahl sich die Teilnehmer aktiv beteiligen können, wie z.B. bei der Auswahl der Route oder ähnlichem. Den Teilnehmern wird die Chance gegeben, kreative und vielleicht auch eigenwillige Lösungsmöglichkeiten bei der Bewältigung einer Aufgabe auszuprobieren. Man serviert ihnen nicht vorgefertigte Lösungen, denn dies läßt die Teilnehmer eher in einer passiven Haltung verharren. Abschließend ist zu beachten, daß der Sicherheitsaspekt nie aus den Augen verloren werden darf und die Teilnehmer weder über- noch unterfordert werden dürfen. Auch dürfen die Aktivitäten die Kompetenzen des Betreuers nicht übersteigen, um die Sicherheit der Teilnehmer nicht zu gefährden.

 

b) Das Animieren

Mit dem Animieren ist ebenfalls eine pädagogische Handlungsform in erlebnispädagogischen Zusammenhängen gemeint, die die Teilnehmer bewegen soll sich in einer arrangierten Situation auf etwas einzulassen, Grenzen zu überwinden und gegebene Lernchancen zu nutzen. Im Rahmen der Animation kann zum Einen das Interesse an einer Sache hervorgerufen werden, indem in Aussicht gestellt wird, daß wichtige Bedürfnisse dadurch befriedigt werden und Erfolgserlebnisse zu verbuchen sein werden. Indem der Betreuer die Anforderungen erläutert, welche an die Teilnehmer in dieser Situation gestellt werden, kann er Lernchancen transparent machen, die ebenfalls eine animierende Wirkung auslösen. Fest steht jedoch, daß hier schon alleine der Umstand selbständig etwas tun zu dürfen, besonders für Jugendliche äußerst animierend ist. Zum Anderen wird die Handlungsform der Animation dann nötig, wenn Teilnehmer zwar Interesse zeigen an der Aktivität aktiv mitzuwirken, Ängste sie jedoch von der Umsetzung abhalten, wie dies z.B. beim Abseilen der Fall sein kann. In der Erlebnispädagogik ist es sehr wichtig diesen Ängsten freien Raum zu lassen und sie zu besprechen, denn Ziel erlebnispädagogischer Maßnahmen ist ja nicht das Erlernen einer Sportart, sondern die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen und Ängsten. Spezielle Techniken des Animierens lassen sich hier nicht pauschal auflisten, da eine entscheidende Rolle die Persönlichkeit des Betreuers spielt, denn nur aufgrund seiner persönlichen Glaubwürdigkeit und Authentizität wird ein Animieren möglich. Indem der Betreuer den Teilnehmern Perspektiven und Lernchancen in Aussicht stellt, die sich auch auf den Alltag übertragen lassen, kann er die animierende Wirkung noch verstärken.

 

c) Das Begleiten

Methodisch gesehen orientiert sich die Handlungsform des Begleitens an dem Modell des entdeckenden Lernens und stellt somit ein Pendant dar zu den meisten schulischen Veranstaltungen. In Form des Begleitens findet eine begleitende Unterstützung von Erfahrungsprozessen auf kognitiver, motorischer, interaktionaler und emotionaler Ebene statt. Experimentelles Lernen ersetzt hier autoratives Lernen und das Schlagwort dieser Methode ist die Selbständigkeit der Teilnehmer. Beispiele hierfür wären etwa die Selbstversorgung durch die Teilnehmer im Laufe einer Maßnahme oder die selbständige Durchführung von handwerklichen Projekten. Indem der Betreuer die Teilnehmer in sämtlichen Fragen und Konfliktsituationen begleitet und gemeinsam mit ihnen Lösungen erarbeitet, werden die Teilnehmer ermutigt, sich mit schwierigen Aufgaben und Situationen auseinanderzusetzen. Der Gruppenleiter ist demzufolge nicht Wissensquelle, sondern Lernhelfer, der auch dafür verantwortlich ist, daß Lerneffekte erkannt, artikuliert und ausgewertet werden.

 

d) Das Intervenieren

Ausgangspunkt dieser Handlungsform ist die Annahme, daß zwar sichtbare und manifeste Problemlagen, überwiegend der Selbststeuerung der Gruppe überlassen werden können, daß aber bei latenten Problemstellungen wie zum Beispiel Ängsten und Spannungen ein Eingreifen des Betreuers nötig wird. Weitere Fälle der Intervention des Betreuers sind dann gegeben, wenn sich Gruppenmitglieder nicht mehr an vereinbarte Rahmenbedingungen halten, sich durch Risikoverhalten gefährden oder Naturzerstörung droht. Generell kann man sagen, daß die Selbststeuerung der Gruppe dann an ihre Grenzen stößt, wenn Kenntnisse und Fähigkeiten fehlen oder unüberschaubare Aspekte dies gebieten, so daß der Betreuer hier gezielt intervenieren muß. Die hier dargestellten Handlungsformen der Betreuer während erlebnispädagogischer Maßnahmen beanspruchen keine Vollständigkeit und festzuhalten bleibt, daß die einzelnen Handlungsweisen durchaus ineinander übergehen können und keine abgegrenzten Formen darstellen.

 

Abschließend zur Methodik der Erlebnispädagogik möchte ich nun noch auf den zeitlichen Rahmen solcher Aktivitäten eingehen. Effektives und bedeutungsvolles Lernen, so die Konzepte der Erlebnispädagogik, findet aufgrund intensiver und kurzfristiger Erlebnisse statt. Voraussetzung intensiver Erlebnisse ist, daß sie einen Ernstcharaker besitzen d.h. sie müssen spürbare Konsequenzen nach sich ziehen. Am deutlichsten wird der Ernstcharakter einer Situation, wenn es um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, wie z.B. Nahrung, Wasser, Schlaf und Zugehörigkeit geht. Es stellt sich die Frage, wie lang eine solche Aktivität dauern muß, um diesen Ernstcharakter zu erreichen. Generell kann man die Antwort geben, daß es für erlebnispädagogische Programme keinen einheitlichen zeitlichen Rahmen gibt. Die Kursangebote sowie auch ihr zeitlicher Rahmen richten sich häufig nach der Nachfrage und den organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten anstatt nach Zielgruppen und Wirkungschancen. Die Zeitspanne reicht von ein Tages Kursen bis hin zu Projekten von einjähriger Dauer. Wann eine bestimmte Situation einen Ernstcharakter erhält ist natürlich immer abhängig vom gewählten Medium. Beim Klettern und Abseilen ist dieser Zeitpunkt sehr schnell erreicht, da es um die Infragestellung der persönlichen Sicherheit geht, anders hingegen ist es bei einer Radtour oder ähnlichem, die durchaus eine gewisse Mindestdauer aufweisen müssen. (vgl. Reiners, 1995, S. 35 ff)

 

3.5 Ziele der Erlebnispädagogik

 

Ausgehend von den Axiomen Watzlawicks, daß ein Mensch nicht keine Ziele haben kann, sondern jede Interaktion und Kommunikation immer ein Ziel hat, so hat natürlich auch die Erlebnispädagogik ihre Ziele, die jedoch von bestimmten Faktoren abhängig sind. Die Ziele werden zum Einen immer durch die Organisationsstruktur und durch die vorgegebenen Rahmenbedingungen, wie z.B. Träger, Ort, Umgebung und Fachkompetenz der Betreuer beeinflußt. Zum Anderen wird die Zielformulierung geprägt von der Zielgruppe, an die sie sich richtet. Hier spielen die individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer eine Rolle wie Alter, Geschlecht, Fähigkeiten und Entwicklungsstand sowie ihre sozio-kulturellen Bedingungen wie Schule, Wohnsituation und Beruf.

Zu unterscheiden ist hier immer zwischen den Zielen der Betreuer und denen der Teilnehmer. Der Betreuer muß sich seiner persönlichen Werthaltungen und seiner Erziehungsziele stets bewußt sein, um seine Pädagogik transparent und reflektierbar zu machen. Annette Reiners unterscheidet hier in Anlehnung an Heimann/Otto/Schulz drei Dimensionen in der Intention des Lehrenden. Zum Einen geht es in der pragmatischen Dimension um die Entwicklung von Fähigkeiten und Fertigkeiten und den daraus entstehenden Gewohnheiten. Die emotionale Dimension ist gekennzeichnet von der Anbahnung von emotionaler Bewegtheit, der Entfaltung zum Erlebnis sowie von der Ausbildung einer Einsicht. Die dritte und somit kognitive Dimension ist gekennzeichnet von der Vermittlung von Sachverhalten und der daraus entstehenden Erkenntnis.

 

Den Zielen des Betreuers stehen die eher diffusen Erwartungen und Handlungsziele der Teilnehmer gegenüber, die der Betreuer erkennen können muß, will er nicht die Teilnehmer zu bloßen Objekten seiner pädagogischen Bemühungen machen. Um die Ziele seiner Teilnehmer zu erkennen, muß der Betreuer ihr Handeln sehr genau beobachten und decodieren, da nicht jeder in der Lage sein wird, diese verbal auszudrücken. Die Gefahr einer Fehlinterpretation der Handlungsziele der Teilnehmer besteht immer, entscheidend ist jedoch, daß sie eine gleichberechtigte Bedeutung neben denen des Betreuers erlangen. Aus einer intensiven Prüfung der Erziehungsziele des Betreuers und den Handlungszielen der Teilnehmer können dann Lernziele abgeleitet werden. Die Lernziele können natürlich je nach Zielgruppe recht unterschiedlich sein, trotzdem versucht Annette Reiners eine Aufstellung genereller Grobziele erlebnispädagogischer Maßnahmen bestehen in:

- der Entwicklung individueller Persönlichkeitsmerkmale wie der Entwicklung von Eigeninitiative und Spontaneität, Kreativität, Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein sowie in einem realistischen Selbstbild und in der Überprüfung von Wertesystemen etc.

- der Förderung der sozialen Kompetenzen der Teilnehmer wie z.B. der Teamarbeit, der Rücksichtnahme, der Hilfsbereitschaft, der Konfliktbewältigung und des Mitgefühls etc.

- der Herausbildung eines systemischen, ökologischen Bewußtseins

(vgl. Reiners, 1995, S.31 ff)

 

 

 

4. Erlebnispädagogik in der Bewährungshilfe

 

In diesem vierten Gliederungspunkt meiner Diplomarbeit möchte ich nun auf die erlebnisorientierte Gruppenarbeit als Methode in der Arbeit mit Probanden der Bewährungshilfe eingehen. Aufgrund dessen stelle ich zunächst methodische Ansätze der Bewährungshilfe dar und überprüfe die Für und Wider einer Gruppenarbeit als Arbeitsmethode der Bewährungshilfe. Anschließend führe ich einige neue Entwicklungstendenzen in der Bewährungshilfe an, die für eine Veränderung der Arbeitsweisen sprechen und Reformen erforderlich und möglich erscheinen lassen.

 

 

4.1. Methodische Ansätze der Sozialarbeit in der Bewährungshilfe

 

Die Sozialarbeit als solche erfüllt zweierlei Funktionen. Einerseits versucht sie Menschen bei der Lösung ihrer sozialen und privaten Probleme behilflich zu sein, andererseits erfüllt sie eine gesellschaftliche Funktion, indem sie versucht, durch Anpassung von Individuen und Umverteilung von Ressourcen systemerhaltend zu wirken. Basis hierfür ist das Bestreben der Gesellschaft, den Einzelnen in seinen Problemen zu unterstützen und trotzdem das gewohnte System zu erhalten. (vgl. Sobottka, 1990, S. 17)

 

Hierzu möchte ich gerne noch die Aussage eines Bewährungshelfers anführen, der Sozialarbeit aus den Blickwinkel der Gesellschaft darstellt: "In den Augen der meisten sind wir Sozialarbeiter so etwas wie die Müllwerker der Nation. Man braucht sie, aber man zeigt sie nicht vor. Wie sie arbeiten, ist eigentlich jedem ganz egal, Hauptsache, sie schaffen uns den Abfall vom Halse!" (vgl. Schulze, 1990, S. 314)

 

Um die bereits genannten Hilfsangebote zu verwirklichen stehen der Bewährungshilfe die klassischen Methoden der Sozialarbeit zur Verfügung. Zu diesen klassischen Methoden gehört die soziale Einzelhilfe (social-case-work), die soziale Gruppenarbeit (social-group-work) sowie die Gemeinwesenarbeit (community-work).

 

Diese einzelnen Methoden haben einige Praxisrelevanz für die Bewährungshilfe:

Seit Einführung der Bewährungshilfe, 1953, hat sich ihre Arbeit traditionell als soziale Einzelhilfe entwickelt. Maßgeblich für diese Entwicklung ist wohl die namentliche Bestellung eines Bewährungshelfers durch das Gericht sowie seine Berichtspflicht gegenüber dem Gericht. Die Konsequenz hiervon ist, das die Maßnahmen immer wieder auf den Einzelfall bezogen durchgeführt werden. Daran ändert auch die heutige Erkenntnis über die ähnlich gelagerten Problemlagen der Probanden sowie das immer wieder an die Grenzen stoßen der eigenen Handlungsmöglichkeiten aufgrund der Vielzahl der Probanden und ihrer desolaten Lebenslagen nichts. (vgl. Maelicke, 1994, S. 21)

 

Die Gemeinsamkeit aller Konzepte sozialer Einzelfallhilfe besteht darin, daß mittels der Interaktion zwischen Sozialarbeiter und Klient eine sozialisierende Wirkung bei dem Klienten herbeigeführt werden soll. Die Einflußnahme auf den Klienten wird als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden und hat demzufolge zum Ziel, die Klienten zu befähigen, unabhängig von Sozialarbeitern sowie von staatlichen und privaten Hilfsinstitutionen und deren Leistungen, ihr Leben selber wieder in den Griff zu bekommen. (vgl. Sobottka, 1990, S. 23)

 

Die Methode der sozialen Einzelfallhilfe ist also primär auf die Veränderung des Klienten zentriert, sie läßt jedoch die Umweltbedingungen nicht gänzlich außen vor. Für den Sozialarbeiter hat dies zur Folge, daß im Einzelfall entschieden werden muß, ob der Klient alleine die Ressourcen besitzt, um mit einer belastenden Situation umzugehen oder ob er der Hilfe des Sozialarbeiters bedarf. Hier hinein fließt ebenfalls die Zusammenarbeit des Sozialarbeiters mit anderen Institutionen im Interesse des Klienten. Zwei Bereiche von Institutionen können hier unterschieden werden. Zum einen ist die Kontaktaufnahme mit Personen aus dem sozialem Umfeld der Klienten wie z.B. Familie oder Peer-group sehr wichtig im Rahmen von Verhaltens- oder Dispositionsänderungen des Klienten. Zum anderen wird Kontakt aufgenommen zu den verschiedensten sozialen Einrichtungen wie z.B. Sozialamt oder Arbeitsamt, um entsprechende Umweltbedingungen des Klienten zu verbessern. Diese Veränderungen der Umweltbedingungen sind aber immer auf den Einzelfall bezogen und niemals auf vom Einzelfall losgelöste Umwelt- und Strukturveränderungen. (vgl. Sobottka, 1990, S, 24)

 

Die weitverbreitetste Arbeitsmethode der sozialen Einzelfallhilfe ist die Beratung. Hinzu kommen neuere therapeutische Ansätze wie die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers und weitere verhaltenstherapeutische Konzepte. (vgl. Sobottka, 1990, S. 23)

 

Die zweite Methode der Sozialarbeit ist die soziale Gruppenarbeit. Sie spielt, wenn auch in geringerem Ausmaß, ebenfalls eine Rolle in der Arbeit der Bewährungshilfe.

Gruppenarbeit ist wie die soziale Einzelhilfe Individuum- und behandlungsorientiert. Ziel der Gruppenarbeit ist es, dem Einzelnen durch die Interaktionen in der Gruppe, Erfahrungen zu ermöglichen, welche bewußt und gesteuert bearbeitet werden können. Diese Interaktionen sollen dem Klienten helfen auch außerhalb der Gruppe ungestörte soziale Beziehungen zu unterhalten. (vgl. Sobottka, 1990, S. 24) Die methodische Ausrichtung der einzelnen Formen der Gruppenarbeit ist sehr facettenreich. Sie reicht von therapeutisch ausgerichteter Gruppenarbeit und Freizeitgruppenarbeit bis hin zu Formen, die themen- und problemorientiert arbeiten. Gruppenarbeit ist auf ieden Fall dazu geeignet, den Teilnehmern deutlich zu machen, daß Straffälligkeit und und soziale Problemlagen nicht als Einzelschicksale erlebt werden müssen. (vgl. Sobottka, 1990, S. 24)

 

Als dritte Methode der Sozialarbeit gilt in der Regel die Gemeinwesenarbeit. Gemeinwesenarbeit versucht abweichende Gruppen wieder in das Gemeinwesen zu integrieren und sie mit den Gegebenheiten wieder zu versöhnen. Dies geschieht nicht primär auf individueller Ebene, sondern vorrangig durch die Initiierung sozialer Prozesse, die in der Lage sind, eine Isolation des Einzelnen aufzuheben. (vgl. Sobottka, 1990, S. 25) Eine bedeutende Rolle in der Arbeit der Bewährungshilfe spielt die Gemeinwesenarbeit jedoch nicht.

 

 

4.2 Soziale Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe

 

Die Arbeitsweise der Bewährungshilfe in Deutschland hat sich als traditionelle Einzelhilfe entwickelt, obwohl derzeit aus den erwähnten Gründen Bedenken gegen diese Favorisierung bestehen. Bevor ich näher auf die soziale Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe direkt eingehe, möchte ich vorab noch einige generellen Aussagen zur Gruppenarbeit machen und stärker auf die Unterschiede zwischen Einzelhilfe und sozialer Gruppenarbeit eingehen.

 

Wolfgang Hinte gibt in seinen Ausführungen Hinweise, warum sich Reformen im sozialen Bereich häufig nur sehr schwer durchsetzen können, wie dies ja ähnlich auch im Falle der sozialen Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe gegeben ist.

Die Reformen scheitern seiner Meinung nach oft an den psychischen Strukturen der Menschen, die sich nach jahrelanger Arbeitsweise mit bestimmten Methoden einfach nicht auf etwas Neues einlassen wollen. Vorgeschoben für das Scheitern bestimmter Reformen werden häufig falsche Konzepte, schlechte Bedingungen und fehlende Ressourcen. Viele Professionelle - und dies trifft wohl auch auf Bewährungshelfer zu - tun sich einfach schwer damit, alte Standards zu verlassen und ihre Haltungen und Methoden, welche überwiegend auf Einzelkontakte ausgerichtet sind, umzuorientieren, beispielsweise auf Methoden der Gruppenarbeit oder der Gemeinwesenarbeit. (Hinte, 1990, S. 30)

 

 

Die Einzelhilfe einer institutionellen Sozialarbeit basiert meist auf gesetzlichen Grundlagen oder auf einer individuell empfundenen Notlage von Menschen, die dankbar sind für jede Form von Hilfe. Dies hat zur Folge, daß sich die soziale Arbeit hier auf mehr oder weniger akute Lebenslagen der Menschen konzentriert. Hinte führt ein sehr einleuchtendes Beispiel über die Situation des ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) an und versucht hiermit zu belegen, warum ein Sozialarbeiter des ASD überhaupt erst nicht auf die Idee kommt, an seine Arbeitsweise etwas ändern zu müssen. Die Beziehung zwischen dem Klienten und dem Sozialarbeiter des ASD ist charakterisiert durch eine Zwangslage des Klienten, der sich in einer sozialen Zusammenbruchsituation befindet und dem bei Verweigerung der Mitarbeit Sanktionen drohen, in welcher Form auch immer. Ein großer Teil der Aufgaben des ASD sind juristisch festgelegte Tätigkeiten, mit denen sich der Klient abfinden muß, wenn er Sanktionen entgehen will.

 

Diese Form der Tätigkeit hat für den Sozialarbeiter zur Folge, daß er so vor sich hin werkelt, ohne zu bemerken, daß es sinnvoll wäre an dieser Arbeitsweise etwas zu ändern. Er erhält von den Klienten kein Feedback und bemerkt aufgrund dieser Arbeitsweise Mängel überhaupt nicht. (Hinte, 1990, S. 30 ff) Vergleichbar ist die Situation des ASD, so wie Hinte sie hier vorgestellt hat, auch sehr gut mit der Situation der Bewährungshilfe, die ebenfalls einen Zwangscharakter besitzt und ein sich Einfügen des Probanden in die Gegebenheiten voraussetzt. Auch hier dürfte eine Reflexion des Bewährungshelfers aus den genannten Gründen schwierig sein. Deshalb wird vielleicht doch alles beim Alten bleiben, was die Arbeitsweise anbetrifft: "Vor allen Dingen kann ich auch vor mir selbst die Illusion erhalten, daß ich fachlich ganz gut arbeite und meinen Job ordentlich erfülle. Was jahrelang nicht klappt, das kann nicht schlecht sein." (Hinte, 1990, S. 33)

 

Die Kritik an traditionellen Arbeitsmethoden, wie der sozialen Einzelhilfe, kann hier jedoch nicht genügen, sondern ich möchte nun herausarbeiten, welche neuen Möglichkeiten die soziale Gruppenarbeit mit sich bringen könnte.

 

Die soziale Gruppenarbeit, in welcher Form auch immer, ist in der Regel von der Freiwilligkeit der Teilnahme gekennzeichnet, sei es die Teilnahme an einer Gesprächsgruppe im Gefängnis oder an einer Mädchengruppe im offenen Jugendhaus. Der Professionelle ist demnach viel stärker gefordert, seine Grundsätze wie z.B. Partnerschaftlichkeit, Hilfe zur Selbsthilfe, Akzeptanz und Lebensweltnähe zu verwirklichen und umzusetzen. Tut er dies nicht, so erfolgt eine Sanktion seitens der Gruppenmitglieder, die schlicht in der Teilnahmeverweigeung besteht. Der Professionelle muß hier also um den Kontakt mit seinen Klienten kämpfen, während er im Rahmen der institutionsgebunden Sozialarbeit immer ein Machtinstrument in der Hand hat, das ihm den Kontakt sicherstellt

 

Die Rolle des Sozialarbeiters in der Gruppenarbeit ist nicht die des klassischen Helfers, dessen Hilfeleistung inhaltlich  zunächst relativ festgelegt ist, sondern seine Rollen sind vielfältiger und richten sich nach den situativen Gegebenheiten. In der Gruppenarbeit wird bedeutend mehr Nähe vom Sozialarbeiter zu realisieren sein, als in der sozialen Einzelhilfe, da hier keine vorgeprägte Rollenstruktur besteht. Der Sozialarbeiter begibt sich  in der sozialen Gruppenarbeit in die Rolle des Lernenden. Die Normen werden hier von der Lebenswelt der Klienten bestimmt. Der Klient muß sich nicht, wie manchmal in der sozialen Einzelhilfe, an die Normen und Regeln der Profis anpassen, um etwaige Hilfeleistungen zu erhalten. Die Akzeptanz des Sozialarbeiters durch die Lebenswelt der Gruppenmitglieder erfolgt in der Regel erst nach einer Reihe von kontakterschließenden und kontakterhaltenden Vorleistungen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Einzelfallhilfe eine gute Möglichkeit bietet sich hinter einer Bastion von psychischer, methodischer und institutioneller Sicherheit zu verschanzen, womit nicht gemeint ist, daß dies bei allen Einzelfallhelfern der Fall ist. Einzelkontakte können wohlgemerkt auch völlig anders aussehen. Festzuhalten bleibt jedoch, daß gerade die behördliche Sozialarbeit wie z.B. das Jugendamt oder das Sozialamt sowie demzufolge die auch Bewährungshilfe einen Raum bieten, in dem es unter Umständen sehr schnell zu einer persönlichen Distanzierung und zu einer in Motivationslosigkeit ausartenden Routine kommen kann.

 

In der Gruppenarbeit gibt es keine schematisch vermittelbaren methodischen Ansätze. Dies liegt daran, daß eine Gruppe ein komplexes Gebilde darstellt, welches aus Individuen mit jeweils unterschiedlichen lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründen und unterschiedlichsten Bedürfnissen der Einzelnen besteht. Die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander ändern sich auch ständig, die Gruppe ist also durch eine gewisse Eigendynamik gekennzeichnet, die nur schwer kalkulierbar ist. Fest steht also, eine Gruppe ist kein statisches Gebilde, sondern sie entwickelt sich ständig weiter, auch ohne jegliches Zutun der Professionellen.

 

Die Frage nach Anhaltspunkten für das Handeln in der Gruppe sind hiermit jedoch nicht beantwortet, deshalb werde ich nun Hinte folgend, die bekanntesten Prinzipien vorstellen: Für Hinte bestehen sie in erster Linie im Ansatz bei der Betroffenheit und einer Akzeptanz der Eigenständigkeit der Gruppenmitglieder. D.h. die Teilnehmer sollen möglichst viel selber machen und mit ihren Stärken arbeiten. Hieraus lassen sich dann folgende Handlungsansätze ableiten:

 

- Bedürfnisse und Interessen der Gruppenmitglieder klären

- die jeweilige Situation mit den Gruppenmitgliedern analysieren

- die nächsten Schritte immer gemeinsam mit den Teilnehmern besprechen

- aufmerksam zuhören, eigene Beobachtungen mitteilen und Ressourcen anbieten

- bei Konflikten behilflich sein

- über die Befindlichkeit einzelner Gruppenmitglieder reden u.v.a.m.

 

Merkmale wie Besonnenheit, Respekt, Präsenz, Akzeptanz, Solidarität und Unbefangenheit sowie Spontaneität charakterisieren für Hinte einen guten Gruppenarbeiter, hinzu kommen selbstverständlich noch das Wissen um Abläufe in Gruppen und Gruppenstrukturen, die Kenntnis und Beherrschung von Interaktionsspielen sowie Klärungshilfen und Moderationstechniken. (Hinte, 1990, S. 33 ff)

 

Die oben angeführten allgemeinen Anmerkungen zur sozialen Gruppenarbeit ließen sich auch auf eine Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe übertragen und gelten unter Umständen auch, was für meine Arbeit entscheidender ist, für eine erlebnisorientierte Gruppenarbeit.

 

Seit der Einführung der hauptamtlichen Bewährungshilfe in Deutschland im Jahre 1953, wurde Gruppenarbeit zwar sporadisch durchgeführt, hat sich jedoch nie auf breiter Ebene durchsetzen können, obgleich sie als Chance gesehen wird, dem Sozialisations- und Hilfeaspekt mehr Bedeutung beizumessen. Der gesetzliche Rahmen sagt zwar nichts über die inhaltliche Ausgestaltung der Bewährungshilfe aus, demzufolge stehen den Bewährungshelfern sämtliche Elemente des Interventionsrepertoires der Sozialarbeit zur Verfügung. In der Praxis hat sich bislang jedoch lediglich die Einzelhilfe durchsetzen können.

Die bereits mehrfach erwähnte Ausweitung der Voraussetzungen für die Anwendung der Bewährungshilfe hat zur Folge, daß immer neue Tätergruppen in die Arbeit miteinbezogen werden müssen. Folglich wäre hier nun eine differenziertere Diagnostik und Betreuung notwendig, deren Weiterentwicklung bisher jedoch sehr vernachlässigt worden ist. Festgehalten wurde im Gegenteil an der traditionellen Methode der sozialen Einzelhilfe, ohne ihre Wirksamkeit und Angemessenheit zu hinterfragen.

 

Neben der sozialen Einzelhilfe wurden hin und wieder andere Ansätze probiert, wie z.B. die Gesprächstherapie, Familientherapie sowie die Verhaltenstherapie, abhängig waren sie jedoch immer vom Einsatz und der Motivation des jeweiligen Bewährungshelfers. Ähnlich ist dies mit der sozialen Gruppenarbeit, die immer nach vereinzelten Versuchen nach gewisser Zeit wieder eingestellt wurde.

 

Wodurch entstand diese Vernachlässigung der Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe?

Die Gründe sind verankert in individuellen und institutionellen Widerständen. Zum Einen fühlen sich die Bewährungshelfer nicht genügend ausgebildet zur Durchführung einer Gruppenarbeit und zum Anderen wird ihre Fallüberlastung als Hinderungsgrund angegeben. Hinzu kommen noch Befürchtungen, Probanden könnten sich in der Gruppe kriminell infizieren und würden eine Gruppenarbeit sowieso ablehnen. Häufig ist auch die Erscheinung zu beobachten, daß Bewährungshelfer sich von ablehnenden Haltungen der Kollegenschaft, der Verwaltung sowie der Richter von ihren Unternehmungen abhalten lassen. Lippenmeier und Sagebiel führen des weiteren an, daß eine Institution wie die Bewährungshilfe mit ihrer Größe und Tradition mit der Zeit dazu neigt, Bestehendes zu bewahren und Veränderungen, die das alte Gleichgewicht ins Wanken bringen könnten, im Vorfeld abzublocken. In ihren weiteren Ausführungen gehen Lippenmeier und Sagebiel konkret auf eine problemorientierte Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe ein, um dann später mit der Beschreibung des Projektes "Arbeitskreis Gruppenarbeit mit Probanden, Berlin" fortzufahren.

 

Im Hinblick auf das Thema meiner Diplomarbeit werde ich nun nur noch auf die problemorientierte Gruppenarbeit mit Probanden eingehen und die Projektbeschreibung aussparen.

 

Die problemorientierte Gruppenarbeit wird von vielen Praktikern, die damit ihre Erfahrungen gemacht haben, als geeigneter Ansatz angesehen, um zur Lösung von personalen und sozialen Problemen Straffälliger beizutragen. Die Autoren Lippenmeier und Sagebiel verweisen in diesem Zusammenhang auf die Chancen, die diese problemorientierte Gruppenarbeit bietet. Demzufolge bleibt hier der soziale Bezug zwischen Sozialarbeiter und Klient nicht isoliert, wie im Falle der sozialen Einzelhilfe, sondern ist eingebunden in einen Gruppenprozeß, der für den Einzelnen eine wichtige Stütze darstellt. Der Gruppe als sozialem Lernfeld wird eine größere Bedeutung für das Nachholen ausgefallener Lernprozesse beigemessen, als dies im Rahmen einer isolierten Beziehung zu einer Einzelperson möglich wäre.

 

Ein weiteres Argument für die Gruppenarbeit mit Straffälligen ist laut Lippenmeier und Sagebiel, daß in den meisten Erklärungsansätzen zur Kriminalitätsentstehung die Bezugsgruppe eine entscheidende Rolle spielt. Als Beispiele hierfür werden die Bandentheorien von Cohen, die Theorie der Unterschichtsubkultur sowie die Theorien der differentiellen Assoziation genannt und es wird die Aussage gemacht, daß eine Zugehörigkeit zu Randgruppen wie z.B. Obdachlosen, Rockern und Heimzöglingen eine erhöhte Chance darstellen, kriminalisiert zu werden. Für den Bereich der Jugendkriminalität gehen die Autoren noch gesondert auf die Bedeutung von Gleichaltrigengruppen, sogenannten peergroups ein. Die peergroup zur Erklärung von Jugendkriminalität findet ihre Bedeutung darin, daß ca. 80% jugendlicher Straftaten gemeinschaftlich ausgeführt werden.

 

Es stellt sich nun die Frage, was die problemorientierte Gruppenarbeit oder die Gruppenarbeit generell für Chancen in der Praxis der Bewährungshilfe bieten könnte und was gerade an dieser Methode so wichtig für die Gruppe der Straffälligen ist?

Auch zu dieser Frage geben die Autoren Lippenmeier und Sagebiel einige Antworten.

Die Bedeutung der problemorientierten Gruppenarbeit liegt zum Einen darin, daß sie in der Lage ist die Effektivität der Bewährungshilfe zu erhöhen, da sie eine angemessene Reaktion auf die soziale Situation der Straffälligen darstellt. Zum Anderen stellt diese Methode natürlich eine Erweiterung und Intensivierung des Hilfsangebotes in der Bewährungshilfe dar, welche sich durch folgende Charakteristika von den traditionellen Methoden abhebt:

  

- die Probandengruppe bietet dem Einzelnen ein Lernfeld, in dem er seine Selbständigkeit erproben kann

- die Gruppenmitglieder müssen lernen auf der Basis inhaltlicher Auseinandersetzungen gemeinsame Entscheidungen zu treffen und diese in die Praxis umzusetzen

- die Gruppe bietet die Möglichkeit, sich persönlich zu akzeptieren, sich wohlzufühlen und sich auch emotional zu äußern

- die Gruppe ist in der Lage, ein Medium für die Vermittlung von Meinungen, Informationen und Hinweisen darzustellen

- aufgrund der Eröterung vielfältiger Alltagsfragen können Techniken zur Selbsthilfe vermittelt und eingeübt werden

- desweiteren bietet die Gruppe auch eine Möglichkeit zur Weitergabe kreativer Feizeitgestaltungsangebote

 

Die Gruppenarbeit hat neben den qualitativen Vorteilen, daß ähnlich gelagerte Problemlagen dadurch effektiver bearbeitet werden können, da die Probanden zu Mitberatern werden, auch den quantitativen Aspekt, daß der Bewährungshelfer mehrere Probanden gleichzeitig erreichen kann.

Wie alles hat natürlich auch die problemorientierte Gruppenarbeit immer zwei Seiten d.h. sie besitzt auch eine Schattenseite. Ein häufig angeführtes Argument gegen die Effektivität dieser Methode ist die negative Fixierung, die hier auf ein Problem erfolgt. Das hat wiederum zur Folge, daß die positiven Möglichkeiten der Probanden mitunter zu wenig Beachtung finden. Von einigen Autoren werden handlungs- und erlebnisorientierte Ansätze favorisiert mit dem Argument sie entsprächen eher den Verbalisierungsmöglichkeiten der Probanden.

 

Abschließend zu diesem Punkt möchte ich noch einige Argumente von Lippenmeier und Sagebiel anführen, die für ein Umdenken der Arbeitsmethoden in der Bewährungshilfe sprechen, unabhängig von der Form dieser Methode. Den Autoren zu Folge kann es bei den gravierenden Problemlagen der Probanden in zentralen Lebensbereichen nicht genügen, sich an altbewährte Methoden zu klammern. Auch die problemorientierte Gruppenarbeit reicht hier nicht aus, es müssen demnach noch weitergehende Angebote bereitgestellt werden. Eine künstlich konstruierte und zwanghafte Betreuungssituation sollte durch konkrete Lebensbezüge der Probanden unter Einbeziehung natürlich gewachsener Beziehungen ausgebaut werden, um effektiver wirken zu können. Als Alternativen werden hier familientherapeutische Angebote sowie Gemeinwesenarbeit und Selbsthilfegruppen angeführt. Der Knackpunkt besteht also in der Aufhebung der Distanz zur Lebenswelt der Probanden, um dort gezielter Probleme bearbeiten und lösen zu können, wo sie entstehen. Entscheidend ist dafür eine Umorientierung der Bewährungshilfe in Richtung Mobilisierung der Eigenkräfte der Probanden und ihrer Umwelt. (vgl. Lippenmeier/Sagebiel, 1983, S. 50 ff)

 

 

4.3 Erlebnispädagogik mit Randgruppen

 

Unter diesem Gliederungspunkt möchte ich der Frage nachgehen, warum Erlebnispädagogik häufig mit Randgruppen wie z.B. mit Heimkindern, Straffälligen, Kindern und Jugendlichen in der Erziehungshilfe etc. durchgeführt wird. Ist denn Erlebnispädagogik eine Methode die greifen soll, wenn bereits alle anderen Hilfemaßnahmen versagt haben?

 

Jörg Ziegenspeck, der als Neubegründer der Erlebnispädagogik in der Bundesrepublik Deutschland gilt, erklärt hierzu, daß einerseits mit erlebnispädagogischen Projekten eine vorbeugende Breitenwirkung erzielt werden soll, was zur Folge hat, daß sie eine Methode für viele Zielgruppen darstellt. Auf der anderen Seite wird Erlebnispädagogik aber häufig dort eingesetzt, wo die Betroffenen bereits in den berühmten Brunnen gefallen sind und diese Zielgruppe ist überwiegend im Umfeld der sozialen Brennpunkte zu finden. In der Praxis sieht das nach Ziegenspeck jedoch so aus, daß beide Bereiche, die Vorbeugung und das Heilen bereits entstandener Schäden, unterschiedlich gewichtet sind. Seiner Meinung nach reichen die finanziellen Mittel nicht aus, um der medizinischen Weisheit, daß Vorbeugen effektiver ist als Heilen, auch einen erzieherischen Wert zu verleihen. Daraus resultiert, daß Erlebnispädagogik sich weiterhin überwiegend auf die Problemfälle in den Randregionen unserer Gesellschaft beziehen wird, was der Methode der Erlebnispädagogik natürlich einen sehr hohen Anforderungscharakter impliziert, dem sie oft nur schwerlich gerecht werden kann. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S. 111) Nach den Ausführungen von Bauer und Nickolai zum Thema Erlebnispädagogik und Randständigkeit leben wir in einer Gesellschaft, die selbst immer mehr und neue Ränder produziert. Auf der Suche nach Scheinmitten und Scheinsicherheiten werden ihrer Meinung nach unangenehme Gefühle wie Angst und Trauer gemieden und den Wunsch nach einer völligen Plan- und Kontrollierbarkeit des Lebens, versucht man höchsten mit gekauftem, gepäckversichertem und organisiertem Abenteuer etwas Spannung zu verleihen. Eine so geartete Gesellschaft grenzt alles wirklich Spannungsbezogene als Störfall aus und definiert es einer anderen Welt zu, die nicht mit ihrer eigenen zu tun hat. Bauer und Nickolai vertreten weiterhin die Ansicht, daß diese Randgruppen einerseits randständig sind, andererseits jedoch auch zentral, da sie die inneren Ränder unserer Gesellschaft markieren. Gerade an diesen Rändern unserer Gesellschaft ist die Erlebnispädagogik heute überwiegend aufzufinden, dort nämlich, wo Polaritäten und Spannungen nicht mehr ausgehalten und gelebt werden und wo positive Entwicklungen nicht mehr ohne fremde Hilfen in Gang gesetzt werden können. Die Erlebnispädagogik hat demnach ihre Aufgabengebiete dort, wo es zu Desintegrationserscheinungen gekommen ist, wo Verwahrlosungsformen schichtspezifischer und schichtübergreifender Art auftreten und wo es zur Normabweichung sowie zu psychosomatischen und sozialen Erkrankungen und zu Grenzüberschreitungen kommt. Zusammenfassend kann man hier sagen, daß überall dort, wo der individuelle und gesellschaftliche Organismus aus dem Gleichgewicht geraten ist, Elemente der Erlebnispädagogik angetroffen werden, die dieses Gleichgewicht wieder herstellen sollen. ( Bauer/Nickolai, 1989, S. 25 f)

 

Die Probanden der Bewährungshilfe stellen genau einen solche Randgruppe dar, mit der ebenfalls die Erprobung der Methode der Erlebnispädagogik in vielen Bereichen durchgeführt wird, wenn auch in geringerem Maße als mit anderen Randgruppen. Ich möchte nun der Frage nachgehen, was die Gruppe der Straffälligen charakterisiert und welche Gründe gerade für eine Erlebnispädagogik mit ihnen sprechen.

 

Die katholische Jugendfürsorge in München führt seit Anfang der 80er Jahre soziale Trainingskurse mit Jugendlichen im Rahmen einer Weisung nach § 10 JGG oder einer Bewährungsauflage durch. Die Besonderheiten der Zielgruppe jugendlicher Straffälliger besteht hier darin, daß sie in vielen Lebensbereichen eine Anhäufung von Mißerfolgen erlebt haben. Dies manifestiert sich hauptsächlich in unvollständigen Familien mit häufig wechselnden Bezugspersonen, in körperlicher Gewalt, Alkohol, in geringer Leistungsfähigkeit sowie in vorzeitigen Schul- und Lehrabbrüchen. Den oft einzigsten Halt erhalten diese Jugendlichen im Rahmen von Gleichaltrigengruppen, in deren Subkultur oftmals Alkohol und Drogen an der Tagesordnung sind. Das Lebensgefühl diese Jugendlichen ist häufig gekennzeichnet von der Suche nach lustvollen und erlebnisreichen Höhepunkten, deren Erlebnisintensität mit der Zeit eine Steigerung erfahren muß. Das oberste Ziel dieser Jugendlichen ist demnach die Suche nach Lustgewinn in ihrem Leben und ihre eigene mangelnde Handlungskompetenz führt zu einer Senkung der Hemmschwelle und zu unreflektiertem Handeln.(vgl Bürger, 1994, S.168 f) Werner Nickolai bestätigt und erweitert diese Annahmen ebenfalls in seinen Ausführungen zur Erlebnispädagogik mit Randgruppen. Er erläutert, daß neben den fehlenden und bruchstückhaften sowie abgebrochenen Schul- und Berufsausbildungen der straffälligen Jugendlichen insbesondere auch die gestörten sozialen Beziehungen und die mangelhafte Fähigkeiten zur Ausgestaltung der eigenen Freizeit Faktoren sind, die mitschuldig an der bisherigen Entwicklung dieser Jugendlichen sind. Die in der Justizvollzugsanstalt Adelsheim geführte Sozialstatistik in den Jahren 1976 -1978 macht diese Häufung der sozialen Problem- und Mängellagen der Insassen nochmals sehr deutlich. Demnach stammen etwa 50% der Gefangenen aus strukturell unvollständigen Familien, 43% weisen Heimaufenthalte auf und ca. 50% hatten bereits vor dem 14. Lebensjahr Kontakte zur Polizei und zum Jugendamt. Des weiteren sind 79% ohne Berufsabschluß und 89% waren arbeitslos und davon etwa 50% bereits länger als sechs Monate. Eine Münchener Studie zur Jugendstrafe an 14 - 15 Jährigen bestätigt diese Angaben ebenfalls. Demnach kommt die Hälfte der Jugendlichen aus unvollständigen Familien, über 90% besitzen keinen Schulabschluß, ca. zwei von fünf Jugendlichen besuchten die Sonderschule und 60% waren vorher schon einmal der öffentlichen Erziehung unterstellt. Verhaltensauffälligkeiten waren die Regel.

 

Neben diesen sozialstrukturellen und sozialpsychologischen Gründen, die zur Straffälligkeit führen können, darf ein wesentliches jugend- und entwicklungspsychologisches Element nicht unberücksichtigt bleiben. Demzufolge steht nämlich gerade hinter vielen kriminellen Handlungen auch das Bedürfnis nach Abenteuer in Verbindung mit der Notwendigkeit aktiv Erfahrungen sammeln zu müssen, um zu erfahren welche Spielräume und Grenzen gegeben sind. Die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse lassen immer weniger Spielraum für solche Erfahrungen und die Tendenz zur Kriminalisierung der Aktivitäten steigt ständig. Der Erlebnishunger der Jugendlichen verstärkt sich häufig im Rahmen von Gleichaltrigengruppen und die sogenannte Bandenkriminalität wird oft als fehlgeleitete Suche nach Abenteuer interpretiert.

 

Geht man nun einmal davon aus, daß diese Jugendlichen in Strafhaft genommen werden, so wird deutlich, daß hier zwar schulische und berufliche Ausbildung im Vollzug geleistet werden kann, ob aber der Jugendstrafvollzug seinem erzieherischen Auftrag gerecht werden kann, bleibt fraglich. Vollzugsanstalten sind totale Institutionen mit einem totalen Versorgungssystem, die weder in der Lage sein werden Erlebnisfelder zu eröffnen, in denen gestörte soziale Beziehungen oder die Unfähigkeit, mit der Freizeit umzugehen, bearbeitet werden können, noch pädagogische Werte wie Selbständigkeit, Verantwortungsgefühl und Eigeninitiative vermitteln können. Gerade die Erlebnispädagogik bietet hier einen Chance, Situationen zu schaffen, in denen Jugendliche aber auch Erwachsene Erlebnisse mit sich, mit anderen Menschen und mit der Natur machen können, die in Alltagssituationen nicht möglich sind.

 

Vor allen Dingen hat die Erlebnispädagogik im Strafvollzug deutlich gemacht, daß Freizeitaktivitäten mit den Gefangenen zu wertvollen Kontakten mit den Menschen draußen geführt haben und die Reaktionen der Umwelt haben wichtige Impulse zur Korrektur von Fehlverhalten geliefert, da Kritik und Anregungen von Außenstehenden und der Umwelt einen größeren Einfluß ausgeübt haben, als die Anstrengungen seitens des Vollzugspersonals innerhalb der Anstalt. (vgl. Nickolai, 1991, S. 39 ff)

 

Stephan Quensel befaßt sich in seinen Ausführungen über eine alternative Pädagogik für sozial behinderte Jugendliche ebenfalls mit den Gründen, die für eine erlebnispädagogisch ausgerichtete Arbeit mit Straffälligen sprechen und die ich deshalb im folgenden kurz darstellen möchte.

 

Quensel beginnt seine Ausführungen, indem er darauf hinweist, daß man in der professionellen Arbeit versuchen sollte, die positiven Seiten der Klienten, wie z.B. Fähigkeiten und Kontakte weiterzuentwickeln, anstatt ständig seine Aufmerksamkeit auf negativen Seiten zu richten. Dies mag gerade bei Straffälligen etwas befremdend wirken, denn die Professionellen in der Praxis sind in der Regel stärker darauf ausgerichtet in jeder Diagnose eine Störung aufzuzeigen und ihre Gutachten über die Klienten auf der Basis einer Aneinanderreihung von negativen Eigenschaften und Vorkommnissen aufzubauen. Nach Quensel ruft gerade die Suche nach negativen Eigenschaften und Schwierigkeiten diese besonders ins Bewußtsein und kann sich im Endeffekt in das unbeabsichtigte Gegenteil kehren, wie dies z.B. der Labeling-Ansatz deutlich aufzeigt. Geht man nun davon aus, daß die Suche nach den positiven Eigenschaften und Seiten der Klienten genau die gleiche Wirkung erzielt, so könnten dann diese betont und hervorgehoben werden und die anderen ins Abseits abgedrängt werden. Fest steht, daß alle diese Jugendlichen solche positiven Seiten besitzen und wenn es sich nur um die Versiertheit auf bestimmten technischen Gebieten oder um das Musizieren auf einer Gitarre handelt. Des weiteren besitzen diese Jugendlichen auch häufig noch Kontakte, die es weiter auszubauen gilt und denen der Profi nicht gerecht wird, wenn er sie als negative Einflußvariablen abtut. Sozialarbeit hat in den Augen Quensels demnach die Aufgabe, die bestehenden Negativdefinitionen bei sich und auch in den Augen der Betroffen umzukehren und zu erkennen, wie stark sie sich aus der Umwelt Betroffenen ergeben und wo wieder angesetzt werden kann um, Fortschritte zu machen. Ein pädagogischer Ansatz, der orientiert ist am Abenteuerkurs und am sportlichen Erlebnis wäre geradezu ideal, um die Jugendlichen einerseits aus ihrer alltäglichen Erfahrungswelt herauszunehmen und andererseits an den Fähigkeiten anzusetzen, die ihnen sowieso näher liegen, um dann später auch an die Lösung der Probleme heranzugehen, die übrigbleiben und von den Betroffenen auch selbst als Probleme erlebt werden.

 

Als weiteres Prinzip im Umgang mit delinquenten Jugendlichen nennt Quensel die Betonung der Fähigkeiten, im praktischen Bereich anstatt im verbalen Bereich ständig über Probleme zu diskutieren, um auf diesem Wege Fähigkeiten zu deren Lösung zu entwickeln. Ausgehend von der Annahme, daß die Mehrzahl der Betroffenen aus sozial mehr oder weniger benachteiligten Familien stammen und schon immer Schulstörungen aufwiesen und aufgrund dessen bereits einschlägige Erfahrungen mit Pädagogen gemacht haben, die sie vernommen, kontrolliert, Anamnesen erstellt und sie befragt und interviewt haben. Es ist nachvollziehbar, daß die Jugendlichen mittlerweile die Lust verloren haben, ständig zu reden und von ihren Unfähigkeiten, Fehlern und Problemen zu berichten. Hinzu kommt noch der Bewegungsdrang, den Jugendliche aufweisen um ihren eigenen Körper auszuprobieren und die Tatsache, daß sie oft bedeutend handwerklicher begabt sind als dies von den Professionellen angenommen wird, selbst wenn ihre Begabung darin besteht, in kürzester Zeit ein Auto zu knacken, ist eine Begabung nicht von der Hand zu weisen. Der Lebenswelt dieser Jugendlichen würden aus all diese Gründen einer eher handwerklich- und körperorientierter Ansatz entsprechen, da diese Aktivitäten ihnen eher geläufig sind und nicht allzu viele Vorkenntnisse verlangen. Ist somit erst einmal eine Basis geschaffen, um mit den Jugendlichen zu arbeiten, so kann im Laufe der Zeit auch immer ein Stück weiter vorangegangen werden.

 

Eine weitere Voraussetzung für die Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen ist nach Quensel die Normalisierung der Bziehungen der Jugendlichen zu ihrer Umwelt sowie zu den Pädagogen. Die sozialen Beziehungen der Jugendlichen zu ihrer Umwelt sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, daß sie dort als verwahrlost und kriminell gelten und sich häufig auch entsprechend verhalten. Die Beziehungen zur Umwelt sind also als gestört aufzufassen. Insbesondere drückt sich diese Störung in den Beziehungen zu Erwachsenen, wie z.B. zu Eltern, Lehrern, Lehrherren, Polizisten, Richtern, Sozialarbeitern und anderen aus, die zwar immer deklarieren, nur das Beste für die Jugendlichen zu wollen, dieses Beste jedoch oft dann in den Augen der Betroffenen in einer Bestrafung  besteht. Eine alternative Pädagogik ist hier gefordert, einen Teil dieser Beziehungen zu normalisieren, die an den Störungen beider Seiten leiden und Möglichkeiten für die Jugendlichen zu eröffnen, neue Kontakte und Beziehungen zu knüpfen. Den Jugendlichen sollte aufgezeigt werden, wie sie selbst auch völlig anders als bisher aufgenommen und anerkannt werden können und zwar immer dann, wenn sie in der Lage sind, etwas den Anderen anbieten zu können. Dies gilt auch in besonderem Maße für den erwachsenen Pädagogen, der ebenfalls etwas anbieten sollte, aber auch mal Fehler machen darf, einmal unterlegen sein kann und von den Betroffenen auch etwas annehmen sollte. Der Sport und sämtliche erlebnispädagogischen Aktivitäten bieten eine ideale Gelegenheit, gemeinsam Siege zu feiern und Niederlagen zu ertragen.

 

Als viertes Prinzip seiner Ausführungen weist Quensel auf die Gruppenbeziehungen der Jugendlichen hin, die gerade in dieser Altersphase eine ganz entscheidende Rolle spielen, da Jugendliche von ihr ihre Wertschätzung beziehen, akzeptiert werden und sich aus dieser Gruppe definieren. Gruppenbeziehungen, so Quensel, haben den Jugendlichen seit seiner Kindheit geprägt in Schulklassen, in der Clique oder in Straßenbanden. Eine alternative Pädagogik muß gerade die Kontakte zu Gleichaltrigen und ihre Rollen im täglichen Miteinander betonen und sollte nicht ständig in der individuellen Kindheit des Einzelnen und seiner Psyche hängen bleiben. Es steht zwar fest, daß die Störungen der Jugendlichen bereits in ihrer Kindheit begonnen haben, sie werden jedoch im Laufe der Jahre immer wieder durch negativ erlebte Sozialbeziehungen verstärkt. Deshalb ist es sinnvoll im Hier und Jetzt der Betroffenen anzusetzen. Gerade diese Gruppenbeziehungen können im Sport und in erlebnispädagogischen Maßnahmen hervorragend gepflegt werden, dies reicht von der Paarbeziehung beim Judo über Gruppenspiele im Wasser bis hin zu einer mehrwöchigen Tour im Rahmen einer Hüttenwanderung.

Im Weiteren versucht Quensel, die Situation unserer Gesellschaft zu beschreiben, die einerseits für ihn gekennzeichnet ist von hohen beruflichen Qualifikationen und struktureller Arbeitslosigkeit und andererseits vom steigenden Stellenwert der Freizeit und ihrer Gestaltungsmöglichkeiten. In einer solchen Situation ist seiner Meinung nach eine Pädagogik fehl am Platze, die übertriebene Arbeits- und Pflichtforderungen an ihre Klientel stellt. Für viele der delinquenten Jugendlichen ist die Chance in dieser Zeit relativ gering, noch einmal im Arbeitsprozeß voll anerkannt zu werden aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Ausgangsposition. Deshalb sollte eine alternative Pädagogik zuersteinmal am Gegebenen ansetzen und den Jugendlichen zu vermitteln versuchen, wie sie ihre Freizeit sinnvoll gestalten können und wie sie mit Arbeitslosigkeit umgehen können. Vorrangig ist, ihnen zu zeigen, daß es Spaß und Freude bereitet, in dieser Welt zu leben und daß es sich auch lohnt, etwas zu tun. Entscheidend ist hier, den Jugendlichen die Angst vor dem Neuen zu nehmen und sie anzuspornen, etwas Neues auszuprobieren und ihre Fähigkeiten zu trainieren. Im Freizeitsport können diese Jugendlichen solche Erfahrungen sammeln, können lernen, an inneren und äußeren Widerständen zu arbeiten und sich selbst weiterentwickeln, indem sie an sich selber arbeiten.

Wie bereits erwähnt ist das Leben delinquenter Jugendlicher häufig geprägt von Mißerfolgen und Rückschlägen, gerade in den Augen derer, die für sie wichtig waren. Die einzigen Erfolgserlebnisse verbuchen sie meist aufgrund ihres abweichenden Verhaltens, was jedoch häufig nur von kurzer Dauer ist, was Kontakte mit der Polizei und der Justiz ja offensichtlich werden lassen. Die Folge hiervon ist, daß die Jugendlichen nur ein sehr geringes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl besitzen und vor allen Dingen auch ein großes Mißtrauen gegen sich selber hegen. Das typische Therapeuten und Sozialarbeiter-Verhalten, das in der Regel fixiert ist auf Fragen nach Problemen und Mißerfolgen der Klienten, unterstreicht genau diese schlechten Seiten des Klienten und seine Meinung über sich selber. Das Lernen sollte hier deshalb auf kleinen, mehr oder weniger mühsamen Stufen beruhen, auf denen zuerst in Begleitung und später selbständig Erfolgserlebnisse gesammelt werden können und ein Ausbruch aus der Mißerfolgsspirale vollzogen werden kann. Erlebnispädagogische Aktivitäten bieten die Möglichkeit, solche Erfolgserlebnisse zu sammeln zu, sei es im Training, in sozialen Kontakten oder in der Beherrschung und dem Ausbau eigener körperlicher Fähigkeiten. Hier kann gelernt werden, Niederlagen auszuhalten und Vertrauen zu sich selbst und vor allen Dingen zu anderen zu finden. Aussprachen über Probleme und Ängste der Betroffenen ergeben sich nebenbei und haben keinen künstlichen Charakter.

 

In der Regel ist es so, daß straffällige Jugendliche weitgehend verwaltet werden in einem System von Regeln und einem Behördenapparat, der nicht ihre Sprache spricht. Es werden Entscheidungen über sie getroffen, ohne daß die Jugendlichen dazu befragt werden und ähnliches, kurz, sie werden zu unselbständigen Kindern und Objekten degradiert. Diese Jugendlichen haben weder gelernt, eine Sache von langer Hand zu planen, abgesehen vielleicht von ihren abweichenden Taten, noch haben sie gelernt, Regeln zu setzen und für sich und andere verantwortlich zu sein. Sicherlich geht es auch in den Strafanstalten oder ambulanten Maßnahmen der Straffälligenhilfe um die Vermittlung pädagogischer Werte, wie z.B. Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Beständigkeit und Verantwortung, doch all dies lohnt sich doch nur, wenn man am Ende ein wenig Anerkennung dafür erhält. Ohne realistische Möglichkeiten, diese Werte auch  in die Praxis umzusetzen, bleibt all dies eine bloße Dressur ohne jeglichen Effekt. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit Geld während der Strafhaft. Die Gefangenen können den Umgang damit im Vollzug kaum erlernen, weil man ihnen das Geld zum größten Teil vorenthält. Nach der Entlassung hofft man jedoch, daß sie nun besser als vorher damit umgehen können. Im Bereich der Freizeitaktivitäten und des Sportes besteht die Möglichkeit solche Werte auch praktisch zu erproben, wie z.B. Spielregeln zu folgen, eine Sportaktivität zu organisieren oder eine Mannschaftsaufstellung zu planen. Des weiteren kann während einer Gebirgswanderung erfahren werden, was es heißt, sich aufeinander zu verlassen und für andere auch mal Verantwortung übernehmen zu müssen. (vgl. Quensel, 1991, S. 11 ff)

 

Quensel spricht in seinen Ausführungen stärker von Jugendlichen, die bereits in Strafhaft waren oder gerade dort sind und versucht hier Anregungen für eine alternative Pädagogik im Vollzug zu geben, die von der herkömmlichen Situation abweicht. Um dies zu untermauern greift, er auf die Vorgeschichten der Jugendlichen zurück und versucht herauszuarbeiten, warum gerade für diese Zielgruppe eine erlebnispädagogisch ausgerichtete Arbeitsweise sinnvoll wäre.

 

Ich habe die Ausführungen von Quensel in meine Arbeit übernommen, da ich denke, daß diese auch sehr gut übertragbar sind auf die Situationen der Probanden in der Bewährungshilfe. Die Vorgeschichten der jugendlichen Strafgefangenen sind meiner Meinung nach auch durchaus vergleichbar mit denen der Probanden der Bewährungshilfe, seien es nun Jugendliche, junge Heranwachsende oder Erwachsene. Deshalb bin ich der Ansicht, daß die Ausführungen von Quensel durchaus ein Plädoyer darstellen, die erlebnispädagogische Arbeitsweise in der Bewährungshilfe durchzuführen, denn auch hier ist die Erfahrung von Mißerfolgserlebnissen ausgeprägt, die praktische Umsetzung vermittelter Werte hat so gut wie keinen Stellenwert und das ständige sprechen über Problemlagen läßt positive Eigenschaften der Probanden völlig in den Hintergrund treten.

 

 

4.4 Straffälligenhilfe und Erlebnispädagogik

 

Die geschichtliche Entwicklung der Erlebnispädagogik hat verdeutlicht, daß diese keinen Modererscheinung unserer Zeit ist, sondern auf eine sehr lange Geschichte zurückgeht kann. In den letzten zehn Jahren ist sie jedoch wieder besonders populär geworden, was die Praxisbeispiele in den Arbeitsfeldern der Sozialarbeit und Sozialpädagogik belegen, denn hier gibt es heute kaum ein Praxisfeld, in dem die Erlebnispädagogik nicht Fuß gefaßt hätte. Ich möchte hier nun im Hinblick auf mein Arbeitsthema auf den Bereich der Straffälligenhilfe eingehen, um zu verdeutlichen, wo und wie hier die Erlebnispädagogik eingesetzt wird.

 

Die Begründer einer Erlebnispädagogik, die sich insbesondere auf dissoziale und delinquente Jugendliche spzialisiert hat, sind unter anderen August Aichhorn, Don Bossco sowie A. S. Marenko. Entscheidend für die Arbeit mit jungen Straffälligen war die Reformpädagogik der Landerziehungsheime. Reformpädagogisch orientierte Erziehungsprinzipien, wie die Gemeinschaftserziehung, die Selbstverwaltung, der ganzheitliche Unterricht sowie sinnstiftende Arbeit und Disziplin machten auch nicht halt vor den Anstalten der Fürsorgeerziehung und dem Jugendstrafvollzug. Heute werden erlebnispädagogische Elemente auch im Jugendarrest, ansatzweise sogar im Erwachsenenstrafvollzug und von freien Trägern, die mit delinquenten Jugendlichen arbeiten, in die Praxis umgesetzt. Die ersten erlebnispädagogischen Projekte im Jugendstrafvollzug wurden bereits 1978 von der Justizvollzugsanstalt Adelsheim in Baden-Württemberg durchgeführt, die regelmäßig mehrtägige Kajakwanderungen, Skikurse und Hochgebirgwanderungen mit einigen der Gefangenen unternahm und deren Höhepunkt die Übernahme einer 10-tägigen Rettungswacht durch einige Strafgefangene an der Ostsee darstellte.

 

Begründet ist der Einzug der Erlebnispädagogik in den Bereich des Jugendstrafvollzuges und in die ambulanten Maßnahmen zur Resozialisierung junger Straffälliger  wohl in dem veränderten Blickwinkel, mit dem Straftaten von Jugendlichen betrachtet werden. Demzufolge ist das Auftreten jugendlicher Kriminalität nämlich als normal und episodenhaft zu betrachten, was bedeutet, daß nahezu alle männlichen Jugendlichen irgendwann einmal straffällig werden und daß das Auftreten krimineller Handlungen in Jugendalter zu dieser Lebensphase hinzugehört. Diese Sichtweise schließt gleichzeitig die Annahme mit ein, daß hier große Chancen für den Übergang in eine normale Entwicklung bestehen, vorausgesetzt, strafjustizielle Eingriffe unterbleiben weitgehendst. Ein weiteres Argument für die Erlebnispädagogik in der Arbeit mit Straffälligen stellt die unter Wissenschaftlern und Praktikern weitverbreitete Auffassung dar, daß strafbare Handlungen von Jugendlichen auch ein Ausdruck zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Abenteuerlust darstellen. Diesem Bedürfnis nach Abenteuerlust würde ja gerade im Rahmen der Erlebnispädagogik Rechnung getragen werden.

 

Des weiteren ist ein wesentlicher Gesichtspunkt der Erlebnispädagogik, die Ganzheitlichkeit dieses Ansatzes, daß nämlich hier ein Bezug hergestellt wird zur Körperlichkeit der Klienten wie auch zu deren Herz und Kopf. Gerade im Strafvollzug oder in teilstationären und ambulanten Maßnahmen zur Behandlung Straffälliger fehlt dieser ganzheitliche Ansatz nahezu völlig. Weder besteht die Möglichkeit für die Klienten, ihre Betreuer ganzheitlich und somit als Menschen in seiner ganzen Persönlichkeit wahrzunehmen, noch ist dies im umgekehrten Fall gegeben. Im Gegensatz dazu ist ein mehrtägiges erlebnispädagogisches Projekt sehr wohl in der Lage sich in einer ganzheitlichen Weise kennenzulernen und sich somit in einer völlig anderen Art wahrzunehmen und zu erleben. Während eines gemeinsam erlebten Projektes bilden sich in der Regel völlig andere Beziehungen heraus und sämtliche Rollen werden neu definiert. Die Fassade, die jeder Einzelne errichtet hat, um im Vollzug oder auch außerhalb überleben zu können, werden hier sehr schnell eingerissen und die Person als solche rückt in den Vordergrund. Festzuhalten bleibt, daß während solchen Maßnahmen Jugendlichen sowie auch Erwachsenen die Möglichkeit gegeben wird, die Grunderfahrung einer menschlichen Beziehung nachzuholen oder zu machen, was der Strafvollzug oder eine Sozialarbeit im Büro wie bei der Bewährungshilfe oder der Jugendgerichtshilfe nicht leisten kann. (vgl. Nickolai, 1995, S. 82 ff)

 

Hans Wagner kommt in seinen Überlegungen zur Bedeutung einer erlebnisorientierten Freizeitarbeit in der stationären Hilfe ebenfalls zu dem Schluß, daß Erlebnispädagogik in der Straffälligen- und Nichtseßhaftenhilfe einen festen Platz einnehmen sollte. Begründet wird dies von ihm mit den Lebenssituationen Straffälliger, Haftentlassener sowie Nichtseßhafter, die seiner Meinung nach an den eigenen Lebenserfahrungen leiden und nicht in der Lage, sind dauerhafte zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Geprägt ist die Personengruppe  nach Aussage Wagners wohl von der Heimerziehung, dem Obdachlosenmilieu und mehreren Haftaufenthalten sowie Langzeitarbeitslosigkeit und Krankheit. Die Empfindungen der Betroffenen sind aufgrund dieser Erfahrungen brutalisiert und haben schließlich zu einem Verlust des Sozialen bei ihnen geführt. Daraus folgt ihre allgemeine Konfliktscheu und Angstbereitschaft, was neue und fremde Anforderungen und Menschen betrifft und hieraus wird sichtbar, daß ihnen jegliche Form von Anstrengungs- und Konfliktbereitschaft fehlt. Des weiteren weist die Personengruppe der Straffälligen und Nichtseßhaften auch eine gesellschaftlich bedingte Seite ihres persönlichen Leidens auf, die einerseits darin besteht, daß sie nur schwer in der Lage sind, Umwelt differenziert wahrzunehmen und zu beurteilen. Andererseits fehlt ihnen das Vermögen, die eigene Lage und daraus entstehende Interessen zu artikulieren. Begründet ist das nach Wagner in der Resignation der Personengruppe aufgrund sozialisationsbedingter Erfahrungen mit übermächtigen Gesellschaftsmechanismen und in der Hilflosigkeit der Betroffenen im Umgang mit den Medien des zwischenmenschlichen Austausches.

Hieraus ergibt sich für Wagner eine deutliche Aufgabenstellung für zukünftige Resozialisierungsbemühungen, für die seiner Meinung nach vorab ein förderliches Lernfeld organisiert werden muß, welches sich auf eine erlebbare Wirklichkeit bezieht und in seiner Struktur an den realen Problemen und Bedürfnissen der Betroffenen ansetzt. Die wesentlichen Aspekte an denen Menschen ihr Leben in unserer Gesellschaft orientieren, sind nach Wagner die Aspekte der Bildung, der Arbeit und der Freizeit. Seiner Meinung nach müssen genau diese Aspekte auch in den Resozialisierungsbemühungen ihren Niederschlag finden. Wenn dies dann im Rahmen der Erlebnispädagogik vornehmlich zunächst der Aspekt der Freizeit ist, so ist das ja auch sinnvoll, da genau dieser Bereich für Haftentlassene und Nichtseßhafte am Tag der zeitlich ausgedehnteste ist und in seinen Erlebnisstrukturen die individuellen Problemebenen exakt wiedergibt.

 

Die Erlebnispädagogik hat nach Wagner im Bereich der Straffälligen- und Nichtseßhaften Hilfe die Aufgabe, die Lebenswelt der Betroffenen als Lernraum verfügbar zu machen und die individuellen Fähigkeiten zur eigenen Initiative zu entwickeln sowie hierfür eine Vielfalt möglicher sozialer Bezüge zu organisieren. Die Straffälligen- und Nichtseßhaftenhilfe hat ja den Anspruch straffällig und nichtseßhaft gewordenen Menschen zu helfen, sie zu betreuen und sie menschlich zu unterstützen. Nach Wagner wird gerade die Erlebnispädagogik diesem Anspruch gerecht, da sie eine Verbindung zur Lebenswelt der Betroffenen aufweist, ihre Methoden den gesamten Menschen einbeziehen und einen emanzipatorischen Anspruch hat. (vgl. Wagner, 1988, 106 f)

 

 

4.4.1 Exkurs: Ausgewählte Kriminalitätstheorien

Ich möchte nun hier unter dem Gesichtspunkt der Erlebnispädagogik in der Straffälligenhilfe einige klassische Kriminalitätstheorien dahingehend hinterfragen, welche Begründungen sie möglicherweise für die Verwendung der Erlebnispädagogik in diesem Bereich beisteuern können.

 

Beginnen werde ich mit der sogenannten Anomietheorie nach Merton, die abweichende Verhaltensweisen als Anpassungsprozesse einzelner Gesellschaftsmitglieder an widersprüchliche Anforderungen seitens der Gesellschaft begreift. Der Grundgedanke besteht darin, daß in dem System einer Gesellschaft die Regelungen nicht mehr aufeinander abgestimmt sind und es aufgrund dessen zu einem normlosen Zustand in dieser Gesellschaft kommt. Die Anomietheorie sieht die Ursachen des anomischen Zustandes und damit der Devianz in den sozialstrukturellen Bedingungen einer Gesellschaft. Demnach besteht eine Differenz zwischen der kulturellen Struktur,. die sich in den Verhaltensforderungen an das einzelne Gesellschaftsmitglied manifestiert und der sozialer Struktur, in der es um die Verteilung von legitimen oder illegitimen Realisierungschancen geht. Diese Diskrepanz führt dann dazu, daß dem Einzelnen nicht die legalen Mittel zur Verfügung stehen, um die gesellschaftlich vorgegebenen Ziele und Möglichkeiten zu erreichen. Die Folge wiederum ist, daß sozialer Druck auf das Individuum ausgeübt wird, der entweder dazu führt, daß die kulturell gesteckten Ziel an Attraktivität verlieren oder daß der durch die Normen vorgeschriebene Weg zur Erreichung verlassen wird, was die Devianz zur Folge hat. (vgl. Lamnek, 1993, S. 106 ff

 

Betrachtet man nun die Gruppe der Straffälligen, so kann man davon ausgehen, daß es bei ihnen aufgrund sozialstruktureller Bedingungen zu einer Diskrepanz zwischen kultureller und sozialer Struktur kommt. Die schlechten sozialstrukturellen Bedingungen sind bei dieser Personengruppe wohl in den häufig fehlenden oder nur bruchstückhaft abgeschlossenen Schul- und Berufsausbildungen begründet und der daraus folgenden hohen Arbeitslosenzahlen sowie in der generell schlechten Arbeitsmarktlage unserer Zeit, in der ein Vorbestrafter noch weniger Chancen auf einen Arbeitsplatz hat als ein nicht Vorbestrafter. Dazu kommt die kulturelle Struktur, die gewisse Möglichkeiten und Ziele dem Einzelnen als erstrebenswert vorgibt, die sich häufig gerade in einem konsumorientierten Leben manifestieren. Die Gruppe der Straffälligen hat jedoch aus den genannten Gründen nicht die legalen Möglichkeiten, ein solch konsumorientiertes Leben zu führen, es sei denn sie ermöglichen es sich durch abweichende Verhaltensweisen. Die Erlebnispädagogik kann hier neue Möglichkeiten und Chancen eröffnen, um den Betroffenen neue Formen der Lebens- und Freizeitgestaltung an die Hand zu geben, die sich im Rahmen der Legalität bewegen und keine abweichende Verhaltensweise nötig machen. In der Regel ist es nämlich so, daß gerade Straffällige Schwierigkeiten haben, ihre eigene Freizeit zu gestalten. Der "Normalbürger" ist ja aufgrund der unterschiedlichen sozialstrukturellen Bedingungen, in denen er lebt kein Maßstab, es sei denn der Straffällige nähert sich diesen Bedingungen mit Hilfe illegaler Mittel an. Erlebnispädagogische Maßnahmen können den Straffälligen dann aufzeigen, wie sie mit ihren Mitteln sinnvoll mit ihrer Freizeit umgehen und sie gestalten können, um so auch ein Stück weit konsumorientiert zu leben.

 

In eine ähnliche Richtung gehen die sogenannten Theorien der Subkultur, die davon ausgehen, daß in komplexen Gesellschaften zwar bestimmte grundlegende Normen und Werte von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilt werden, daß jedoch aufgrund unterschiedlicher sozialstruktureller Bedingungen sich auch Gruppen bilden, die davon abweichende Verhaltenserwartungen und Normen entwickeln und praktizieren. Demnach gehen diese Theorien ebenfalls davon aus, daß gesamtgesellschaftlich gesehen die sozialstrukturellen Bedingungen unterschiedlich verteilt sind und deshalb auch von bestimmten Personengruppen unterschiedliche Normen entwickelt werden. Die Entwicklung anderer Normen wird als Anpassungsprozeß an unterschiedliche soziale Bedingungen begriffen. Des weiteren werden gesamtgesellschaftlich als abweichend definierte Verhaltensweisen in der Subkultur durchaus als konform angesehen. Damit wird auch deutlich, daß abweichende Verhaltensweisen ähnlichen Entstehungsbedingungen folgen wie konforme, nämlich denen die für die eigene Lebenswelt brauchbar und sinnvoll sind. (vgl. Lamnek, 1993, S.142 ff) Geht man davon aus, daß eine große Anzahl der Straffälligen ebenfalls solchen Subkulturen entstammen, die von den gesamtgesellschaftlich akzeptierten abweichende Verhaltensweisen entwickelt haben und praktizieren, so wird deutlich, daß viele Resozialisierungsbemühungen hinter dem Schreibtisch daran scheitern müssen. Eine Sozialarbeit, die in einer Beratungsstelle vollzogen wird, ist eben nicht in der Lage sich in die Lebenswelt der Betroffenen hineinzuversetzten, die so von der eigenen abweicht und kann aufgrund dessen auch nur schwer erkennen, daß die entwickelten Verhaltensmuster der Klienten in ihrer Lebenswelt auch durchaus eine Berechtigung besitzen. Solche Verhaltensmuster aufbrechen und verändern zu wollen, setzt voraus, die Klientel in der gesamten Komplexität ihrer Lebenswelt kennen und verstehen zu lernen. Erst dann kann an Veränderungen gearbeitet werden, die von abweichenden zu konformen Verhaltensweisen führen. Außerdem erscheint es auch sinnvoll, neue Verhaltensmuster auch praktisch erlebbar zu machen, um deren Vorteile zu verdeutlichen. Erlebnispädagogik wäre hier in der Lage, den Straffälligen neue und brauchbare Verhaltensmuster aufzuzeigen, die innerhalb des Gruppengeschehens kennengelernt und erlernt werden können und die sich im Rahmen der Legalität bewegen.

 

Abschließend hierzu möchte ich noch auf die Theorien des differentiellen Lernens eingehen, die davon ausgehen, daß abweichende Verhaltensweisen genau wie konforme auch in sozialen Interaktionen erlernt werden. Je nach Ausprägung der Theorie werden unterschiedliche Modelle des Lernens unterstellt. Gemeinsam ist allen Theorien jedoch, daß das durch Interaktionen erfolgt und demnach werden eben nicht nur abweichende Verhaltensweisen kennengelernt und erlernt, sondern auch Einstellungen, Motive und Rationalisierungen, die diese erst hervorbringen. Das Erlernen von Verhaltensweisen setzt wiederum die Interaktion mit der Umwelt voraus, wobei auch hier die soziologisch - sozialstrukturelle Komponente zum Ausdruck gebracht wird. Zusammenfassend zu diesen Theorien läßt sich sagen, daß interaktive Kontakte mit abweichenden Verhaltensweisen und Einstellungen nach Lernprozessen auch abweichende Verhaltensweisen hervorbringen. (vgl. Lamnek, 1993, S.186 ff)

 

Die Schlußfolgerung aus dieser Theorien wäre dann auch, daß abweichende Verhaltensweisen wieder verlernt werden und durch Interaktion durch konforme Verhaltensweise ersetzbar wären. Hinzu kommt natürlich auch hier das Erlernen von Einstellungen, Motiven und Rationalisierungen, um die konformen Verhaltensweisen hervorzubringen. Meiner Meinung nach kann ein solcher Lernprozeß sehr gut im Rahmen erlebnispädagogischer Maßnahmen stattfinden und ergibt sich dort zwangsläufig aus dem gemeinsamen Leben in der Zeit und der Bewältigung der Anforderungen. Natürlich könnte man hiergegen einwenden, daß zum Beispiel eine erlebnispädagogische Maßnahme mit Straffälligen wahrscheinlich eher die abweichenden Verhaltensweisen verstärkt, anstatt neue und konforme Verhaltensweisen hervorzubringen. Diesem Argument läßt sich jedoch meiner Ansicht nach entgegensetzten, daß es hier auf die Beschaffenheit des Projektes ankommt. Eine mehrtägige Wanderung zum Beispiel in relativer Abgeschiedenheit und der Notwendigkeit sich selber zu versorgen und zurecht zu finden, bringt meiner Meinung nach zwangsläufig andere Verhaltensweisen zum Vorschein. Es kommt dann darauf an, daß sich der Eine auf den Anderen verlassen muß, die anfallende Arbeit aufgeteilt und erledigt wird, für die tägliche Versorgung gesorgt werden muß, und daß sich mit den Problemen der anderen Teilnehmer auseinandergesetzt werden muß. All dies sind Erfahrungen, woraus sich Lernmöglichkeiten ergeben, die im alten Umfeld der Betroffenen vielleicht überhaupt nicht möglich gewesen wären und die eine Schreibtischsozialarbeit schon überhaupt nicht ermöglichen kann. Straffällige können hier meiner Meinung nach Einstellungen, Motive und Rationalisierungen kennenlernen, die sie stärker zu konformen Verhaltensweisen zurückbringen und eventuell eine erneute Straffälligkeit verhindern können.

 

 

4.5 Erlebnispädagogik als Mittel zur Vermeidung von Straftaten?

 

Der in kritischen Kreisen natürlich häufig gestellte Frage nach der Effektivität von Erlebnispädagogik in der Arbeit mit Straffälligen und deren Auswirkung auf das Begehen neuer Straftaten, kann entgegengesetzt werden, daß die Erlebnispädagogik, wie die Pädagogik im Allgemeinen, nur schwer in der Lage ist, ihre Wirkungen zu erfassen. Wissenschaftliche Belege im Sinne handfester Beweise existieren hier in der Regel nicht. Weiterhin gibt es auch in keinster Weise wissenschaftlich ernstzunehmende Erkenntnisse über die Eignung der Erlebnispädagogik zum Abbau oder zur Vermeidung strafbarer Handlungen. Was die Erlebnispädagogik mit Straffälligen jedoch noch zusätzlich belastet, ist, daß sie von den Einen als ungerechtfertigte Belohnung für Delinquenz angesehen wird und von den Anderen mit zu hohen Erwartungen in Bezug auf ihre Wirkweise befrachtet wird. (vgl. Nickolai, 1995, S. 87 ff)

 

Zur Eignung der Erlebnispädagogik im Zusammenhang mit der Vermeidung oder zum Abbau strafbarer Handlungen macht Wolfgang Gottschalk einige Aussagen.

Demzufolge kommt es seiner Meinung darauf an, ob die Erlebnispädagogik in der Lage ist, den Zielsetzungen des Strafrechtes zu entsprechen, nämlich erneute strafrechtlich relevante Auffälligkeiten zu vermeiden. Weiterhin besage die internationale Sanktionsforschung, daß es äußerst schwierig ist, im Rahmen einer individualtherapeutischen Intervention, wie z.B. durch die Teilnahme an einem Segeltörn, die strafrechtlichen Zielsetzungen zu erreichen. Er führt hier weiterhin an, daß die Praxis der Erlebnispädagogik auch in keinster Weise in der Lage sei, Belege für Erfolge in diesem Sinne zu leisten. Kanufahrten, Drachenfliegen und Tennis spielen sind nach Gottschalk keinen Beschäftigungen, die generell für das Ausbleiben von Kriminalität sprechen und aufgrund solcher Betätigungen sei der Teilnehmer nun auch nicht plötzlich ein anderer und besserer Mensch als vorher. Ein Segeltörn oder Aktivitäten unter Abgeschiedenheitsbedingungen sind ihm zu Folge nichts anderes als ebenfalls ein Freiheitsentzug, der Kriminalität verhindert solange die Maßnahme andauert. Die Folge hiervon ist, daß die strukurelle Analogie mancher Projekte der Erlebnispädagogik und des Freiheitsentzugs ein gemeinsames Problem beinhaltet: In einem lebensunwirklichen Raum ein Lernprogramm realisieren zu wollen.

Diese Problem, welches die Transferproblematik der Erlebnispädagogik anspricht, ist Ausgangspunkt der heftigsten Kritik an diesem Ansatz und deshalb werde ich darauf beim Fazit und der kritischen Würdigung noch näher eingehen.

 

Am Ende seiner Ausführungen weist Gottschalk darauf hin, daß die von ihm geübte Kritik keineswegs bedeuten soll, Erlebnispädagogik sei generell ein untaugliches Mittel in der Arbeit mit Straftätern. Seiner Meinung nach ist der Ausgangspunkt Strafverfahren und Straftäter ein völlig falscher Ansatzpunkt für erlebnispädagogische Programme. Des weiteren sollten die Erwartungen an die Wirkweise dieser Methode im Bereich der Straffälligenarbeit eher niedrig angesetzt werden und der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf folgende Punkte gerichtet werden:

- Erlebnispädagogik sollte immer als freiwilliges Angebot an den Einzelnen vermittelt werden und mit einer Teilnahme sollten weder Vorteile noch Nachteile verbunden sein

- Erlebnispädagogik sollte nie mit dem Anspruch an den Start, gehen Rückfälligkeit in strafbare Handlungen stoppen zu können oder zu wollen

- Erlebnispädagogik ist durchaus geeignet als Methode, um wichtige Grundsteine für eine weitere Zusammenarbeit zu legen und voneinander Wichtiges zu erfahren, was das übliche Bereuer-/Probandenverhältnis nicht zu Tage fördert

- Erlebnispädagogik ist durchaus ein Hilfsmittel für eine befreitere und gemeinwesenorientierte Gefangenenarbeit und stellt ein Pendant dar zu der Absurdität des Vollzuges, der auf ein Lernen für die Freiheit in der Unfreiheit vorbereiten will

- Im Bereich der ambulanten Maßnahmen könnte Erlebnispädagogik für alle Interessierten angeboten werden, um von dem Anknüpfungspunkt der Straffälligkeit im Bewußtsein der Justiz und der Pädagogik wegzukommen

- Erlebnispädagogik schließt in der Regel natursportliche Bewegung und somit körperliche Ertüchtigung mit ein und hat von daher einen Wert an sich

- Voraussetzung für alle genannten Punkte ist allerdings, daß von justizieller Seite sowie von Seiten der Projektbetreiber an der Entwicklung regionaler Verbundprogramme gerarbeitet wird und Geldmittel erschlossen werden.

 

 

5. Projektvorstellung der Bewährungshilfe Marburg

 

5.1 Erlebnisorientierte Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe

 

Näher zu beleuchten ist nun, ob die in der Praxis der Sozialpädagogik angewandte Methode der Erlebnispädagogik sich auch für die Arbeit der Bewährungshilfe eignet. Im Bereich der Straffälligenarbeit wird sie ja schon längere Zeit eingesetzt, wobei die Schwerpunkte, der Literatur zur Folge, wohl im Jugendstrafvollzug liegen.

 

Der Marburger Bewährungshelfer Peter Reckling hat sich bereits mehrfach in der Anwendung der Methode der Erlebnispädagogik in der Bewährungshilfe versucht und hat durchaus positive Erfahrungen damit gemacht. In einem bislang unveröffentlichten Manuskript versucht, er den Beweis anzutreten, daß die Erlebnispädagogik durchaus eine Chance darstellt, um gerade bei jugendlichen Delinquenten und jungen Erwachsenen eine positive Perspektive aufzubauen und Defizite zu minimieren.

 

Reckling nimmt in seinen Ausführungen Bezug auf die dominierende Arbeitsweise der Bewährungshilfe, die soziale Einzelhilfe. Seiner Meinung nach reduziere sich diese in der Praxis häufig auf eine Schreibtischsozialarbeit, welche in der Regel nicht in der Lage ist, an die wahren Belange der Probanden heranzukommen. Der Zwangscharakter, der aufgrund der Unterstellung des Probanden durch das Gericht zustandekommt, hat häufig die Konsequenz, daß die Probanden eine entsprechende Distanz in die Beziehung zum Bewährungshelfer miteinbringen. Diese Distanz, so Reckling, bleibt in der Regel auch über die gesamte Bewährungszeit bestehen, wenn nicht von Seiten der Bewährungshelfer vertrauensbildende und die Persönlichkeit herausfordernde Maßnahmen in die Beziehung eingebracht werden. Hier liegt in der Einzelfallhilfe der Knackpunkt, denn zu diesen Maßnahmen kommt es in der Regel nicht, sondern der Bewährungshelfer argumentiert meist mit dem moralischem Gewissen der Gesellschaft. Der Proband nimmt daraufhin eine zurückhaltende Position ein und spielt ein ständiges Versteckspiel, indem er betont, er komme durchaus zurecht und alles sei in Ordnung. Nach Reckling bestehen hier nun zwei Möglichkeiten, um aus dem Dilemma herauszukommen und um eine effektive Arbeit mit den Probanden zu gewährleisen. Entweder trifft man sich auf der Verstandesebene, was eine Beendigung des Versteckspieles zwischen Bewährungshelfer und Proband zur Folge hat oder die Erlebnispädagogik bietet eine Möglichkeit, praktische Fertigkeiten und Kenntnisse erfahrbar zu machen. (vgl. Reckling, 1996, S. 12 f)

 

Außerdem ist Peter Reckling aufgrund seiner Erfahrungen der festen Überzeugung, daß gruppenpädagogische Aktivitäten eine Chance bieten, Verhaltensdefizite deutlich zu machen und an Veränderungen arbeiten zu können. Diese Veränderungen sollten seiner Meinung nach mit Einschränkungen durch positive Bestärkung erfolgen. Er vertritt die Ansicht, daß es völlig falsch ist zu sagen, daß Pädagogik in der Bewährungshilfe keinen Platz habe, denn setze sich diese Ansicht durch, dann bestehe keine Möglichkeit mehr zur Aufarbeitung der einzelnen Lebensschicksale der Probanden und es komme zu einem Verwahren dieser, was wiederum das Aus für die Bewährungshilfe bedeuten würde. Reckling ist somit ein Fürsprecher für eine institutionelle Verankerung der Gruppenpädagogik in der Bewährungshilfe, um so dem Anspruch der Probanden auf eine effektive Betreuung gerecht werden zu können. (vgl. Reckling, 1996, S.6 f)

 

Ich möchte nun ein von mir Interview mit dem Marburger Bewährungshelfer Peter Reckling geführtes Interview anführen, um seine Motive, Ideen und Zielvorstellungen einer erlebnisorientierten Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe transparenter zu machen. Bereits in den Vorgesprächen mit ihm bat ich ihn um die Möglichkeit eines Interviews, um quasi sein Konzept für diese Form der Gruppenarbeit in meiner Diplomarbeit vorstellen zu können. Bewährungshelfer Reckling willigte auch hierzu sofort ein, mit der Bitte, ihm die von mir geplanten Fragen im Vorfeld zukommen zulassen, damit er sich auf sie etwas vorbereiten könne. Das Interview fand in der Beratungsstelle der Bewährungshilfe Marburg statt und dauerte ca. 15 Minuten, die Tonbandaufnahme habe ich dann wörtlich übernommen und werde ich nun im Folgenden darstellen :

 

1. Frage: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, erlebnisorientierte Gruppenarbeit in Ihre Arbeitsweise zu integrieren?

 

P.R.: Ja, also ich arbeite jetzt schon seit 12 Jahren in der Bewährungshilfe und habe gemerkt, daß es in der Bewährungshilfe schwierig ist, zu Probanden eine gewisse Nähe herzustellen, um mit ihnen auch wirklich an Veränderungen zu arbeiten und da war mir Gruppenarbeit schon immer als eine Möglichkeit im Bewußtsein. Es hat aber auch eine Weile gedauert, bis sich die Gruppenarbeit doch so richtig, meinen Vorstellungen entsprechend, entwickeln konnte. Ich selber habe eigentlich positive Gruppenerfahrungen und habe auch in meinem früheren Job als Erzieher Gruppenerfahrungen mit Kindern und Jugendlichen gemacht und darauf habe ich in gewisser Weise auch aufgebaut.

Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe hat für mich eigentlich auch so die Bedeutung, daß an positive Erfahrungen in Gruppen angesetzt werden kann und daß darin eine Möglichkeit besteht, nicht mit der Stigmatisierung, wie sonst die Straffälligenhilfe konfrontiert ist, sondern daß da ein positiver Ansatz möglich ist. Und das dann bleibende Erlebnisse gemacht

Ich möchte nun noch auf ein ganz praktisches Beispiel hinweisen, daß ich in der Literatur gefunden habe und welches in den 20er Jahren stattgefunden hat. Adolf Reichwein war ein deutscher Pädagoge und er hat mit einer Volkshochschulgruppe eine zweimonatige Wanderung durch Skandinavien durchgeführt und die war, wie man sich vorstellen kann, sehr erlebnisreich. Diese Gruppe ist dann in einem Teil der Wanderung in Sümpfen steckengeblieben und zehn Tage lang ohne Zivilisation durch die Gegend geirrt und sie mußten wirklich befürchten, daß sie dabei sterben müssen. Sie haben dann aber doch glücklicherweise eine Hütte gefunden, wo sie auch aufgenommen wurden in Norwegen und im Nachhinein haben Adolf Reichwein und die Teilnehmer dieses Erlebnis als ein unvergeßlich gebliebenes dargestellt und als ein Erlebnis, an dem sie ihr ganzes leben noch zehren können und in Erinnerung behalten und wovon sie noch ihren Verwandten, Freunden und Enkelkindern erzählen werden. Das war also etwas Sinngebendes. Das waren damals auch junge Leute, die nicht so eine tolle Perspektive hatten, es waren Arbeiter/Jungarbeiter, die das Interesse hatten, sich auf diesen Weg zu begeben und sich weiterzubilden. Dieser Adolf Reichwein hat mir da nochmal ein Motiv gegeben, in dieser Richtung auch

Gruppenarbeit weiterzuentwickeln.

 

2. Frage: Was versprechen Sie sich von dieser Methode in der Arbeit der Bewährungshilfe d.h. welche Ziele verfolgen Sie damit?

 

P.R.: Die Ziele sind, daß die Teilnehmer durch eigene Erfahrungen in Gruppenaktivitäten lernen sich auseinanderzusetzen mit ihrem Handeln und mit ihrer Persönlichkeit, so wie sie sind und sich auch so erfahren, wie sie sind. In dem sonstigen Leben mit seinen existierenden Normen und Zwängen passen sie sich bestimmten Gruppennormen an, die von außen auf sie wirken und denen entsprechend sie sich verhalten. In dieser Gruppe, die die Bewährungshilfe dann anbietet oder die ich anbiete, da können sie sich als Person bewegen, sie sind auch nicht so vorbestimmt in ihrem Verhalten, sondern es kommt erst einmal ihre Wesensart zum Ausdruck. Es kann dadurch quasi eine selbstkritische Betrachtung auf den Weg kommen. In der Gruppenarbeit der Straffälligenhilfe sollen die Gruppenmitglieder auch mit ihren Taten und mit ihrem Verhalten konfrontiert werden. Das geschieht auch indem ich kritische Rückmeldungen gebe und sie auch zu Auseinandersetzungen herausfordere, wenn bestimmte Verhaltensweisen auch für die Gruppe schwierig sind zu ertragen. Fehlende Lernprozesse werden nachgeholt und dadurch werden den Gruppenmitgliedern Neuerkenntnisse ermöglicht, auch mit sozialen Defiziten umzugehen. Das Erkennen und Auseinandersetzen mit der eigenen Lebenssituation soll dabei gefördert werden. Den gesellschaftlichen Tendenzen zur Isolation und Individualisierung wird durch Gruppenerfahrungen entgegengewirkt, daß man in der Gruppe zusammen lernt miteinander umzugehen, lernt gemeinsame Absprachen zu treffen und das Alltägliche zu gestalten wie Kochen, Waschen, Verabredungen zu treffen. Des weiteren wird die häufig mangelnde Verbindlichkeit von Probanden zum Thema im Gruppengeschehen. Die Dynamik in Gruppenprozessen kann außerdem zur Selbstbetrachtung der Gruppenmitglieder genutzt werden, wenn sie sich also selber auch kritisch ansehen. Darüber hinaus bewirken Gruppenerfahrungen, daß sich die Gruppenmitglieder der Auseinandersetzung mit ihrer Lebenssituation stellen und sich nicht entziehen können, weil sie ständig mit der Gruppe zusammen sind. Der Einzelne erkennt, was er für die Gruppe beiträgt und was er von den Anderen annehmen kann, was also letztendlich auch die Selbstachtung hebt, weil der Einzelne Beitrag auch mehr gewürdigt wird und er auch in der Gruppe bestehen kann. Das Erlernte kann aktuell angewandt werden unter kritischer Begleitung der Gruppe und kann auch langfristige Auswirkungen auf die Beziehungen im sozialen Umfeld - also nach Gruppengeschehen - haben.

 

3. Frage: Wie beurteilen Sie die Auswirkungen solcher Aktivitäten auf die teilnehmenden Probanden?

 

P.R.: Ich habe ja bereits im Vorhergehenden darauf Bezug genommen, welche Ziele Gruppenarbeit verfolgt und da sind natürlich auch schon die Auswirkungen auf die Teilnehmer/Probanden benannt. Ich möchte jetzt dies vielleicht nochmal ganz konkret an einer für mich wichtigen Frage erläutern. Also unter erlebnisorientierter Gruppenarbeit verstehe ich auch eine positive Bestärkung der Probanden. Man muß sich vorstellen, wenn die Teilnehmer in einer solchen Wochenaktivität 80 - 100 km gelaufen sind, dann ist das eine positive Erfahrung, weil sie davon, wenn sie nach Hause kommen, auch anderen erzählen können und sozusagen auch zeigen können, was sie geleistet haben. Diese Leistung vollbracht zu haben, sehe ich als einen positiven Schritt, da häufig für die Probanden das Erfahren ist, sie schaffen nichts, sie kommen nicht voran. Gerade da erhoffe ich mir vielleicht einen Anschub, daß sie für ihr alltägliches Leben daraus Kräfte gewinnen. Kräfte also gewinnen und dadurch letztendlich auch Straffälligkeit für sie eingeordnet werden kann und nicht diese Bedeutung hat und sie auch in einem Legalverhalten positive Kräfte entwickeln können.

 

4. Frage: Was kann hier geleistet werden, was die traditionelle Methode der Bewährungshilfe, die soziale Einzelhilfe, nicht in der Lage ist zu leisten?

 

P.R.: Ja, also die Bewährungshilfe, wie sie sich in den letzten Jahren herausbildete ist vielschichtig. Es gab immer auch schon Gruppenarbeit, die Einzelfallhilfe hat aber doch eine Dominanz und man muß einfach sagen, die Einzelfallhilfe führt nicht dazu, daß in der Regel eine Nähe zum Probanden hergestellt werden kann oder zumindest ist es sehr schwierig. Dazu kommen noch die Verwaltungsanforderungen, die die Gerichte stellen. Das Arbeitsverhalten wird bürokratischer und das heißt, daß man immer mehr mit Berichten und Vermerken umgehen muß und Arbeitskontrollen, auch Kontrollen der Probanden und für mich ist da eine Weiterentwicklung der Bewährungshilfe durch die Gruppenarbeit möglich, wenn sie flächendeckender angewendet wird. Es kann effektiver an den Verhaltensweisen der Probanden etwas getan werden, in dem Sinne, wie ich das vorher beschrieben habe und ich hoffe, daß durch eine feste Installation der Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe größere Veränderungspotentiale bei den Probanden bewirkt werden können.

 

 

5.2 Die Wanderung in Frankreich

 

 

Im Sommer 1995 führte Bewährungshelfer Peter Reckling erstmals im Rahmen der Bewährungshilfe eine Wanderung auf dem historischen Jakobsweg in Frankreich durch. An der Maßnahme nahmen sechs Probanden/Probandinnen teil, die Teilnehmer waren alle zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Organisiert war diese Aktivität erlebnisorientiert, was sich darin äußerte, daß mit einfachsten Mitteln in einer einsamen Gegend gewandert wurde. Täglich wurden zwischen 15 und 20 km zu Fuß zurückgelegt und übernachtet wurde entweder im Freien oder in Zelten. Die täglichen Mahlzeiten wurden auf eigener Feuerstelle zubereitet. Die für die Wanderung ausgesuchte Region in Südfrankreich bot aufgrund des Klimas und dem geringen Tourismus ideale Voraussetzungen für die Teilnehmern den eigenen Gedanken einmal freien Lauf zu lassen. Die relative Einsamkeit und die Reduzierung auf die einfachsten Mittel bot auch die Gelegenheit zum gedanklichen Austausch mit den Mitwanderen. Im Rahmen dieser Aktivität wurden die Teilnehmer an Grenzen herangeführt, denen sie in Alltag wenn überhaupt, dann nur sehr selten ausgesetzt sind. Der Jakobsweg, auf dem gewandert wurde, ist ein mittelalterlicher Pilgerweg, auf dem sich seit dem Mittelalter hunderttausende von Menschen auf den Weg begeben haben, um das Grab des Heiligen Jakob in Santiago de Compostela/Spanien zu besuchen. Desweiteren ist dieser Wanderweg sehr gut markiert und die Spuren des Mittelalters sind in sämtlichen Gebäuden, Ortschaften und Kapellen aufzufinden. Neben den religiösen Motiven, die die Menschen früher dazu veranlaßten, diesen Jakobsweg zu begehen, gab es auch noch den Hintergrund der Strafwallfahrt. Ein anschauliches Beispiel stellen hier die von niederländischen Gerichten damals häufig praktizierte Verurteilung für Gewaltverbrecher dar. Entsprechend der Schwere der Tat mußten diese entweder bis nach Santiago de Compostela oder kürzere Strecken laufen und sich dabei schriftlich die vollzogene Pilgerschaft bestätigen lassen. Ziel dieser Maßnahme war einerseits, die vollbrachte Sühneleistung im Rahmen der Strafwallfahrt und andererseits hatte es den Vorteil, daß die Straftäter so der Lynchjustiz entgehen konnten. Nach ihrer Rückkehr bestanden außerdem weitaus größere Chancen in die soziale Gemeinschaft ihrer Heimat wieder aufgenommen zu werden.

 

Waren es demnach früher eher religiöse Motive, die die Menschen dazu veranlaßten sich auf eine Wanderung auf dem Jakobsweg zu begeben, so ist es heute eher das Ungewisse, die Einfachheit, die Naturverbundenheit und wohl einfach das Gefühl, sich auf den Weg zu begeben, was die Menschen dazu motiviert. Alle Teilnehmer an dieser Maßnahme von der Bewährungshilfe in Marburg haben sich aus freien Stücken daran beteiligt und sind mit einer gewissen Begeisterung davon zurückgekehrt, was sich auch in den von den Teilnehmern verfaßten Tagesberichten niederschlägt. Die entstandenen Verpflegungskosten wurden von den Teilnehmern selbst getragen und die Fahrtkosten trug das Hessische Ministerium der Justiz.

Bewährungshelfer Reckling hat eine Fortsetzung der Wanderung für das Jahr 1996 bereits in Betracht gezogen, was bedeutet, daß dann bis zur nächsten Etappe in Spanien Conques weiter gewandert wird. (vgl. Reckling, LAG Aktuell, 1996)

 

Im Anschluß an die Wanderung im Jahre 1995 fanden zwei Nachtreffen statt, bei denen ein gemeinsam gedrehter Videofilm über die Wanderung und ein im Fernsehen ausgestrahlter Bericht über den Jakobsweg angesehen wurden. Im Verlauf dieser Nachtreffen wurde dann bei drei Teilnehmern der Wunsch laut, die Wanderung auf dem Jakobsweg doch im Jahr 1996 fortzusetzen. Aus diesem Grund hat dann Bewährungshelfer Peter Reckling im März 1996 zu neuen Treffen eingeladen, an denen die genannten drei Teilnehmer und weitere Interessenten beteiligt waren. In den Monaten Mai, Juni und Juli wurden weitere Treffen abgehalten, zu denen Bewährungshelfer Reckling immer wieder neue potentielle Teilnehmer einlud. Es kam zu der Situation, daß Bedenken bestanden, die Kapazität von 8 Teilnehmern würde überschritten. Bei den letzten Treffen im Juli kam es jedoch zu erheblichen Kontroversen unter den Teilnehmern, so daß kurzfristig mehrere Teilnehmer absagten. Die erlebnispädagogische Wanderung auf dem Jakobsweg vom 22.08 - 29.08 1996 wurde dann schließlich nur noch mit vier Teilnehmern, wovon einer ein Ex-Proband war, durchgeführt.

 

Die Reduzierung der Gruppe von anfänglich 13 Interessenten auf später nur noch vier Teilnehmer hatte nach der Meinung des Bewährungshelfers durchaus ihre positiven Seiten. Die Konflikte in der Vorbereitungsphase hatten demnach zur Folge, daß viele individuelle Konfliktpotentiale deutlich wurden, die bei den Teilnehmern der Wanderung dann später innerhalb der Gruppe weiterbesprochen werden konnten und bei den Anderen im Rahmen von Einzelgesprächen oder neuen Gruppenkonstellationen aufgegriffen wurden. Im Vorjahr waren diese Konflikte erst während der Fahrt zum Tragen gekommen, was Reckling zu Folge jedoch weniger erfreulich war, denn seiner Meinung nach war es durchaus wertvoll, daß diese nun bereits in der Vorbereitungszeit deutlich wurden, denn so konnte vorab bereits der Gruppenzusammenhalt geklärt werden und Risikofaktoren wurden besser kalkulierbar. Diese starke Reduzierung der Gruppe von anfangs 13 auf schließlich 4 Teilnehmer bewirkte, daß Bewährungshelfer Peter Reckling überlegte, ob es nicht besser sei die ganze Aktivität abzusagen. Er entschied sich jedoch schließlich für die Durchführung, da er einerseits die sich auf die Fahrt freuenden Probanden nicht enttäuschen wollte und andererseits die Hoffnung hegte, daß die Polarisierung der Gruppe eine Stabilität nach sich ziehen würde, was sich im nachhinein auch bestätigte.

 

Nach dem anfänglichen Frust lockerte sich die Stimmung jedoch sehr schnell auf und mit guter Laune erreichte die Gruppe Le Puy und fuhr an den Ausgangsort der Wanderung Aumont-Aubrac. Dort wurden an alter Stelle, wo im Vorjahr die Wanderung geendet hatte, die Zelte aufgeschlagen und am nächsten Tag wurde die erste Etappe von 22 km zurückgelegt. Insgesamt ist die Gruppe 100 km gelaufen und hat am 5. Tag ihr Ziel Conques erreicht. Während der Wanderung fanden viele Gespräche statt, meist in der Konstellation von zweier-und dreier-Unterhaltungen. Jeden Abend wurde die Auswertung des vergangenen Tages vorgenommen, wobei die Probanden sehr viel über frühere und gegenwärtige Lebenssituationen sprachen. Die Probanden beschäftigten ebenso Fragen der gemeinsamen Gruppengestaltung wie Essensbereitung, Abwasch, Wäsche und Übernachtungsmöglichkeiten sowie auch individuelle Ansprüche und Probleme.

 

Bereits in der Vorbereitungsphase der Aktivität kam der Wunsch auf, sich um einen Pilgerbrief zu bemühen der zweierlei Funktion erfüllte, einerseits legitimierte er die Gruppe auf dem Jakobsweg und somit konnte einfache Unterkunft in den Pilgerherbergen in Anspruch genommen werden und andererseits bot er die Möglichkeit, die zurückgelegte Strecke durch Abstemplung belegen zu lassen. Auf diesen Wunsch hin verfaßte der Vizepräsident des zuständigen Landgerichtes ein Befürwortungsschreiben und die Gruppe des Bewährungshelfers erhielt letztendlich ihren Pilgerausweis. Für die Teilnehmer war dieser Ausweis von großer Bedeutung, da sie nun darum bemüht waren, an jedem Ort einen Stempel zu bekommen als Beweis für die zurückgelegte Strecke. Die Gemeinschaft der Pilger hatte für die Teilnehmer einen stolzverleihenden Effekt, denn auf der Wanderung stieß man ständig auf Wanderer die die gleiche Strecke zurücklegten und mit denen Erfahrungsaustausch über Wanderweg, Abkürzungen, Unterkünfte und ähnliches stattfand. Nach anfänglicher Reserviertheit wurden die Begegnungen im Laufe der Zeit immer freundlicher und aufgelockerter.

 

Peter Reckling zu Folge hat die Einbeziehung der Natur in eine erlebnispädagogische Aktivität einen therapeutischen Effekt, da hierbei viele neue Erfahrungen und Empfindungen gemacht werden können. Die Gruppe durchwanderte beispielsweise zweieinhalb Tage lang eine Hochebene auf 1200 -1400 m, die sehr einsam war und wo man nur sehr selten auf Menschen traf. Der Blick auf die weite und urwüchsige Landschaft war hier derart unverstellt, daß immer wieder Teilnehmer stehenblieben, um den herrlichen Anblick zu bestaunen. Währen der anschließenden Begehung der Flußtäler und Kastanienwälder wurde immer wieder ein besonderer Reiz vermittelt. Das Durchqueren alter und kleiner Ortschaften, in denen nur wenige Menschen lebten und deren Häuser aus Naturstein gebaut waren, lud immer wieder aufs Neue zum Betrachten ein.

 

Nach den Beobachtungen des Bewährungshelfers setzte die positive Bestärkung durch die Gruppe bei einzelnen Teilnehmern besondere Kräfte frei. So schrieb zum Beispiel einer der Teilnehmer durch die gesamte Wanderung hinweg ein Tagebuch, welches die Geschehnisse genau dokumentierte. Anfangs war dieser Teilnehmer in der Vorstellung seines Werkes noch etwas zurückhaltend, doch im Laufe der Zeit gab er dann den Wünschen der Teilnehmer nach, doch hin und wieder einige Passagen daraus vorzulesen. Der Teilnehmer berichtete nämlich in seinen Ausführungen in einer besonders netten Art über die Eigenarten der einzelnen Teilnehmer, was bei der Gruppe auf große Anerkennung stieß. Während der gesamten Aktivität hat er sich jeweils Stichpunkte gemacht, die er dann schließlich zu einem 29 seitigen Bericht zusammenschrieb. Bewährungshelfer Reckling ist der Ansicht, daß hier ein Talent zu Tage gefördert wurde, was sich lohnt gefördert zu werden. (Auszug des Berichtes, siehe Anhang B) Ein weiterer Teilnehmer entwickelte ebenfalls besondere Kräfte, indem er der Gruppe viel von seinen Wissen über die Meereswelt und insbesondere über Walfische vermittelte. Wurden seine Ansichten auch nicht immer von der ganzen Gruppe geteilt, so stieß doch sein Kenntnisreichtum über dieses Gebiet auf besondere Anerkennung bei den anderen Gruppenteilnehmern. Bei einer weiteren geplanten Gruppenveranstaltung auf der Burg Ludwigstein soll dieser Teilnehmer einen Diavortrag über sein Wissensgebiet für die teilnehmenden Probanden halten.

 

Abschließend möchte ich nun noch einiges zur ausgesuchten Wanderstrecke anführen. Der von der Gruppe begangene Jakobsweg ist Teil der vom Europarat 1988 ernannten "Ersten Europäischen Kulturstraße". Historisch gesehen hat er viel zur europäischen Identität beigetragen und eröffnet heutzutage die Möglichkeit der gemeinsamen kulturellen Identität unter den Europäern. Die Wanderung ist deshalb nach Meinung des Bewährungshelfers auch ein Stück Kultur- und Bildungsarbeit mit den Probanden. Eine Fortsetzung der Wanderung im Jahre 1997 ist bereits geplant, da nun viele Teilnehmer sich auch das Ziel gesteckt haben, den Jakobsweg bis zum Ende in Santiago de Compostela zu wandern.

 

 

5.3 Die Wanderung aus der Sicht teilnehmender Probanden

 

An dieser Stelle möchte ich nun die Teilnehmer an einer solchen erlebnispädagogischen Wanderung am Beispiel dreier Probanden der Bewährungshilfe Marburg zu Wort kommen lassen. In dem theoretischen Teil über die Erlebnispädagogik als Methode in der sozialen Arbeit habe ich ja viel über die Ziele solcher Maßnahmen angeführt, besonders im Hinblick auf die arbeit in der Straffälligenhilfe. Aufgrund dessen ist es meiner Meinung nach nun wichtig, an einem konkreten Praxisbeispiel, nachzusehen, welche Bedeutung und Effekte die erlebnispädagogische Methode in der Praxis mit sich bringt.

Für diesen Zweck habe ich Kontakt mit dem durchführenden Bewährungshelfer aufgenommen und angefragt, ob es nicht möglich sei, zwei bis drei Teilnehmer dieser Maßnahme zu interviewen, um das Ganze auch aus der Sicht der Adressaten zu beleuchten. Bewährungshelfer Reckling hatte keine Bedenken, was mein Vorhaben anbetraf und arrangierte ein Treffen mit den potentiellen Interviewteilnehmern bei der Bewährungshilfe in Marburg. Im Laufe dieses Treffens kristallisierte sich dann heraus, daß alle drei, der vom Bewährungshelfer Reckling in Betracht gezogenen Teilnehmer bereit waren sich, in einem Gruppengespräch von mir befragen zu lassen. Noch an Ort und Stelle vereinbarten wir einen Termin für die nächste Woche, wo wir uns dann in der Wohnung zweier Probanden treffen wollten. Am Tag des Interviews frühstückten wir zuerst gemeinsam und unterhielten uns eine ganze Weile über alle möglichen Themen. Das technische Hilfsmittel zur Interviewaufnahme stellte ein Kassettenrecorder dar, den wir aus akustischen Gründen während des Interviews mitten auf den Tisch stellen mußten. Zu Beginn hatte ich den Eindruck, die Situation könnte aufgrund dessen zu künstlich und zu aufgesetzt werden, diese Befürchtung bestätigte sich jedoch im Laufe des Interviews keineswegs, denn die Atmosphäre war geradezu entspannt und gelockert, so daß der Kassettenrecorder auf dem Tisch fast in Vergessenheit geriet. Das Interview dauerte ca. 30 Minuten. Aus Platzgründen habe ich dann im Nachhinein einige Passagen, die ich für die Auswertung und konkrete Maßnahme für nicht so wichtig hielt, zusammenfassend dargestellt, ansonsten habe ich die Aussagen Wort für Wort vom Band übernommen und schriftlich festgehalten.

 

Ich möchte nun in Anlehnung an Hans Moser noch einige allgemeine Anmerkungen zur Forschungsmethode des Interviews machen. Im strukturierten bzw. nicht- oder teilstrukturierten Interview geht es generell um die Erfassung vorliegenden Handelns. Das Handeln wird zwar hier nicht durch eine direkte Teilnahme am Handlungsprozeß erhoben, sondern es werden Handlungsteilnehmer befragt, um die gewünschten Gesichtspunkte des Verhaltens zu erfassen. Zu beachten ist bei dieser Methode, daß das Handeln und seine Motive somit auf eine indirekte Weise in Augenschein genommen werden, da immer eine Interpretation durch die Interviewpartner erfolgt. Daraus folgt ebenfalls, daß der Interviewer hier in stärkerem Maße abhängig ist von dem Gesagten als dies bei einer Beobachtung der Fall ist. Im Rahmen eines Interviews existiert eine Vielfalt möglicher Zugriffe, was den Gegenstandsbereich der Fragen betrifft. Es können demnach sowohl Tatsachen und Ereignisse sowie auch Normen und Werte Gegenstand der Fragen sein. Man kann unterscheiden zwischen Erfahrungs- bzw. Verhaltensfragen, Meinungsfragen, Gefühlsfragen, Wissensfragen, Sensorischen Fragen und Hintergrunds- bzw. demographischen Fragen.

 

Gegenstand der von mir gestellten Fragen in den beiden Interviews waren Erfahrungs- bzw. Verhaltensfragen, die darauf Bezug nehmen, was eine Person tut oder getan hat und beschreiben somit Erfahrungen, Verhaltensweisen, Handlungen und Aktivitäten. Des weiteren ging es vorrangig um Meinungsfragen, welche sich auf kognitive und interpretierende Prozesse der Befragten beziehen d.h. also, was die Befragten über gewisse Dinge denken. Dabei werden Intentionen, Wünsche und Werte ausgedrückt. Schließlich beinhalteten die von mir gestellten Fragen nach Moser noch Gefühlsfragen, die auf ein Verstehen der emotionalen Reaktion der Menschen sowie auf ihre Erfahrungen und Gedanken abheben.

 

Zu der Art der Fragestellung läßt sich sagen, daß je nach bestimmter Themenstellung des Forschungsprojektes die Fragen mehr oder weniger offen gestellt werden. Im Rahmen der offenen Fragestellung existieren keine Vorgaben, welche die Antwortmöglichkeiten vorwegnehmen würden, sondern die Frage lenkt auf einen bestimmten Sachverhalt hin, zu dem die Befragten dann Stellung nehmen. Halbstrukturierte Fragen im Gegensatz hierzu geben bereits eine gewisse Richtung vor, was die Beantwortung der gestellten Fragen betrifft. Im Bereich der qualitativen Forschung bevorzugt man deshalb eher offene Fragestellungen, da man daran interessiert ist, wie die Interviewteilnehmer an ein Problem herangehen und wie sie sich dazu äußern. Nützlich für die Planung eines Interviews ist es, die einzelnen Fragestellungen in einem Gesprächsleitfaden vorzustrukturieren. Hier werden dann die einzelnen Inhaltsbereiche angegeben, über die gesprochen werden soll und zu jedem Inhaltsbereich werden dazugehörige Fragen formuliert. Diese Fragen sind unter anderem auch hilfreich, um immer wieder auf das Gesprächsthema zurückzukommen und nicht bei einer bestimmten Fragestellung steckenzubleiben. Um Pannen in einem Interview zu vermeiden, existieren einige Faustregeln, die der Interviewer beachten sollte. Demnach sollten die Fragen kurz und präzise gestellt werden, es sollte nur eine Frage auf einmal gestellt werden und man sollte Fragen vermeiden, in denen die Antwort bereits vorgegeben wird. Abschließend ist hierzu noch zu sagen, daß der Forschende immer vermeiden sollte, mit eigenen Meinungsäußerungen das Interview zu verzerren, wozu eine offene Gesprächssituation schnell verleiten kann. (vgl. Moser, 1995, S. 152 ff)

 

Vor Beginn des Interviews hatte ich mir einen Leitfaden erstellt, an dem ich mich während des Interviews orientieren wollte. Dieser Leitfaden bestand aus sechs Fragen, die ich jedoch in dieser Reihenfolge während des Interviews nicht gestellt habe, da die Teilnehmer vieles schon bei den ersten Fragen mitbeantwortet haben und das Ganze im Laufe des Interviews eine gewisse Eigendynamik entwickelte, der ich meine Fragen entsprechend angepaßt habe. Diese Eigendynamik hatte meiner Meinung nach jedoch sehr viele Vorteile, da hier vieles gesagt und diskutiert wurde, was durch eine bloße Abhandlung meines vorgefertigten Leitfadens wahrscheinlich nicht zur Sprache gekommen wäre.

 

Im Weiteren möchte ich den von mir vorgefertigten Leitfaden vorstellen und mich auch bei der Auswertung des Interviews an ihm orientieren, da zu allen Punkten einiges gesagt wurde und ich eine gewisse Struktur in die Zusammenfassung der Ergebnisse des Interviews hereinbringen möchte. Anschließend werde ich dann aus den zusammengefaßten Ergebnissen versuchen ein Fazit zu ziehen und dies mit der theoretischen Abhandlung aus dem oberen Teil über die Ziele der Erlebnispädagogik in Verbindung bringen.

 

Praktisch gesehen, habe ich vorab die einzelnen Sequenzen des Interviews nach ihrem Inhalt durchgesehen und die einzelnen Aussagen dann den bestimmten Themenbereichen des Leitfadens zugeordnet. Das komplette Interview befindet sich im Anhang und ich werde mich des weiteren ausschließlich darauf beziehen. (siehe Anhang B)

 

Fragen des Leitfadens :

a) Motivation zur Teilnahme?

b) Wie wurde Aktivität erlebt und welche Erfahrungen wurden gemacht?

c) Was konnte in den Alltag übertragen werden und was hat Aktivität letztlich gebracht? ?

d) Die Rolle des Bewährungshelfers?

e) Wie wird diese Aktivität gegenüber üblicher Bewährungshilfearbeit beurteilt?

f) Warum für Straffällige, d.h. was kann Erlebnispädagogik gerade hier erreichen?

 

Zu a): Motivation zur Teilnahme

 

Die erlebnispädagogische Wanderung war lediglich ein Angebot an die Probanden, und die Teilnahme war demnach freiwillig. Zwei der drei Teilnehmer hatten bereits an der Wanderung im Vorjahr teilgenommen und sind ein zweites Mal mitgefahren, weil sie positive Erinnerungen an die erste Maßnahme hatten und hofften in dieser Woche einfach mal ihrem Alltag entfliehen zu können. Der dritte Teilnehmer nahm zum ersten Mal an der Maßnahme teil. Die Gründe für seine Teilnahme waren ebenfalls die Flucht aus dem Alltag und das abgeschottet sein von den alltäglichen Problemen. Der Teilnehmer M. führt an, daß es einfach wie in einer anderen Welt sei, wenn man so eng mit der Natur verbunden ist wie dort in Frankreich und es kein Telefon gibt und keinen Briefkasten, in dem Briefe sind, die Probleme beinhalten. Die Teilnehmerin Ma. gibt an, daß dieses Angebot von der Bewährungshilfe auch für sie die Möglichkeit bot, mal in den Urlaub zu fahren, da dies aus finanziellen Gründen sonst überhaupt nicht zu realisieren gewesen wäre. Des weiteren ist sie der Ansicht, daß nur wenige der Bewährungshilfeprobanden bereit sind an einer solchen Aktivität teilzunehmen und das jemand, der schon lange in einer Vollzugsanstalt gewesen ist, sich wohl kaum davon überzeugen ließe daran teilzunehmen.

 

Zu b): Wie wurde Aktivität erlebt und welche Erfahrungen wurden gemacht

 

Zum Einen wurde die Erfahrung gemacht, daß man sich untereinander sehr gut austauschen konnte, wenn man mit Menschen zusammen war, die das gleiche Schicksal wie man selber teilten. Es wurde beispielsweise darüber gesprochen, wie jeder in das Ganze hineingeraten war und jeder hat ein wenig über sich erzählt und am Ende der Aktivität wußte dann jeder über jeden Bescheid, obwohl die Einzelschicksale nicht in der Gruppe diskutiert wurden, sondern nur innerhalb von zweier-oder dreier-Unterhaltungen. Entscheidend war hier wohl, daß die gleichen Problemlagen die Möglichkeit boten, sich in Sachen Lösungsmöglichkeiten sehr gut untereinander auszutauschen. Gerade in dieser Gemeinschaft und aufgrund des häufigen diskutierens des Straffälligseins und des Umstandes Bewährung zu haben, erwuchs dann nach Aussagen der Teilnehmer in vielen der Vorsatz, keine neue Bewährung mehr haben zu wollen und keine Straftaten mehr zu begehen.

 

Des weiteren wurde es als sehr positiv erlebt, daß bei auftretenden Konflikten in der Gruppe immer nach einer gemeinsamen Lösung gesucht wurde und die Meinung aller gefragt war und nicht der Bewährungshelfer die alleinige Entscheidungsgewalt besaß.

Die Maßnahme wurde außerdem von den Teilnehmern als Chance erlebt, um sich einmal Gedanken über sich selber und über ihr Leben zu machen. Die Teilnehmer führten an, daß dies im täglichen Alltag in dieser Form überhaupt nicht möglich sei, da man aufgrund der ständigen Einflüsse von außen nicht dazu komme, sich einmal ruhig hinzusetzen. Ein Teilnehmer ist der Meinung, die Aktivität habe wie eine Entgiftung auf ihn gewirkt und im Laufe der Maßnahme seien durchaus neue Türen gezeigt worden, die seiner Meinung auch geöffnet wurden. Im Vordergrund steht für alle Interviewteilnehmer wohl die Pause und das Abschalten von ihrem häufig doch stark problembelasteten Alltag. Teilnehmer H. erklärt hierzu sogar, die Maßnahme habe für ihn auch die Möglichkeit geboten, direkt über das nachzudenken, was er verbrochen hat und die Einsicht in ihm hervorgerufen, daß das alles nicht hätte sein müssen und daß er aufgrund dieser Pause vom Alltag erst das Problem, weshalb und wieso er straffällig wurde, erst richtig erkannt habe.

 

Weiterhin geben die Teilnehmer auch an, mit einer ganz anderen Motivation aus dem Urlaub zurückgekehrt zu sein, die ihnen auch dabei half, ihre Angelegenheiten zu Hause viel besser in den Griff zu bekommen. Begründet wird dies von den Probanden mit den Erfahrungen, die sie im Rahmen der Aktivität machen konnten. Sie sind nach ihren Aussagen sehr häufig an ihre eigenen Grenzen gestoßen, da sie wirklich etwas geleistet hatten in dieser Woche und am Ende jedes durchmarschierten Tages sie nur noch ihr Zelt aufgebaut haben und erschöpft auf ihre Isomatten gefallen sind. Die Erschöpfung und die erbrachte Leistung wirkte nach Aussagen der Teilnehmer wie ein Ansporn für sie und zeigte ihnen auch, daß sie etwas erreichen und leisten können. Diese Erfahrung kann ihnen ihr Alltag nur schwer übermitteln, da sie hier nach eigenen Aussagen doch häufig nur unnütz herum sitzen.

 

Die meiner Meinung nach wichtigste Erfahrung für die Teilnehmer ist das gewachsene Gefühl in ihnen anerkannt und angesehen zu sein und eben nicht nur ein Straffälliger zu sein, der in seinem Leben sowieso mehr falsch als richtig gemacht hat. Das Gefühl der Anerkennung erlebten alle drei Teilnehmer ganz stark, wenn sie als Pilger durch die kleinen Ortschaften in Frankreich zogen und die Franzosen sie herzlich als Pilger begrüßten und sie für ihren zurückgelegten Fußmarsch bewunderten. Nasch Aussage der Teilnehmerin Ma. sind sie zwar mit einem Bus voller schlechter Menschen und Straffälliger nach Südfrankreich gefahren, doch dieses Etikett und Stigma war dort nicht mehr relevant und entscheidend, sondern vielmehr, was diese Gruppe als Pilger leisten konnte. Sie als Menschen waren gefragt und gefordert und nicht der Straffällige. Auch Teilnehmer H. führt hierzu an, man habe sich einfach ganz anders gefühlt und zwar viel angesehener und anerkannter als vorher.

 

Zu c) Was konnte in den Alltag übertragen werden und was hat Aktivität letztlich gebracht?

Auf die Frage hin, welche Erfahrungen im Rahmen der Aktivität gemacht wurden und welche davon in den Alltag transferiert werden konnten wurde zuerst einmal die Erfahrung, eine Verpflichtung zu haben genannt. Der Umstand, daß innerhalb einer solchen Gruppenunternehmung jeder sich an gewisse Regeln zu halten hatte, was schon mit dem Zeitpunkt des Aufstehens jeden Tag begann, hat nach Aussagen der Teilnehmer viel bei ihnen bewirkt, und sie haben dies auch mit in ihren Alltag hineingenommen. Sie erklärten, daß jeden Abend geplant wurde, was am nächsten Tag so alles erreicht werden sollte und um welche Uhrzeit sie dafür aufstehen mußten. Das hätte dazu beigetragen, daß sie dies in ihrem Alltag heute auch so planen und nicht bis in den späten Vormittag im Bett liegen blieben, da sie so nichts erreichen könnten und auch sicherlich nicht einer geregelten Arbeit nachgehen könnten. Des weiteren führten die Interviewteilnehmer an, daß sie zum Zeitpunkt der Maßnahme alle arbeitslos waren und so jobmäßig überhaupt keine Verpflichtungen hatten. Während der Aktivität hätten sie gelernt, in der Gruppe zusammenzuhalten, gemeinsam zu arbeiten, Karten zu lesen usw. Man mußte sich aufeinander verlassen und auch Rücksicht nehmen. Nach Aussagen der Teilnehmer ist dies unumgänglich, wenn man eine Woche auf engstem Raum zusammenlebt. Die Aktivität hatte den Teilnehmern zur Folge großen Anteil daran, daß sie nun plötzlich ein ganz anderes Verhältnis zu ihrer Bewährung bekommen haben, ob dies nun das Bezahlen an Gerichtskassen ist oder sonstige Bewährungsauflagen. Sie meinten, daß sie nun erkannt hätten, daß sie diese Auflagen erfüllen müßten und dann im Endeffekt auch dafür belohnt würden. Sie hofften dann ein normales Leben führen zu können wie andere Menschen auch, ohne erneut straffällig zu werden. Die Teilnehmer machten die Maßnahme sogar dafür verantwortlich, daß sie alle drei innerhalb dieses Jahres einen Job gefunden hätten, da sich jeder ein Ziel gesteckt habe und nun einer geregelten Arbeit nachgeht. Begründet wurde dies mit dem Pflichtbewußtsein, welches die Teilnehmer auf dieser Fahrt gelernt hätten und welches ihnen deutlich gemacht habe, daß es so wie bisher nicht weiter gehen könne und daß jeder etwas tun müßte und nicht alles einfach so auf sich zukommen lassen könne. Sich ein Ziel zu stecken habe einzig und allein die Fahrt und das geänderte Verhältnis zur Bewährungshilfe bewirkt. Sie seien so von der Einstellung weggekommen, daß man Arbeitsloser eigentlich ganz gut leben könne. Abschließend läßt sich sagen, daß die Fahrt wohl einen gewissen Motivationsschub ausgelöst hat, der die Teilnehmer aus ihrer passiven Haltung herausgeführt hat und sie dazu veranlaßte aktiv, an ihrer Zukunft zu arbeiten.

 

Zu d) Die Rolle des Bewährungshelfers

Unter diesem Punkt geht es nun darum, wie die Teilnehmer ihren Bewährungshelfer, den  sie sonst nur hinter dem Schreibtisch der Beratungsstelle der Bewährungshilfe antreffen, erlebt haben. Die Teilnehmer erklärten hierzu, daß der Bewährungshelfer Reckling ihnen auf der Fahrt das "Du" angeboten hatte, was ein viel freundschaftlicheres Verhältnis entstehen ließ. Reckling sei im Laufe der Maßnahme mit jedem Einzelnen mal in eine Weile zusammen gelaufen und hatte so die Möglichkeit, die Probanden besser kennenzulernen und umgekehrt. Die Fahrt habe die Probanden erkennen lassen, daß der Bewährungshelfer helfen will und nicht nur einfach seine Arbeit macht. Hier wird also die Authenzität des Bewährungshelfers deutlich, die nach Aussagen der Probanden sehr hilfreich ist, wenn man Bewährung hat und sich ziemlich alleine und verlassen fühlt. Die Teilnehmer geben auch zu Bedenken, daß es für ihren Bewährungshelfer sicherlich auch ein großes Wagnis war, sich auf eine solche Unternehmung einzulassen, da er ja die Verantwortung übernehmen mußte. Hier kommt zum Ausdruck, daß die Teilnehmer dem Bewährungshelfer dieses hoch anrechnen. Sie fühlen sich anscheinend positiv bestärkt, da ihr Bewährungshelfer ihnen zutraut, im Sinne der Maßnahme und der Gemeinschaft bestimmte Regeln einzuhalten und zu akzeptieren

 

Zu e) Wie wird diese Aktivität gegenüber üblicher Bewährungshilfearbeit beurteilt?

Alle drei Teilnehmer führten hierzu den Wandel in der Beziehung zu ihrem Bewährungshelfer an. Ma. sowie M. berichteten von ihren Gefühlen, vor dem ersten Treffen mit dem Bewährungshelfer im Rahmen der Bewährungsauflage. Es herrschten hier anfangs allgemein die Befürchtungen, daß dort ein Mensch sie erwarte, nur sein Kreuzchen nach Erscheinen der Probanden machen muß. Sie sollten ihm als völlig Fremden ihre Probleme anvertrauen. Diese Befürchtungen bringen ganz deutlich den Zwangscharakter der Bewährungshilfe zum Ausdruck. Man ist in keinster Weise bereit, sich einem völlig fremden Mensch vom Amt zu öffnen. Folge ist, ein schwieriges Arbeiten mit den Probanden, da diese Distanz nahezu unüberwindbar ist. Die Teilnehmer beschrieben im Interview jedoch den Wandel dieser Beziehung von einer Zwangsbeziehung zu einem nahezu freundschaftlichen Verhältnis. Hilfreich waren hier, die Einzelgespräche, die eine Basis für ein effektives Arbeiten legten.

 

Die drei Interviewpartner waren außerdem der Ansicht, daß die herkömmliche Bewährungshilfearbeit eher dazu führt, daß die Probanden die Bewährungshilfe zwar aufsuchen, in ihrem Leben jedoch ansonsten nichts verändern. Nach der Maßnahme haben alle drei Probanden keine Mahnung von der Bewährungshilfe mehr bekommen, sich dort zu melden, sondern sind hin und wieder zwanglos auf einen Freundschaftsbesuch dort vorbeigegangen. Innerhalb dieser Gespräche wurden entweder Problem angesprochen oder einfach ungezwungene Gespräche geführt. Weiterhin vertreten die Probanden die Ansicht, daß eine solche Aktivität die Beziehung zur Bewährungshilfe und zum Bewährungshelfer enorm festigt und dazu beiträgt, die Angelegenheit der Bewährung und den darin liegenden Sinn ernst zu nehmen. Als Beweis hierfür führten sie einen Ausflug ins Eisstadion an. Sie seien die einzigsten Teilnehmer gewesen, da sie die Sache inzwischen ernster nehmen würden als die Anderen. Hinzu kommt noch, daß nach Meinung der Probanden die Teilnehmer einer solchen Aktivität ihre Probleme besser kennenlernen und verstehen als Bewährungshilfeprobanden, die alle zwei Monate einmal zum Bewährungshelfer gehen, dabei schon Mißbehagen verspüren und froh sind, wenn sie das Büro der Beratungsstelle wieder verlassen haben. Begründet ist dies nach Aussagen der Probanden darin, daß der Bewährungshelfer und die ganze Institution der Bewährungshilfe als negativ empfunden wird aufgrund der engen Anbindung an die Justiz. Eine gemeinsam durchgeführte Aktivität wie die erlebnispädagogische Wanderung auf dem Jakobsweg in Frankreich, ist ihrer Meinung nach in der Lage, dieses negative Etikett ein wenig abzubauen und dazu beizutragen, ein völlig anderes Verhältnis zur Bewährungshilfe und zur Bewährung zu bekommen.

 

Zu f) Warum für Straffällige, d.h. was kann es gerade bei dieser Zielgruppe erreichen?

 

Ein Interviewteilnehmer führte hierzu an, daß er, wie viele andere Bewährungshilfeprobanden am Anfang der Bewährungszeit psychisch sehr angegriffen und oft niedergeschmettert gewesen sei. Eine Aktivität außerhalb der üblichen Bewährungshilfe könne dazu beitragen, sich losgelöst vom Alltag und den damit verbundenen Problemen Gedanken darüber zu machen, wo man im Moment stehe und wie es in Zukunft weitergehen könne und solle. Vorschub leiste hier der Umstand, daß während der Maßnahme niemand da sei, der mit neuen Problemen an Einen herantreten könne und damit erneut das Gleichgewicht damit zum Wanken bringe. Bei Probanden, die eine solche Aktivität nicht machen könnten, komme es demnach nicht zu dieser Phase der Besinnung. Sie seien von ständig neuen Problemen überflutet und demzufolge fehle die frische Motivation, um ihr Leben neu zu ordnen und zu verändern. Der Teufelskreis, in dem sich Straffällige oft befinden kommt hier zu keiner Unterbrechung und die Spirale der negativen Erfahrungen und Mißerfolge dreht sich immer weiter. Weiteren gaben die Teilnehmer an, auf einer solchen Maßnahme keine Fassade errichten zu müssen, die versucht negative Eigenschaften wie das Straffälligsein zu vertuschen. Hier wird wieder der Vorteil erwähnt, mit Menschen zusammen zu sein, die das gleiche Schicksal teilen und denen man deshalb auch ungeschönt gegenübertreten kann. Die Probandin Ma. fügte hier noch hinzu, daß gerade die einsame Gegend dort in Frankreich, wo die Gruppe auf sich allein gestellt war, viel dazu beigetragen habe, das Miteinander zu lernen und das sich auf den Anderen Einlassen zu üben. Sie führte sich selbst als Beispiel an und machte deutlich, daß unter den Straffälligen Einzelgänger seien, die keinen großen Freundeskreis besäßen. Eine solche Maßnahme biete für diese Menschen eine enorme Chance das Miteinander zu erlernen und auch schätzen zu lernen. Dem stimmte auch Interviewteilnehmer H. zu und führte das Beispiel von Gefangenen in Strafvollzug an, die seiner Meinung nach ihre Strafe absäßen und dabei ihre Frustrationen nicht abbauen könnten. Damit werde überhaupt nichts erreicht und der Gefangene habe dort nicht die Möglichkeit etwas an sich zu verändern bzw. an sich zu arbeiten. Im Gegensatz hierzu biete eine Maßnahme im Rahmen der Erlebnispädagogik durchaus die Chance, an sich zu arbeiten und neue Wege im Leben einzuschlagen.

 

 

5.4 Zusammenfassung der Ergebnisse

 

Ich möchte nun die Ergebnisse der beiden von mir durchgeführten Interviews zusammengefaßt darstellen und mit dem theoretischen Ausführungen aus dem oberen Teil zur Methode der Erlebnispädagogik mit Randgruppen, hauptsächlich mit Straffälligen in Verbindung bringen.

 

Das Interview mit dem durchführenden Bewährungshelfer der erlebnispädagogischen Maßnahme Peter Reckling hat zum Ausdruck gebracht, daß er vorrangig das Ziel verfolgt, eine gewisse Nähe zum Probanden herzustellen, um effektiv an Veränderungen arbeiten zu können. Reckling ist der Ansicht, daß Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe eine Chance bietet, um an positiven Erfahrungen anzusetzen und weniger mit der Stigmatisierung der Straffälligkeit zu arbeiten, was ja ein generelles Charakteristikum der Straffälligenhilfe ist. Die vollbrachte Leistung der Teilnehmer im Laufe einer solchen Maßnahme sieht er als eine positive Bestärkung der Probanden, welche im krassen Gegensatz zu den sonstigen Erfahrungen der Teilnehmer steht, die eher von Mißerfolgen und daraus resultierender Resignation geprägt sind. Aus positiven Bestärkung der Probanden heraus, die merken, daß sie in der Lage sind, etwas zu erreichen und zu leisten, erhofft sich Peter Reckling einen Motivationsanschub auch für ihr alltägliches Leben und die dort vorhandenen Probleme. Außerdem sollen die Teilnehmer einer solchen Maßnahme lernen, sich mit sich selber und ihrem Verhalten auseinanderzusetzen, da hier keine Gruppenzwänge und -normen herrschen, denen sie sich anpassen müssen. Innerhalb der Gruppe können sie sie selber sein und so auch Neuerkenntnisse über sich gewinnen. Außerdem ist nach Reckling eine solche Gruppenaktivität auch dazu geeignet, fehlende Lernprozesse nachzuholen und den Umgang miteinander zu erlernen, sowie auch die Teilnehmer mit ihren eigen Taten und Handlungen zu konfrontieren. Peter Reckling sieht in der Durchführung von Gruppenaktivitäten eine Möglichkeit, den Zwangscharakter der Bewährungshilfe abzuschwächen. Er fühlt sich in die Lage versetzt, mit den Probanden an ihren Problemen zu arbeiten, da diese, anders als im Büro der Beratungsstelle im Laufe einer solchen Maßnahme sehr schnell zum Vorschein kommen. Für die Probanden sieht er hier auf der anderen Seite auch die Chance einmal Erfahrungen zu machen, die nicht negativ belastet sind, sondern die sie im Gegenteil positiv bestärken und daraus auch Kräfte für die Bewältigung ihre alltäglichen Angelegenheiten freisetzen.

 

Das Interview mit den teilnehmenden Probanden hat ähnliches ergeben. Die von dem Bewährungshelfer verfolgten Ziele wurden auch von den Probanden als Ergebnisse der Maßnahme wahrgenommen. Für sie war die Fahrt zunächst nur eine Gelegenheit dem Alltag und den dortigen Problemen zu entfliehen. Sie begrüßten den Umstand, sich während der Maßnahme mit Menschen ähnlichem Schicksal austauschen zu können und Lösungsmöglichkeiten ähnlich gelagerter Probleme miteinander diskutieren zu können. Für die Teilnehmer bot die einwöchige Maßnahme außerdem die Chance, sich über sich selber und die eigene Lebenssituation Gedanken zu machen. Weiterhin lernten sie das Miteinander und aufeinander Einlassen in der Gruppe sowie das Gefühl, sich aufeinander zu verlassen und auftretende Konflikte gemeinsam lösen zu können. Nach eigenen Angaben sind sie mit einer ganz neuer Motivation aus dem Urlaub zurückgekehrt, da sie auf der Fahrt etwas geleistet und erreicht haben, was ihnen einen gewissen Ansporn gegeben hat auch die Angelegenheiten zu Hause anders anzufassen. Des weiteren hat ihnen die Wanderung auch das Gefühl verliehen, irgendwo Anerkennung unabhängig von dem zu finden, was sie in der Vergangenheit vielleicht falsch gemacht haben. Sie waren in Frankreich als Gruppe von Pilgern angesehen, und der zurückgelegte Fußmarsch rief bei Anderen Bewunderung und Anerkennung hervor, was den Teilnehmern nach eigenen Aussagen sehr gut getan hat.

 

Für einen entscheidenden und wichtigen Lerninhalt dieser Maßnahme hielten alle drei Teilnehmer das dort entstandene Pflichtbewußtsein für sich selber und für andere, welches sie ihren Aussagen nach auch in den Alltag mit genommen haben. Die Wanderung hat ihnen demnach deutlich gemacht, daß es wichtig, ist etwas zu unternehmen und zu tun, wenn man etwas erreichen will. Sie lernten, daß die eigene Zukunft gestaltbar und demnach die jetzige Situation aus eigenen Kräften heraus veränderbar ist. Aufgrund von Arbeitslosigkeit hatten die Teilnehmer nach eigenen Angaben keinerlei Verpflichtungen gehabt und lebten in den Tag hinein. Die erlebnispädagogische Maßnahme habe ihnen jedoch beigebracht, Verantwortung und Verpflichtung zu übernehmen und aktiv an der Gestaltung von Situationen mitzuwirken, bzw. diese nach eigenen Bedürfnissen zu verändern. Die Probanden waren sogar der Ansicht, daß sie alle drei aufgrund dessen nun eine Arbeitsstelle angenommen haben und ein relativ geregeltes Leben führen. Aus der Sicht der Probanden hat die Wanderung ihr Verhältnis zur Bewährungshilfe und zum Sinn der Bewährung verändert. In Frankreich ist ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Probanden und ihrem Bewährungshelfer entstanden. Die Person des Bewährungshelfers als Mensch kam zum Vorschein. gekommen. Im Gegensatz zu der üblichen Arbeitsweise der Bewährungshilfe ist hier nach Meinung der Teilnehmer der Zwangscharakter, der Bewährungshilfe mit all ihren negativen Stigmata durchbrochen worden und es entstand ein freundschaftliches Verhältnis, welches dazu beigetragen hat, sich dem Bewährungshelfer zu öffnen und an Problemen zu arbeiten. Die Überwindung der Distanz hat des weiteren dazu beigetragen die Angelegenheit der Bewährung einmal mit ganz anderen Augen zu sehen und zu erkennen, daß es wichtig ist, sich an Auflagen und Forderungen zu halten, um dann im Nachhinein ein  normales Leben führen zu können. Abschließend beurteilen die Teilnehmer die Aktivität als Möglichkeit neue Türen und Wege zu eröffnen und auch in Zukunft an sich zu arbeiten.

 

Im Weiteren möchte ich nun damit fortfahren, die im oberen theoretischen Teil angeführten Ziele der Erlebnispädagogik und Kriterien, die für eine Erlebnispädagogik mit Straffälligen sprechen, mit den Ergebnissen meiner Interviews in Verbindung zu bringen. Meine Absicht ist hier, die Theorie der Literatur über Ziele und Merkmale der Erlebnispädagogik an einem konkreten Praxisbeispiel festzumachen und zu prüfen, was in der Praxis leistbar ist. Für diese Überprüfung habe ich mir die Ausführungen von Werner Nickolai und Stephan Quensel ausgesucht, da ich der Meinung bin, daß sie die Lebenssituationen Straffälliger sehr gut erfassen und daraus Schlüsse ziehen, die für erlebnispädagogische Maßnahmen mit dieser Zielgruppe sprechen.

 

Nach Nickolai sind vor allen Dingen fehlende und bruchstückhafte Schul- und Berufsausbildungen sowie gestörte und soziale Beziehungen und die Unfähigkeit, mit der eigenen Freizeit umzugehen Gründe, die eine Straffälligkeit im jugendlichen Alter und als junge Heranwachsende begünstigen. Hinzu kommt ein wesentliches jugend- und entwicklungspsychologisches Element, welches zum Ausdruck bringt, daß hinter vielen kriminellen Handlungen das Bedürfnis nach Abenteuer steht, verbunden mit der Notwendigkeit, aktiv Erfahrungen sammeln zu müssen, um gegebene Grenzen kennenzulernen. Daraus läßt sich ableiten, daß Jugendliche in der Strafhaft wohl abgebrochene Schul- und Berufsausbildungen nachholen können, hier jedoch keine Erlebnisfelder geöffnet werden, die das Bearbeiten gestörter Beziehungen oder der Unfähigkeit, mit der eigenen Freizeit umzugehen, ermöglichen würden. Des weiteren werden hier kaum pädagogische Werte wie Verantwortungsgefühl, Selbständigkeit und Eigeninitiative vermittelt. Dies betrifft außer den Inhaftierten auch diejenigen, die sich in den ambulanten Maßnahmen der Straffälligenhilfe befinden. (vgl. Nickolai, 1991, S. 39 ff)

 

Sieht man sich hierzu die Angaben über die Erfahrungen der Marburger Teilnehmer an, so wird deutlich, daß sie nach eigenen Angaben sehr wohl gelernt haben, Verantwortung zu übernehmen und Eigeninitiative zu entwickeln. Einige der Teilnehmer gaben im Interview an, Einzelgänger gewesen zu sein und auf dieser Maßnahme erst das Miteinander kennen und schätzen gelernt zu haben. Soziale Beziehungen zu den anderen Teilnehmern aufzubauen und diese zu pflegen, gaben alle drei Teilnehmer als eine wichtige Erfahrung an, welche für sie auch den Vorteil des gegenseitigen Austausches und der gemeinsame Suche nach Lösungsmöglichkeiten mit sich brachte. Alle diese Erfahrungen stimmen demnach sehr genau mit den von Nickolai genannten Defiziten dieser Problemgruppe überein, womit die Teilnehmer ihn durch ihre Aussagen bestätigen.

 

Stephan Quensel erweitert in seinen Ausführungen die Kriterien noch, die für den Einsatz von erlebnispädagogischen Aktivitäten im Bereich der Straffälligenhilfe sprechen. Seiner Meinung nach sollte eine professionelle Sozialarbeit versuchen, die positiven Seiten der Klienten zu fördern und nicht ständig ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die negativen Seiten der Klienten richten. Die Suche nach den negativen Eigenschaften ruft diese dem Klienten besonders ins Bewußtsein und erzielt somit gerade einen nicht erwünschten Effekt. Erlebnispädagogische Aktivitäten sind nach Quensel ein ideales Medium, um die positiven Seiten der Klienten zum Vorschein zu bringen, was die Teilnehmer des Marburger Projektes auch in der Praxis bestätigen. Einer der Teilnehmer schrieb am Ende der Maßnahme einen 29seitigen Bericht darüber und ein anderer Teilnehmer erfreute den Rest der Gruppe mit seinem vielfältigen Wissen über die Meereswelt. Hier wurden zwei Talente entdeckt, die ansonsten vielleicht im Verborgenen geblieben wären.

 

Des weiteren konstatiert Quensel, daß Erlebnispädagogik eine Möglichkeit für Randgruppen und somit auch Straffällige bietet, um diese aus ihrer alltäglichen Erfahrungswelt herauszunehmen und an Fähigkeiten anzusetzen, die ihnen sowieso näher liegen. Diese Zielgruppe muß sich in der Regel mit Betreuern und Sozialarbeitern verbal über ihre Problemlagen und ähnliches auseinandersetzen, was ihnen jedoch aufgrund häufig fehlender schulischer und beruflicher Qualifikationen sehr schwer fällt. Erlebnispädagogik kann hier im praktischen Bereich ansetzen und entspricht somit stärker der Lebenswelt der Betroffenen. Sie holt sie dort ab, wo sie gerade stehen. Später kann hier dann auch die Lösung von vorhandenen Problemen in die Arbeitsweise miteinfließen. Quensel ist auch mit seinen Feststellungen sehr nahe an der Realität der Betroffenen, denn auch die Marburger Bewährungshilfeprobanden berichten von einem Unbehagen während den ersten Gesprächen beim Bewährungshelfer, da sie ein völlig fremder Mensch erwartete, mit dem sie sich über ihre Probleme unterhalten sollten. Die Wanderung in Frankreich machte ihnen deutlich, daß der Bewährungshelfer ein Mensch ist, der sich für ihre Probleme interessiert und sich für sie einsetzt. Die Schwellenangst vor dem Bewährungshelfer und Institution der Bewährungshilfe verringerte sich aufgrund dessen und es entstand ein anderes Verhältnis, welches im Nachhinein ein effektiveres Arbeiten ermöglichte. Auch wurden auf der Wanderung nicht ständig die Probleme der Einzelnen diskutiert, sondern im Vordergrund stand die praktische Tätigkeit und Bewältigung der erforderlichen Aufgaben wie Kochen, Waschen, Karten lesen und den Wanderweg sowie Übernachtungsmöglichkeiten und zu organisieren. Diese praktischen Tätigkeiten lagen wohl den Marburger Probanden auch näher als das ständige Diskutieren der eigenen Lebensgeschichte und den negativen Eigenschaften der Einzelnen. Natürlich kam es auch hier zu Konflikten und problematischen Verhaltensweisen der Einzelnen, die im Laufe der Maßnahme dann zum Thema wurden. Entscheidend ist doch, daß hier ein neuer Zugang zu ihnen gefunden wurde über den praktischen Bereich, der der Lebenswelt der Probanden eher entspricht, zu gehen.

 

Als nächstes Kriterium führt Quensel die Notwendigkeit an, die Beziehungen der Betroffenen zu ihrer Umwelt und zu dem Pädagogen zu normalisieren, da diese Beziehungen häufig davon gekennzeichnet sind, daß die Klienten hier als kriminell und verwahrlost gelten und sich auch dementsprechend verhalten. Erlebnispädagogische Aktivitäten bieten nach Quensel die Chance zur Normalisierung der Beziehungen, da die Betroffenen in die Lage versetzt werden, Anderen etwas anzubieten mit ihnen wetteifern und gemeinsame Erlebnisse zu haben. Das hat zur Folge, daß sie erleben können ganz anders als bisher aufgenommen und anerkannt zu werden. Ein hervorragendes Beispiel hierzu sind die Aussagen der Teilnehmer der Marburger Maßnahme über ihre Gefühle, als sie als Gruppe von Pilgern durch die französischen Ortschaften gewandert sind und die dortigen Franzosen sie freundlich begrüßten und aufnahmen. Die Probanden berichten hier selber, daß es ein gutes Gefühl war anerkannt und bewundert zu werden für den zurückgelegten Fußmarsch. Sie fühlten sich nicht mehr als Straftäter, wie sie es aus ihrem Alltag gewohnt sind. Das Selbstbewußtsein und das Selbstvertrauen der Probanden hat aufgrund dessen eine enorme Steigerung erfahren und ihnen aufgezeigt, daß die Straffälligkeit nicht das einzige Kriterium zur Eigendefinition ist über das sie sich definieren können, sondern viel entscheidender ist, was sie leisten und erreichen können.

 

Im Weiteren geht Quensel auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten ein, die ebenfalls die Situation straffällig gewordener Menschen mit beeinflussen. Tatsache ist für ihn, daß viele delinquente Jugendliche und junge Erwachsene in der heutigen Zeit aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Ausgangssituationen kaum eine reale Chance haben, jemals wieder voll im Arbeitsprozeß anerkannt zu werden, aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Ausgangssituationen. Wichtig ist deshalb seiner Meinung nach, dieser Zielgruppe zu vermitteln, wie sie ihre Freizeit sinnvoll gestalten und mit Arbeitslosigkeit umgehen können. Wichtig ist außerdem ihnen aufzuzeigen, daß sie etwas tun müssen und ihnen die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen, damit sie einen Ansporn haben Neues auszuprobieren und die eigenen Fähigkeiten zu trainieren. Nach Quensel tragen besonders Erfahrungen während erlebnispädagogischen Maßnahmen dazu bei an inneren und äußeren Widerständen zu arbeiten und sie selber weiterzuentwickeln. Auch hiervon berichten die Marburger Probanden, denn ihren Aussagen zur Folge sind sie mit einer völlig anderen Motivation von der Reise zurückgekehrt und hatten nun einen Ansporn, die Angelegenheiten zu Hause endlich in den Griff zu bekommen und die eigene Zukunft aktiver mitzugestalten anstatt einfach alles auf sich zukommen zu lassen. Das Problem der Gestaltung der eigenen Freizeit sprechen sie ebenfalls an, indem sie angeben, zu Hause doch nur meist unnütz herumzusitzen. Die Teilnehmer lernten in der Schönheit der südfranzösischen Natur, vom Alltag abzuschalten und sich stärker über die eigene Lebenssituation. Die intensiven Erlebnisse machten ihnen deutlich, daß es sich lohnt, etwas zu unternehmen, da es so viel schönes im Leben geben kann.

 

Weiterhin erklärt Quensel, daß das Leben von Delinquenten stark von Rückschlägen und Mißerfolgserlebnissen geprägt ist und das die einzigsten Erfolgserlebnisse in abweichenden Verhaltensweisen verbucht werden könnten. Die Folge ist ein sehr geringes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen der Betroffenen. Diese Mißerfolgsspirale kann nach Quensel ideal im Rahmen erlebnispädagogischer Aktivitäten unterbrochen werden, nicht jedoch mit dem typischen Sozialarbeiter- und Therapeutenverhalten, welches nur die negativen Seiten der Klienten unterstreicht. Erlebnisorientierte Projekte bieten die Möglichkeit Erfolgserlebnisse zu sammeln, was die Marburger Probanden eigentlich während des gesamten Interviews bestätigen. Alle Erfahrungen auf der Wanderung konnten von den Teilnehmern als positive Leistungen verbucht werden und sind somit ihn der Lage, ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstbewußtsein zu stärken.

 

Abschließend gibt Quensel noch zu Bedenken, daß Straffällige sowie auch andere Zielgruppen der Sozialarbeit in der Regel von einem System von Regeln und einem Behördenapparat verwaltet werden, der nicht ihre Sprache spricht. Pädagogischer Werte wie Pünktlichkeit, Verantwortung, Zuverlässigkeit und Beständigkeit werden hier häufig rein theoretisch vermittelt, ohne daß es zur praktischen Erprobung kommt. Es wird nicht geübt etwas von langer Hand zu planen, abgesehen von Straftaten vielleicht, noch selbst Regeln zu setzen oder für andere verantwortlich zu sein. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Strafhaft, die die Inhaftierten auf ein Leben außerhalb des Vollzuges vorbereiten will, ohne jedoch den Gefangenen die Möglichkeiten zur praktischen Umsetzung des Erlernten zu geben. Im Rahmen einer erlebnispädagogischen Maßnahme müssen vermittelte Werte nicht nur bloße Dressur bleiben, sondern können unter der kritischen Betrachtung der gesamten Gruppe vom Einzelnen auch in die Praxis umgesetzt werden. Die Marburger Bewährungshilfeprobanden, die an der Wanderung teilgenommen haben, berichten ebenfalls davon, daß sie gelernt hätten, Regeln einzuhalten und zu akzeptieren, Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen sowie Rücksichtnahme und Toleranz im Umgang miteinander zu üben

 

Aus  den genannten Punkten ergibt sich, daß vieles, was von Quensel und Nickolai als Vorteil der Erlebnispädagogik im Bereich der Straffälligenhilfe angeführt wurde mit den Erfahrungen und Aussagen der Marburger Probanden übereinstimmt. Auch die Ziele und Erwartungen, die der durchführende Bewährungshelfer Peter Reckling formuliert hat, haben nach Aussagen der Teilnehmer ihre Wirkung erzielt und vor allen Dingen den Zwangscharakter in der Beziehung zur Bewährungshilfe aufgebrochen, was wohl in Zukunft ein effektiveres Arbeiten zur Folge haben wird.

 

 

5.5 Fazit und kritische Würdigung

 

Wie bereits erwähnt hat die Marburger Bewährungshilfe durchaus gute Erfahrungen mit erlebnispädagogischen Maßnahmen gemacht und auch die teilnehmenden Probanden haben die positiven Auswirkungen solcher Aktivitäten deutlich zum Ausdruck gebracht. Um hier jedoch nicht ein einseitiges Bild der Thematik entstehen zu lassen, möchte ich im Folgenden die durchaus berechtigte Kritik an solchen Aktivitäten erwähnen, die einerseits mehrfach in der aktuellen Literatur diskutiert wird, andererseits mir selbst als problematisch aufgefallen ist.

 

Einer der wohl in der Fachdiskussion am häufigsten auftauchenden Kritikpunkte an der Erlebnispädagogik ist der der Transferproblematik. Hier wird zum Ausdruck gebracht, daß die meisten erlebnispädagogischen Projekte fernab von der Lebenswelt der Betroffenen durchgeführt werden, wie dies z.B. bei. Langzeitmaßnahmen in den Pyrenäen, auf Sardinien oder in Griechenland der Fall ist. Nach Meinung einiger Kritiker hat die mangelnde Lebensweltorientierung zur Folge, daß ein Transfer der gemachten Erfahrungen in die alltägliche Lebenswelt deshalb häufig nicht gelingt. Es stoßen hier demnach zwei Welten aufeinander: einerseits die Abenteuer- und Erlebniswelt und andererseits die Lebenswelt, die sich nach Meinung der Kritiker nicht miteinander verbinden lassen. (vgl. Schuhmann, !997, S. 92 ff)

 

Wolfgang Antes ist ebenfalls der Ansicht, daß die unter der Transferproblematik zusammengefaßte Kritik durchaus einen konzeptionellen Knackunkt der Erlebnispädagogik darstellt und daß diese Kritik ernstzunehmen ist. Es stellt sich die Frage, wie Teilnehmer, die bestimmte Erfahrungen in einem Umfeld gesammelt haben, welches sich deutlich von ihrem Alltagleben unterscheidet, diese dann in ihren Alltag übertragen und nutzbar machen können. Antes versucht diese Kritik zu entkräften, indem er anführt, daß das Lernen an einem fremden Ort, unter fremden Bedingungen sowie auch in der Regel mit fremden Menschen, vorrangig eine Möglichkeit bietet, um überhaupt bestimmte Lernprozesse zu aktivieren, die in der Regel aufgrund negativer Erfahrungen vorher nicht möglich waren. Des weiteren gibt er zu Bedenken, daß natürlich die Struktur einer erlebnispädagogischen Aktivität viel dazu beiträgt, ob ein Transfer der gemachten Erfahrungen ins Alltagsleben möglich ist. Seiner Meinung nach sollten hierzu flankierende Maßnahmen nutzbar gemacht werden, was bedeutet, daß die Maßnahme nicht als isolierte Aktivität angeboten werden sollte. Eine intensive Vor- und Nachbereitung sollte erfolgen, wie auch tägliche Reflexionsrunden. In der Vorbereitungsphase sollten demnach Lernziele deutlich und bewußt formuliert werden und die Teilnehmer sollten auf die bevorstehenden Erlebnisse vorbereitet werden. Die Nachbereitung kann dann die Teilnehmer bei der Übertragung der gemachten Erfahrungen in ihr Alltagsleben unterstützen, indem die Umsetzungsmöglichkeiten der Erfahrungen mit dem Projektleiter reflektiert werden. Die Notwendigkeit der Nachbereitung ergibt sich unter anderem auch daraus, daß gewisse Konflikte bei der Rückkehr in das Alltagsleben entstehen können. Die Konflikte speisen sich meist aus der Tatsache, daß der Teilnehmer aufgrund gemachter Erfahrungen und Erlebnisse zu Einstellungsveränderungen gelangt ist, die den Erwartungshaltungen seines alltäglichen Umfeldes nicht mehr entsprechen, da sich dieses ja nicht verändert hat. Da die Konflikte einer positiven Motivation und Veränderung entstammen, sollten sie aber in Form einer Nachbereitung konstruktiv genutzt werden. (vgl. Antes, 1995, S.17 ff)

 

Annette Reiners sieht den Hauptkritikpunkt der Erlebnispädagogik in der Transferproblematik, da es ihrer Meinung nach schwierig ist, einen Transfer in den Alltag zu beweisen, da die Teilnehmer nach Beendigung der Maßnahme oft das Umfeld des Betreuers verlassen und einer Verfolgung des eventuellen Lerneffektes aufgrund dessen nicht mehr nachgegangen werden kann. Des weiteren gibt sie zu Bedenken, daß nur wenige Studien über die Wirksamkeit erlebnispädagogischer Maßnahmen existieren und wenn, dann wurden sie in der Regel von Mitarbeitern des Projektes oder der Institution verfaßt, was die Objektivität in Frage stellt. Reiners stimmt Antes insofern zu, daß für einen Transfer die Reflexion entscheidend ist. Zentral für sie sind die Erfahrungen, welche auf dem Weg zum Ziel gemacht wurden und nicht so sehr das Ziel als solches. Wichtig sind ihrer Meinung nach immer die Bewältigungsstrategien, die von Teilnehmern angewendet werden, um bestimmte Herausforderungen zu meistern, da diese auch im Alltag zur Lösung von Problemen angewendet werden können und von daher die eigentliche Lernerfahrung darstellen. (vgl. Reiners, 1992, S. 10 f)

 

Ein weiterer Vorwurf an die Erlebnispädagogik manifestiert sich in den Aussagen, daß sie völlig unpolitisch orientiert sei und lediglich eine Freizeitpädagogik ohne wichtigen Erziehungsauftrag darstelle. Demzufolge klammere sie die eigentlichen Probleme der Zielgruppen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Schule und Elternhaus völlig aus und verhindere außerdem Lernchancen einer politischen Bildung. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S.163) In die gleiche Richtung geht das Argument, Erlebnispädagogik sei Kernstück einer reaktionären Pädagogik mit antiaufklärerischer Wirkung. Demnach seien vorrangige Ziele dieser Pädagogik romantische Ideale wie Naturerlebnis, Abenteuer und Gemeinschaft und sie trage weniger dazu bei, den Betroffenen bei der Orientierung in der sie umgebenden Risikogesellschaft zu unterstützen. Nach Schuhmann kommt gerade die antiaufklärerische Tendenz in Parolen zum Ausdruck, daß z.B. Erleben besser ist als Reden. Seiner Meinung nach greift das zu kurz, da hier nicht über die aktuellen Erlebnisse hinausgegangen und somit weder Vergangenheit und Zukunft miteinbezogen werden. (vgl. Schuhmann, 1997, S. 93)

 

Ein weiterer Kritikpunkt gegenüber der Erlebnispädagogik ist, daß sie versucht, Erlebnisse zu planen und sich dann eine entsprechende Wirkung davon auf das Innenleben der Betroffenen erhofft. Hiermit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß die subjektive Wirkung eines Erlebnisses auf den Einzelnen in keinster Weise planbar ist, da zum Beispiel 15 Teilnehmer einer Klettertour die gewonnenen Eindrücke dabei auch 15mal unterschiedlich zu Erlebnissen verarbeiten, was eine Planbarkeit gänzlich ausschließt. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 164) Auch Annette Reiners gibt zu Bedenken, daß im Rahmen erlebnispädagogischer Maßnahmen immer die Frage nach der Bedeutung des Erlebnisses für den Einzelnen offen bleibt. Dem Erlebnis kommt ihrer Meinung nach eine rein individuelle Erfahrungsqualität zu, da die Erfahrung, welche von einer Person durch ein bestimmtes Erlebnis gewonnen wird, für den anderen nicht greifbar ist. (vgl. Reiners, 1992, S. 10) Heckmair und Michl setzen dem jedoch entgegen, daß damit in keinster Weise der pädagogische Auftrag zunichte gemacht werde, da ihrer Meinung nach entscheidend ist, daß die Betroffenen der Überzeugung sind, daß aufgrund erlebnispädagogischer Aktivitäten neue Dimensionen des Lernens für sie eröffnet werden. Dann erst setzt nämlich erst der wichtigste Teil des pädagogischen Auftrages ein, indem am Ende einer erlebnispädagogischen Aktivität das Erleben und das Reden miteinander verbunden wird. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 164)

 

Eine in der Öffentlichkeit viel diskutierte Frage ist die nach der Berechtigung der finanziellen Aufwendungen erlebnispädagogischer Projekte. Saharadurchquerungen mit Drogenabhängigen, Segeltörns mit auffälligen Jugendlichen und Auslandsprojekte in Frankreich und Griechenland lassen die kritischen Fragen auch als durchaus berechtigt erscheinen. Solch kostenintensive Maßnahmen werden in der Regel in Betracht gezogen, wenn das Kind schon in den bekannten Brunnen gefallen ist. Die normale Durchschnittsfamilie mit einem Einkommen und zwei Kindern ist nur in den seltensten Fällen in der Lage, ihren Kindern solche Reisen bieten zu können und hier stellt sich natürlich die Frage, warum man dies gerade auffälligen, delinquenten oder drogenabhängigen Jugendlichen zu Teil werden läßt und ob nicht kostengünstigere Aktivitäten eine ähnliche Wirkung erzielen könnten. Nicht umsonst stellt Wolfgang Gottschalk die Frage, ob man erst klauen und somit ein Verbrechen begehen muß, bevor man einen Segeltörn machen kann oder einen Ausbildungsplatz erhält. (vgl. Gottschalk, 1994, S. 40)

 

Die Gründe für die kritische Betrachtung solcher Aktivitäten liegen meiner Meinung nach zum einen darin, daß seitens der Organisatoren der Maßnahmen zu wenig transparent gemacht wird, was dort geschieht und mit welchen Intentionen es geschieht. Zum anderen wurden schon sehr viele negative Vorfälle im Rahmen von Auslandsprojekten bekannt bei denen sich die Betreuer eine schöne Zeit machten und die Jugendlichen unter unmöglichsten Bedingungen lebten. Beispiele solch negativer Vorfälle werden in der Regel dann über die Presse breitgetreten und oft einseitig dargestellt, was natürlich eine Mißstimmung der Öffentlichkeit gegenüber solchen erlebnispädagogischen Maßnahmen zur Folge hat. Hinzu kommt noch, daß das Erlebnis in der heutigen Zeit einen hohen Stellenwert in der Bedürfnishierarchie der Menschen eingenommen hat und aufgrund dessen nun vermarktet wird und zu einem Konsumgut geworden ist. Hier steht dann Kommerz versus Erziehung und es kommt sicherlich auch vor, daß bei vielen Aktivitäten das Geld in den Vordergrund rückt. Diese Aktivitäten sollten jedoch nicht mit denen, die im Rahmen der Jugendhilfe oder anderer sozialer Einrichtungen angeboten werden, in Verbindung gebracht werden, was leider häufig der Fall ist. Hierzu möchte ich noch ein Zitat von Dr. Jörg Ziegenspeck anführen, welches meiner Meinung nach die Problematik nochmals verdeutlicht: "Erlebnispädagogik ist Erziehung: Die jugend- und sozialerzieherische Potenz muß bei allen Vorhaben und unter allen Umständen definiert sein und sichtbar bleiben, also die jeweilige Praxis begründbar und transparent machen." (Ziegenspeck, 1995, S. 110) Ich denke, diese Aussage drückt außerdem sehr gut aus, daß transparent gemacht werden muß, was in diesen Maßnahmen mit welchen Intentionen und finanziellen Aufwendungen geschieht, um die Praxis begründbar zu machen. Des weiteren kann so Unterstellungen vorgebeugt werden, die die Aktivitäten als Urlaub ohne jeglichen erzieherischen Hintergrund für Betreuer und Teilnehmer ansehen.

 

 

 

6. Schlußbetrachtung

 

Nachdem ich in nun im Rahmen meiner Diplomarbeit der Frage nachgegangen bin, ob erlebnisorientierte Gruppenarbeit eine geeignete Methode in der Arbeit mit Probanden der Bewährungshilfe darstellt, kann ich sagen, daß sie meiner Meinung nach durchaus eine Arbeitsweise ist, über deren verstärkte Anwendung in der Bewährungshilfe nachgedacht werden sollte.

 

Geht man noch einmal zu den Aufgaben der Bewährungshilfe zurück, so bestehen diese nach dem Gesetz darin, dem Verurteilten helfend und betreuend zur Seite zu stehen, um ihn zu unterstützen, ein Leben in Straffreiheit zu führen. Außerdem überwacht der Bewährungshelfer im Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen. Die Bewährungshilfe hat also demnach zwei Funktionen zu erfüllen: einerseits zu helfen und zu betreuen, andererseits zu überwachen und zu kontrollieren. Meiner Meinung nach erschwert diese Aufgabenstellung und der Zwangscharakter der Beratung sowie die enge Anbindung der Bewährungshilfe an das Gericht ein effektives Arbeiten mit dem immer schwieriger werdenden Klientel. Aus diesem Grund bin ich in meiner Diplomarbeit der Frage nachgegangen, ob Erlebnispädagogik in der Lage ist, ein effektives Arbeiten zu erleichtern. Die intensive Auseinandersetzung mit themenspezifischer Literatur sowie das Kennenlernen des Marburger Projektes und teilnehmenden Probanden hat mich überzeugt, daß erlebnisorientierte Gruppenarbeit eine ideale Arbeitsmethode in der Bewährungshilfe darstellen kann.

 

Das Marburger Projekt und die Aussagen der Teilnehmer haben deutlich gemacht, daß aufgrund der Teilnahme an der Maßnahme ein ganz anderes Verhältnis zur Bewährungshilfe entstanden ist, welches anschließend auch eine völlig veränderte Basis für das Arbeiten schuf. Der Zwangscharakter wurde hier weitgehend aufgebrochen, und die teilnehmenden Probanden konnten sich in einer völlig anderen Art und Weise dem Bewährungshelfer öffnen, was eine effektiveres Arbeiten zur Folge hatte. Des weiteren förderte die Maßnahme nach Aussagen der Probanden eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation und ihren Straftaten und hat den Wunsch in ihnen geweckt, in Zukunft ein straffreies Leben zu führen. Die vollbrachten Leistungen im Rahmen des Projektes und die dafür erhaltene Anerkennung von Außenstehenden hat den Teilnehmern gezeigt, daß sie in der Lage sind, etwas zu leisten und zu erreichen und hat ihnen aufgrund dessen Mut und neue Motivation für die Zukunft gegeben. Des weiteren haben die Aussagen über die Zielvorstellungen des durchführenden Bewährungshelfers in den Äußerungen der Teilnehmer Bestätigung gefunden, nämlich, daß hier wertvolle Lernprozesse angestoßen wurden und eine gewisse Nähe entwickelt werden konnte sowie Verhaltensdefizite deutlich wurde.

 

Abschließend möchte ich noch erwähnen, daß Erlebnispädagogik meiner Meinung nach in der Lage ist, die Aufgabenstellung der Bewährungshilfe besser erfüllen zu helfen, da hier eine Situation geschaffen wird, die sich deutlich von der herkömmlichen Schreibtischsozialarbeit unterscheidet. Meiner Auffassung nach ist es so viel besser möglich, den Probanden als ganzen Menschen kennenzulernen und auch wirklich seine wahren Belange und Probleme zu erfahren,. Dies halte ich für entscheidend für die weitere gemeinsame Arbeit und auch für den Arbeitsauftrag der Bewährungshilfe, dem Probanden zu helfen, ein Leben in Straffreiheit zu führen. Diesem Arbeitsauftrag kann man nur gerecht werden, wenn man weiß, mit welchen Menschen man es zu tun hat und wo die Probleme und eventuell unerfüllten Bedürfnisse liegen, die Grund für die Straffälligkeit waren. Die herkömmliche Bewährungshilfearbeit ist meiner Ansicht nach nur schwer in der Lage, die dafür notwendige Nähe zum Probanden herzustellen, da oftmals wegen bestehenden Vorbehalten und aus Zeitmangel vorhandene Probleme, Bedürfnisse und Verhaltensdefizite überhaupt nicht zur Sprache kommen. Des weiteren sind ja wie bereits erwähnt die Erfahrungen und Lebenssituationen Straffälliger in der Regel geprägt von Mißerfolgserlebnissen und Frustrationen, denen eine Schreibtischsozialarbeit nichts entgegenzusetzten hat, da hier keine Lernfelder eröffnet werden, in denen davon abweichende Erfahrungen gemacht werden können. Aufgrund dessen bietet hier ebenfalls die Erlebnispädagogik eine Chance, aus der Mißerfolgsspirale auszusteigen und positive Erfahrungen zu sammeln, die neuen Aufwind für die Zukunft geben. Letztlich wird den Probanden hiermit auch einfach eine neue Form der Freizeitgestaltung an die Hand gegeben, die nicht nur mit illegitimen Mitteln erreichbar ist ,sondern sich im Bereich des Legalen abspielt.

 

In der Praxis der Bewährungshilfe sieht es jedoch bis heute leider so aus, daß erlebnisorientierte Gruppenarbeit nur von Einzelnen und eher sporadisch durchgeführt wird. Wichtig wäre aber, von der dominierenden Arbeitsweise der sozialen Einzelhilfe in der Bewährungshilfe, etwas wegzukommen. Einen Ausweg könnte meiner Meinung nach eine feste Verankerung erlebnispädagogischer Gruppenarbeit in jeder Beratungsstelle bieten und zwar, indem pro Beratungsstelle ein Bewährungshelfer solche Maßnahmen für dort unterstellte Probanden anbietet. Eine andere Variante wäre die Gründung eines Vereins, wie er bereits von einigen Bewährungshelfern geplant wird, der beratungsstellenübergreifend erlebnispädagogische Maßnahmen für Probanden anbietet.

 

Der kritischen Beurteilung erlebnispädagogischer Maßnahmen kann man meiner Meinung nach entgegenwirken, indem transparent gemacht wird, was hier geschieht, mit welchen Intentionen und mit welchem Kostenaufwand. Die Bewährungshilfe Marburg hat ja bewiesen, daß es durchaus möglich ist, kostengünstigere Maßnahmen durchzuführen, die ebenfalls ihre Wirkung haben. In Bezug auf die Transferproblematik ist es wichtig, eine gute Vor- und Nachbereitung der Maßnahmen durchzuführen sowie tägliche Reflexionsrunden abzuhalten. Somit werden den Probanden angestrebte Zielvorstellungen bewußt gemacht und es kann eine Hilfestellung bei der Übertragung der gemachten Erfahrungen in das tägliche Leben gegeben werden. Entscheidend ist meiner Ansicht nach abschließend noch, daß Erlebnispädagogik nicht mit der Erwartung angeboten werden sollte, strafbare Handlungen zu vermeiden. Sie stellt ein Medium dar, welches einen anderen Zugang zur Klientel schaffen kann, wodurch wiederum ein effektiveres Arbeiten möglich wird das einer erneuten Begehung von Straftaten entgegenwirkt.

 

7. Literaturverzeichnis der Diplomarbeit

 

 

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Bürger,M./ Kreuzmayer, P./ Kwiatkowski, B.: Erlebnispädagogik im Rahmen von sozialen Trainingskursen bei der kath. Jugendfürsorge München; in: Erlebnispädagogik: Mode, Methode oder mehr?; Bedacht, A. u.a. (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Wende, S. 168 - 172, Band 12, 2. Auflage, 1994

 

Dräger, Horst:: Erlebnis als unmittelbarer Weg der Führung. Perversionen des Erlebens in der NS-Zeit; in: Erlebnispädagogik; Homfeldt, Hans-Günther (Hrsg.), 2. korrigierte Auflage, 1995, S. 27 - 38

 

Dünkel, Frieder/Spiess, Gerhard (Hrsg.): Alternativen zur Freiheitsstrafe - Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe im internationalen Vergleich, Freiburg 1983

 

Eichmann, Dominik: Keiner hat hier ohne Ideale angefangen; in: Sozialmagazin; 20 Jg., !995, H. 2, S. 48 - 53

 

Gottschalk, Wolfgang: Über die Eignung der Erlebnispädagogik zum Abbau oder zur Vermeidung strafbarer Handlungen gibt es keinerlei ernstzunehmende wissenschaftliche Erkenntnisse, in : Erlebnispädagogik: Mode Methode oder mehr?; Bedacht, A. u.a (Hrsg), Soziale Arbeit in der Wende, Band 12, 2. Auflage, 1994, S. 37 - 42

 

Heckmair, B./ Michl, W.: Erleben und Lernen; 2. überarbeitete Auflage, Luchterhand, 1994

 

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Homfeldt, Hans-Günther (Hrsg.): Erlebnispädagogik - Geschichtliches, Räume und Adressat(inn)en, Erziehungswissenschaftliche Facetten, Kritisches; 2. korrigierte Auflage, 1995

 

Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch; 3. Auflage, 1993

 

Jagenlauf, Michael: Erlebnispädagogik - Mode, Methode oder mehr?; in: Erlebnispädagogik - Mode, Methode oder mehr?; Bedacht, A. u.a. (Hrsg.), Soziale Arbeit in der Wende; Band 12, 1994, S. 32 - 37

 

Jugendrecht: Beck-Texte; dtv, 19. Auflage, 1993

 

Kerner, Hans-Jürgen (Hrsg.): Straffälligenhilfe in Geschichte und Gegenwart; Bonn, 1990

 

Kerner, Hans-Jürgen: Bewährungshilfe; in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch; Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss (Hrsg.), 1993, S. 78 - 82

 

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Maelicke, Bernd: Straffälligenhilfe im Wandel; DBH Materialien, Bonn, 1994

 

Mühlfeld, C./ Oppl, H./ Weber-Falkensammer, H./ Wendt, W. R. (Hrsg.):Soziale Gruppenarbeit; Luchterhand, 1990

 

Moser, Heinz : Grundlagen der Praxisforschung; Lambertus, 1995

 

Nickolai, Werner: Erlebnispädagogik in der Straffälligenhilfe; in: Erlebnispädagogik, Homfeldt, Hans Günther (Hrsg), 2. korrigierte Auflage, 1995, S. 82 - 92

 

Nickolai, W./ Quensel, S./ Rieder, H.: Erlebnispädagogik mit Randgruppen; 2. Auflage, Lambertus, 1991

 

Potthoff, Willi: Einführung in die Reformpädagogik; 2.Auflage, 1994

 

Reckling, Peter:  Erlebnispädagogische Wanderung; LAG Aktuell, 2/96, Frankfurt, 1996

 

Reckling, Peter: Erlebnispädagogik ein Ansatz für die pädagogische Arbeit in der Bewährungshilfe mit problematischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, in : Pädagogischer Umgang mit gewaltbereiten und rechtsradikalen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Bewährungshilfe, 1996, S. 10 - 13, (unveröffentlicht)

 

Reiners, Annette: Praktische Erlebnispädagogik; Fachhochschulschriften Sandmann, 2. Auflage,1992

 

Reiners, Annette : Erlebnis und Pädagogik; Fachhochschulschriften Sandmann, 1. Auflage, 1995

 

Rousseau, Jean-Jaques: Emil oder über die Erziehung; 3. Auflage,1975

 

Schöttler, Bärbel: Erlebnispädagogik - Mode, Methode oder mehr?, in: Erlebnispädagogik - Mode, Methode oder mehr?, Bedacht A. u.a. (Hrsg.); Soziale Arbeit in der Wende, Band 12, 2. Auflage, 1994, S.22 - 28

 

Schulze, Werner: Strafaussetzung und Bewährungshilfe, in : Straffälligenhilfe in Geschichte und Gegenwart; Kerner, Hans Jürgen (Hrsg.), 1990, S. 311 - 332

 

Schellhoss,Hartmut: Resozialisierung, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch; Kaiser, Kerner, Sack, Schellhoss (Hrsg), 1993, S. 429 - 432

 

Schuhmann, Michael: Neue Konzepte in der Jugendarbeit: Erlebnispädagogik als Risikopädagogik, in: Skript zur Einführung in die Sozialarbeit/Sozialpädagogik, Ringvorlesung, WS 96/97, S. 79 - 96

 

Sobottka, Jürgen: Die soziale Arbeit des Bewährungshelfers, Bonn1990

 

Sommerfeld, Peter: Erlebnispädagogisches Handeln, 1993

 

Spieß, Gerhard: Strafaussetzung und Bewährungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland, in: Alternativen zum Freiheitsentzug; Dünkel F., Spiess G. (Hrsg.), Freiburg, 1983, S. 23 - 46

 

Strafgesetzbuch: Beck-Texte, 30. Auflage, 1996

Tögel,Siegfried: Frühformen der Strafaussetzung und der Strafentlassenenhilfe, in :

Straffälligenhilfe in Geschichte und Gegenwart; Kerner, Hans Jürgen (Hrsg.), 1990, S.3-23

 

Wagner Hans: Die Bedeutung einer erlebnisorientierten Freizeitarbeit in der stätionären Hilfe, in : Gefährdetenhilfe, 4/88, S.106 - 109

 

Ziegenspeck, Jörg: "Erlebnispädagogik will helfen, wo andere Hilfen versagen", in: Erlebnispädagogik, Jugenstiftung Baden Würtemberg (Hrsg.), 1995, S. 107 - 111

 

                                          

Anhang A :

 

Interview mit drei der teilnehmenden Probanden an der erlebnispädagogischen Wanderung der Bewährungshilfe Marburg

 

 

Interviewerin: So, ich wollte Euch erst einmal fragen, warum Ihr denn überhaupt da teilgenommen habt, denn das war ja wohl freiwillig und Ihr mußtet das ja nicht machen?

 

Hans: Nee, machen mussten wir es nicht. Och wir sind einfach freiwillig mitgefahren, um hier aus dem Alltag einfach mal rauszukommen, weil es halt ne gute Sache war, was von der Bewährungshilfe angeboten wurde.

 

Manfred: Also bei mir war’s halt so, bei mir war’s halt anders als bei den andern beiden, weil die ja schon mal da waren und Ihr ward bestimmt schon mal da, weil’s halt schön war.

 

Hans: Ja sicher, zum zweiten Mal sind wir mitgefahren, weil’s halt schön war.

 

Manfred: Und bei mir war’s halt einfach so, gut ich war erst drei Monate auf Bewährung: für mich war’s halt eigentlich auch nur mal, dem Alltag zu entfliehen. Aber jetzt, wenn ich da jetzt dieses Jahr wieder mitfahr, dann ist es einfach nur - es gibt nix schöneres, wenn man so ne Natur sieht oder so. Das bindet halt irgendwie auch an die Bewährung, irgendwie wenn man das dann alles sieht und denkt, wenn man jetzt nochmal Mist baut, dann kann man so was nie mehr erleben. Da gehört man halt zu einer ganz anderen Welt, wenn man da nur mit der Natur verbunden ist. Daß kann man gar nicht mit Worte erklären. Für mich ist es eigentlich ne Sucht geworden. Ich weiß haargenau, weil mir halt den berühmte Weg, den Jakobsweg gewandert sind, hab ich mir halt das Ziel gesetzt bis nach Santiago durchzulaufen und wenn ich das alleine durchziehe. Das ist halt irgendwie was ganz anderes, wenn man so mit der Natur verbunden ist. Es gibt kein Alltag, es gibt Nix, es gibt kein Telefon, es gibt kein Briefkasten, wo ein Brief kommt auf dem irgend ein Problem draufsteht.

 

Hans: Ja, die kommen ja, wenn Du wieder zu Hause bist. Aber Du kriegst auch einen anderen Bezug zur Bewährungshilfe irgendwie und zum Bewährungshelfer auch. Der setzt sich dann für Einen auch mehr ein, wenn man - der sieht halt, daß er sich auf Einen verlassen kann, daß man zuverlässig ist und das ist halt - ich weiß nicht.

 

Doris: Bei mir hat das halt mit der Vorgeschichte zu tun. Ich hatte also vorher ein Drogenproblem gehabt. Bin von Kassel hier her nach Marburg gekommen und mir ging es irgendwie gar nicht so gut und den Peter Reckling, den hatte ich auch erst neu kennengelernt. Den hab ich halt hier in Marburg als Bewährungshelfer zugeteilt bekommen und der hat mir das halt angeboten und normalerweise war so ne Gruppenfahrt oder mit anderen Leuten irgendwie länger weg zu fahren gar nicht so mein Ding. Der H. und ich wir haben uns halt überlegt, wenn die Fahrt nix wird, wenn man mit den Leuten irgendwie nicht auskommt oder so, dann machen wir halt wenigstens nen Urlaub für uns. Machen uns halt paar schöne Tage und weil wir halt überhaupt nicht die Möglichkeit hatten, irgendwie anders einen Urlaub zu finanzieren, haben wir halt gesagt, fahren wir mal mit. Gerade weil die Gegend, also ich war schon mal da im Zentralmassiv, und das ist ne tolle Gegend und da haben wir uns gedacht, das bringt auch irgendwie was. Man hat Zeit irgendwie über sich ein wenig nachzudenken und da hab ichs mal auf mich zukommen lassen.

 

Hans: Ja das war ja auch ne gute Sache, daß da vom Gericht irgendwie auch Finanzen dazukamen. Es war jetzt nicht so, daß jetzt von der Seite her gar nix kam. Da sieht man auch, daß das Gericht daran interessiert ist, was weiß ich, die Bewährungshilfe mitzugestalten. Für viele ist es so, die gehen einmal die Woche zum Bewährungshelfer, nur weil sie der Bewährungshelfer sehen möchte und die weiterhin ihren Scheiß bauen und sowas. Aber wenn man da irgendwie mal an sowas teilgenommen hat, so ne Aktivität von der Bewährungshilfe aus, dann ist das irgendwie ganz anders. Man geht beim Bewährungshelfer vorbei, einfach so einen Freundschaftsbesuch mal. Also der Peter hat uns nicht einmal angeschrieben, seit dem wir da mit waren, daß wir da vorbeikommen sollen oder so. Wir gehen halt freiwillig hin und sagen "Hallo" und dann wird halt das besprochen, was vielleicht ein Problem ist oder keins ist.

 

Doris: Auf der Fahrt, da hat er (Bewährungshelfer) uns halt das "Du" angeboten, weils ein bißchen blöd war, wo wir da halt ein paar Tage schon zusammen waren, da immer noch "Sie" zu sagen. Also er hat uns gesiezt und wir ihn und irgendwann hat er halt gesagt : "Wir bleiben jetzt beim Du". Dadurch hat sich das Verhältnis total geändert, irgendwie mehr freundschaftlich jetzt.

 

Interviewerin: Und welche Erfahrungen habt Ihr denn da gemacht, wo Ihr sagen könnt, also als wir dann nach Hause gekommen sind, das hat uns was gebracht und die haben wir halt auch mit in den Alltag nehmen können?

 

Manfred: Das ist auch so die Verpflichtung irgendwie. Also es gibt auch ne Regel, daß man im Team zusammen, kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Drogen.

 

Hans: Ganze Abstinenz war das nicht, nur Alkohol und Drogen waren untersagt.

 

Manfred: Und dann halt auch morgens das Aufstehen, da kann das nicht sein, daß irgendeiner morgens zwei Stunden länger schläft. Es müssen alle da sein und das Aufstehen war schon ein bissel Verpflichtung. Hät man das halt nicht so gemacht, dann hät man das auch irgendwie nicht sehen können und das hab ich mir danach irgendwie in den Alltag mit rein genommen. Weil, wenn ich jetzt morgens bis elf oder zwölf Uhr schlaf, dann kann ich nix erreichen, als wenn ich morgens um acht oder um sieben Uhr aufsteh. Abends hat man sich dann überlagt, was machen wir morgen und wie laufen wir und dafür muß ich um acht Uhr aufstehen, wenn ich das erreichen will. So hab ich das halt zu Hause dann irgendwie gemacht. Ich hatte mir vorher halt das Ziel gesetzt, mir in der Reise alles, meine ganzen Probleme durch den Kopf gehen zu lassen und mal alles aus mir raus zu lassen irgendwie. Und dann hab ich halt dadurch gelernt, daß es wichtig ist, wenn man abends etwas plant, dann zu planen, wann ich früh morgens dann aufstehn muß. Wenn ich bis elf oder zwölf Uhr im Bett lieg, brauch ich mich nicht zu wundern, wenn ich keine Arbeit krieg.

 

Hans: Wir waren alle irgendwie arbeitslos oder sonst was und haben nix gemacht jobmäßig und in der Richtung überhaupt keine Verpflichtungen gehabt. Und dann hat man da doch gelernt irgendwie zusammen zu halten und zusammen zu arbeiten und auch das miteinander Laufen und so was, Karten lesen, den Weg finden. Da mußte sich schon der Eine auf den Anderen verlassen können und es wurde alles gemeinsam gemacht, die ganzen Aktivitäten da in Frankreich. Es war schon ne tolle Sache.

 

Im Weiteren erzählen die Interviewteilnehmer nun von der ersten Wanderung auf dem Jakobsweg im Vergleich zu der zweiten und kommen zu dem Ergebnis, daß beim zweiten Mal alles besser klappte als vorher, da die Organisation besser war.

 

Doris: Bei uns war es halt so, wie wir halt aus Frankreich kamen, wir waren bestimmt noch acht Wochen danach so im Urlaubsfieber in der Fahrt da drin, also es hat lange angehalten irgendwie.

 

Hans: Ja, das war jetzt die Sache zum Urlaub, aber was die Bewährungshilfe betrifft, man kriegt einfach einen ganz anderen Bezug dazu find ich, wenn man sowas mitgemacht hat von der Bewährungshilfe. Ich kann mich noch daran erinnern nach der ersten Fahrt, wo wir dann ins Eisstadion wollten (ebenfalls von der Bewährungshilfe aus) und wo dann  kein Mensch kam. Wir waren die Einzigen, die dann da waren. Da hat man dann doch gesehen, daß wir die Sache ernst genommen haben und die anderen das eben auf die leichte Schulter genommen haben und dachten "Der kann mich grad mal".

 

Doris: Ich kann mich das erste Mal daran erinnern, als ich beim Peter (Bewährungshelfer) saß, ich hab mich echt gefragt, was willste denn da. Jetzt mußt du zweimal im Monat zu dem Kerl halt hin und mußt dich mit dem da über irgendwas auseinandersetzen. Und ich fand schon wichtig über so ne Fahrt oder wir hätten ja auch was anderes machen können, aber daß man sich halt näher kennenlernt und so. Anders miteinander umgeht und jetzt ist das schon in Ordnung so auf einer freundschaftlichen Basis und man hat viel mehr Vertrauen und redet auch ganz anders, als wenn das einfach nur so en Mensch da von so einem Amt ist, dem öffnet man sich gar nicht so.

 

Manfred: Also das find ich auch. Wo ich mit der Bewährung angefangen habe, da dachte ich auch, das ist wie beim Arbeitsamt, wo du alle drei Wochen hingehen mußt, damit die ihr Kreuzchen machen können. Erst auch, aber dann, mit solchen Aktivitäten, da merkt man halt, denen geht es nicht nur um ihren Job, sondern die strengen sich wirklich an, die wollen dir helfen. Das hilft unheimlich, man steht halt ziemlich alleine da, wenn man Bewährung hat. Das ist halt unheimlich wichtig, wenn jemand da ist, der dir zeigt...

 

Doris: Der Peter ist auch während der Wanderung mit jedem Einzelnen mal in so ne Ecke gelaufen und hat mal ein Gespräch geführt, um denjenigen halt kennenzulernen. Also das hat toll funktioniert.

 

Hans: Also, er hat die Leute richtig kennengelernt und jeder selber hat ihn auch besser kennengelernt.

 

Interviewerin: Sind da denn auch mal so Probleme angesprochen worden, wie Ihr zum Beispiel in das Ganze reingekommen seid und warum Ihr Bewährung habt ?

 

Hans: Doch sicher, die Leute gegenseitig haben sich sicher mal darüber unterhalten, wenn man mal so zusammengelaufen ist oder sonstwas. Das man halt mal gesagt hat, weshalb hast Du Bewährung oder so. Weshalb und warum ist es so gekommen. Aber man hat doch gemerkt, alle Leute, die da irgendwie mit waren, die gehen damit nem ganz anderen, die haben halt das Ziel:" Ich will keine Bewährung mehr haben und so. Das ist Scheiße, kein Mist mehr bauen." Das ist ganz anders wie bei Leuten, die auch bei Vortreffen mit waren.

 

Hans erzählt hier weiterhin von potentiellen Teilnehmern der Wanderung, die viel um die Sache herumgeredet haben, letztendlich aber doch nicht mitgefahren sind.

 

Doris: Das sind eben nur wenige von den Leuten, die dazu bereit sind sowas zu machen. Also so Leute, die schon ewig im Knast gesessen haben, die kann man auch nur schwer überreden so ne Fahrt mitzumachen. Ich denk mir, das ist ein kleiner Teil, der auch wirklich dazu bereit ist. Wir haben ja auch wirklich was geleistet, die Kilometer, die wir da laufen und überhaupt das Zusammenleben und so, daß kann ja auch nicht jeder. Man muß auch ne Bereitschaft zeigen, mit anderen Leuten - es war zwar nur eine Woche - aber wenn man eine Woche auf engstem Raum zusammen wohnt praktisch, dann muß man sich schon auf den Einen oder Anderen einlassen und Toleranz zeigen.

 

Hans: Ja für den Peter ist es bestimmt auch nicht einfach, er verläßt sich ja dann auch auf uns. Das wir uns da gegenseitig vertragen und daß nichts passiert. Kann ja passieren, daß da Einer mitfährt und in Frankreich plötzlich auffällig wird, zum Beispiel in einem Geschäft die Taschen vollsteckt. Es wird vorher gesagt, das und das gibt es nicht, das ist Out und daran hält sich dann jeder.

 

Doris erzählt nun von Problemen, die es auf der ersten Fahrt gab und berichtet davon, daß man immer versuchte die Konfliktlösungen gemeinsam in der Gruppe worden sind zu finden.

 

Doris: Da war immer die Meinung von allen gefragt und das hat nicht einfach der Peter entschieden und das war schon so ne Gemeinschaft.

 

Hans: Da kam es ja auch drauf an, das war ja auch Sinn und Zweck der Sache.

 

Interviewerin: Warum meint Ihr, sind solche Aktivitäten gerade etwas für Straffällige, was bringt es gerade den Leuten?

 

Manfred: Ja wenn ich jetzt zum Beispiel bei mir war’s halt so, ich hatte ja gerade frisch Bewährung. Ich war total drunten gewesen eigentlich, wo ich die Reise angetreten hab und bei anderen war das ja auch so, denn die leben ja im Alltag weiter d.h. die Probleme sind immer bei denen drin. Ist klar durch die Reise sind jetzt nicht die Probleme weg, aber du gehst halt ganz anders damit um. Wenn du jetzt irgendwie auf so einer Reise bist, dann kannst du das viel besser verarbeiten, denn es ist halt keiner da, der an dich kommt. Du kannst das alles rauslassen, du kannst dich mit Leuten darüber unterhalten, du kannst alles rauslassen und so. Ich mein wenn du so im Alltag bist, dann frißt man das alles viel mehr in sich rein, aber auf so einer Reise kannste mit anderen reden. Da kannst du der sein der du bist und mußt nicht der sein, was andere vielleicht wolle.

 

Doris: Gerade in dieser einsamen Gegend, wir waren ja wirklich so auf uns gestellt und mußten halt das Miteinander, wie ich zum Beispiel, ich hab überhaupt kein Freundeskreis gehabt, ich war halt so ein Einzelgänger. Ich mußte das mehr oder weniger auch lernen mit anderen Leuten halt auszukommen über diese Zeit und so. Und gerade in dieser einsamen Gegend war das also schon gut zu lernen irgendwie. Man hatte viel Zeit sich halt Gedanken zu machen und so.

 

Hans: Na, weil Straffällige sind ja nun mal ne Problemgruppe genau wie Heimkinder auch oder sowas, was weiß ich. Aber es ist schon gut, daß so etwas unternommen wird, daß die Leute halt auch mal lernen, das gegenseitige Verlassen auf den Anderen und sowas, das ist irgendwie sonst nicht. Wenn jemand in den Knast gesperrt wird, dann sitzt er seine Zeit ab und schiebt nur einen Frust und sowas, was nicht viel bringt. Aber wenn diejenige Person da irgendwie in der Zeit wo er draußen ist, mehr unternimmt und an sich arbeitet, dann bringt das viel mehr. Der sieht dann auch ein, daß er Scheiße gebaut hat und er sieht das Problem, wo es ist. Man sieht’s halt.

 

Interviewerin: Meint Ihr, bei solchen Maßnahmen kann man vielleicht eher die eigenen Probleme erkennen und an sich arbeiten ?

 

Hans: Auf jeden Fall.

 

Doris: Man hat jedenfalls die Zeit dazu, sich überhaupt Gedanken zu machen. Wenn man so zu Hause im Alltag steckt, dann ist irgendwie jeden Tag was anderes und man kommt überhaupt nicht dazu, sich irgendwie ruhig hinzusetzen und über sich und über das Umfeld halt nachzudenken. Da hatte man halt die Möglichkeit, weil von außen keine Einflüsse halt kamen, konnte man sich wirklich die Zeit nehmen und sich da Gedanken machen.

 

Hans: Ja, über die Sache halt selber mal nachzudenken und weshalb man den Scheiß gebaut hat und warum und daß es ja eigentlich nicht sein brauch, daß man das tut, ne. Und dann kriegt man halt auch ein anderes Verhältnis dazu. Was weiß ich, zu dem Ganzen halt was man verbrochen hat. Man sieht halt, man hat Scheiße gebaut. Man sieht das Problem, ne, und läuft nicht daran vorbei, wenn man da einmal oder zweimal im Monat zum Bewährungshelfer geht, da geht man schon mit einem Hals hin. Äh - muß ich wieder da hin und äh - das ist nur Gelaber und da sitzt man ne viertel- oder ne halbe Stunde da, kriegt Fragen gestellt, die beantwortet man, geht raus und das wars. Das Problem ist aber nicht erkannt dadurch und da sieht man halt, ich weiß nicht woran das liegt, man denkt darüber nach. Was hat man gemacht und wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich halt nie in die Scheiße reingeraten oder sonstwas und man sieht halt, daß man Scheiße gebaut hat.

 

Manfred: Man ist halt mit ner ganz anderen Motivation aus dem Urlaub gekommen und hat seine Angelegenheiten zu Hause also die dann zu Hause auf Einen gewartet haben - mir gings jedenfalls so - ganz anders angefaßt jetzt so.

 

Hans: Ja, alles, dieses Ganze, ob das jetzt Bezahlen war an Gerichtskassen oder sonst alles, egal was da jetzt anliegt so an den anderen Bewährungsauflagen. Man hat das alles ganz anders gesehen, man hat plötzlich gesehen, das mußte halt tun, es ist halt wichtig daß du das tust und wenn du es machst, dann wirst du auch im Endeffekt belohnt dafür. Das du nicht wieder straffällig wirst oder sonst was und man führt halt ein normales Leben halt wie andere Leute auch und hat überhaupt keine Lust mehr dazu, irgendwie straffällig zu werden oder sonstwas oder irgendwie nen Scheiß zu bauen.

 

Interviewerin: Habt Ihr denn da auch so in der Gruppe voneinander lernen können?

 

Hans: Ja sicherlich, klar. Man hat darüber gesprochen wie es jedem ergangen ist. Zum Ende der Fahrt wußte eigentlich jeder über jeden Bescheid, obwohl das nicht da in der Gruppe diskutiert wurde oder sonstwas, aber man hat sich schon untereinander ausgetauscht. Und dann hat der mal erzählt und der mal erzählt und das war halt immer mal gut mit jemanden zu reden, der das gleiche Problem hat oder sowas. Und wie der das angeht und so, aber zum Schluß hat jeder den richtigen Weg gefunden, denk ich mal. Auf jeden Fall die Leute, die letztes Jahr mit waren. 

 

Doris wendet hier ein, daß dies nicht bei allen Teilnehmern der Fall war und berichtet von einem Probanden mit einem Alkoholproblem, der nach der Fahrt erst so richtig abgestürzt sei, jetzt jedoch eine Therapie begonnen habe. Hans erzält im Weiteren von den Problemen auf der ersten Fahrt. Er führt an, diese sei noch etwas unorganisiert gewesen, also mehr wie ein richtiges Abenteuer. Außerdem sei es zu keinem richtigen Gruppenzusammenhalt gekommen, da einige der Teilnehmer die Maßnahme überhaupt nicht ernst genommen hätten und die Wanderung ihnen auf den "Senkel" gegangen sei.

 

Manfred: Aber ich finde schon, daß durch so ne Fahrt neue Türen gezeigt werden, die auch geöffnet werden. Ich finde schon, daß das irgendwie gut ist, wenn man mal aus seinem Alltag einfach flüchten kann, weglaufen kann. Wenn auch nur für ne kurze Zeit.

 

Interviewerin: Man kommt aber doch wieder zurück!

 

Manfred: Ja. ja aber man kriegt mal ne Pause irgendwie. Das war wie so ne Entgiftung.

 

Hans: Ich denke mal, uns drei, wie wir hier sitzen, hat es viel gebracht irgendwie. Ich mein also uns hat es viel gebracht. Wir haben auch irgendwie einen Sinn darin gefunden, weil, was die Reise angeht, wir sind ja immer, wenn das erste Mal, das war ein bißchen schief gelaufen, und es war ne tolle Gegend und wir sind beim zweiten Mal auch deswegen mitgefahren, weil man auch den Bezug zur Bewährungshilfe nicht verloren hatte oder sowas, ne.

 

Weiterhin berichtet Hans von Probanden, welche man hin und wieder mal treffe und die ihre Zeit bei der Bewährungshilfe eben ableisten würden, ohne sich weitere Gedanken über den Sinn und Zweck zu machen. Er führt an, daß die Teilnehmer an diesen Maßnahmen jedoch von diesem Zeitpunkt an ein ganz anderes Verhältnis zur Bewährungshilfe bekommen hätten.

 

Hans: Wir jedoch hatten ab diesem Zeitpunkt ein ganz anderes Verhältnis zur Bewährungshilfe, zur Sache an sich, was die Bewährung eigentlich angeht. Man hat halt erkannt, um was es geht. Sonst sieht man einen Bewährungshelfer als einen Menschen, wo man hingehen muß, daß ist ne Auflage vom Gericht. Das ist irgendwas schlimmes, daß ist vom Gericht aus und schon ist es Scheiße, obwohl es eigentlich ne gute Sache ist.

 

Doris: Und jetzt ist es halt so en Ansporn, also man leistet ja wirklich was während so einer Fahrt. Das ist ja nicht, daß wir da einfach mit dem Bus so durch die Gegend fahren. Und deswegen ist es schon irgendwie so an seine Grenzen zu gehen, wenn man den ganzen Tag gelaufen ist und hat halt abends sein Zelt aufgebaut und fällt nur noch auf seine Isomatte oder auf seinen Schlafsack. Also es ist irgendwie schon ein tolles Gefühl, wenn man so ein bißchen ausgelaugt ist und man hat halt was getan und nicht vielleicht wie zu Hause so unnütz darum gesessen.

 

Manfred: Man lernt halt nach Regeln zu leben.

 

Interviewerin: Wenn man also so an seine eigenen Grenzen geht - die Bewährungshilfe und das ganze Straffälligsein ist ja eigentlich so belastet von lauter negativen Eigenschaften. Auf solchen Maßnahmen soll man ja auch Seiten von sich kennenlernen, die eben positiv sind und die einem zeigen, daß man auch was erreichen kann und nicht nur schlecht ist, weil man straffällig ist. Habt Ihr das auch so erlebt?

 

Hans: Ja sicher. Ich denke da dran liegt das auch, daß wir alle durch die Bank weg einen Job jetzt in diesem Jahr gefunden haben. Das ist ja grad bei Straffälligen ist es schwierig dann sich wieder einzugliedern in die normale Gesellschaft halt und sonstwas. Jeder hat sich irgendwie ein Ziel gesteckt und geht einer geregelten Arbeit nach und sowas. Ich denke, mal das ist - die Fahrt hat viel bewirkt bei jedem, also jeder hat irgendwie gelernt: ich muß was tun, so geht es einfach nicht, daß ich alles auf mich zukommen lasse und sowas. Und man hat halt dort ein gewisses Pflichtbewußtsein gelernt.

 

Doris: Was ich aber auch schön fand, wir sind alle irgendwie, wir sind alle mit der Bewährungshilfe rübergefahren und waren halt die meisten Knackis und halt ein Bus voll schlechte Menschen, so ungefähr. Und wo wir halt durch Frankreich gelaufen sind, erstmal die Franzosen in den Ortschaften, alle waren total freundlich und nett und wir kamen da auch mit unseren Pilgerstäben und Rucksäcken vorbei und alle haben uns begrüßt und so irgendwie. Und wir waren da auch anerkannt als Pilger, daß wir halt zu Fuß da diesen Marsch machen und waren halt nicht mehr diese schlechte Menschen irgendwie.

 

Hans: Man hat sich anders gefühlt, ne, angesehener wie jetzt hier gesagt wird, daß ist eh ein Straffälliger und das ist ein schlechter Mensch, obwohl man sollte sie ja net alle über einen Kamm scheren!

 

Interviewerin: Das ist aber doch oft so und das erlebt Ihr doch bestimmt auch so?

 

Hans: Das ist überall so, ob man jetzt einen Job sucht oder sonstwas, ne. Das ist halt - ich hab hier letztens erst von meinem Chef wieder gehört und das fand ich auch als irgendwie als Bestätigung, daß er halt sagt zu mir : "Man kann Einem nur bis vor den Kopf gucken". Er hat halt gemerkt, daß ich in der Arbeit gut bin und sowas und sagte die inneren Werte zählen halt eben, ne?! Das, was man erreichen will und was man kann. Da ich halt jetzt noch in der Ausbildung bin. Er hat mir angeboten, daß wenn ich fertig bin, daß ich da sofort meinen Job hab. Das war halt das, was im Praktikum gelaufen ist. Man geht die Sache anders an, man will was erreichen und man will halt leben, wie die anderen Menschen auch leben, halt in Ruhe und Frieden und nicht als armer Knacki oder sowas. Wenn man halt immer so weiter lebt, ach es ist egal ob ich jetzt einen Job hab oder nicht, das arbeitslos sein ist ganz gut, ich brauch nix zu tun und mit dem Geld komm ich auch rum und sowas. Man muß sich halt ein Ziel stecken. Man muß halt einfach sagen, ich kann auch mehr als das, und ich denke mir mal, daß die Fahrten da viel beigetragen haben. Das jetzt, mir das Ziel zu stecken, eigentlich nur die Fahrten und die ganze Beziehung zur Bewährungshilfe und dann.

 

Stephanie Volk

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