Erlebnisorientierte Gruppenarbeit
als Methode in der Arbeit
mit Probanden der Bewährungshilfe
Diplomarbeit an
der
Universität -
Gesamthochschule Siegen
bearbeitet von: Stephanie Volk
Hüttenberg, im Juli 1997
Inhalt:
1. Einleitung
2. Strafaussetzung
und Bewährungshilfe
in der
Bundesrepublik Deutschland
2.1 Definition
der Bewährungshilfe
2.2 Geschichte
und Entwicklung der heutigen
Strafaussetzung
zur Bewährung
2.3 Rechtsgrundlagen
der Bewährungshilfe
2.4 Organisationsformen
der Bewährungshilfe
2.5 Soziale
Arbeit in der Bewährungshilfe
2.6 Resümee
und Ausblick
3. Erlebnispädagogik
als Methode in der sozialen Arbeit
3.1 Exkurs:
Traditionelle Methoden der Sozialarbeit
3.2 Definition
der Erlebnispädagogik
3.3 Geschichtliche
Entwicklung der Erlebnispädagogik
3.3.1 Die frühen
Wegbereiter der Erlebnispädagogik
3.3.2 Die
Reformpädagogik
3.3.3 Erlebnispädagogik
vom Nationalsozialismus bis heute
3.4 Didaktik
und Methodik der Erlebnispädagogik
3.5 Ziele der
Erlebnispädagogik
4. Erlebnispädagogik
in der Bewährungshilfe
4.1 Methodische
Ansätze der Sozialarbeit
in der
Bewährungshilfe
4.2 Soziale
Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe
4.3 Erlebnispädagogik
mit Randgruppen
4.4 Straffälligenhilfe
und Erlebnispädagogik
4.4.1 Exkurs:
Ausgewählte Kriminalitätstheorien
4.5 Erlebnispädagogik
als Mittel zur Vermeidung von Straftaten ?
5. Projektvorstellung
der Bewährungshilfe Marburg
5.1 Erlebnisorientierte
Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe
5.2 Die
Wanderung in Frankreich
5.3 Die
Wanderung aus der Sicht teilnehmender Probanden
5.4 Zusammenfassung
der Ergebnisse
5.5 Fazit und
kritische Würdigung
6. Schlußbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
der Diplomarbeit
Anhang A)
Interview mit drei der teilnehmenden Probanden an der
erlebnis-
pädagogischen Wanderung der Bewährungshilfe Marburg
1. Einleitung
Zu Beginn möchte ich erläutern, warum ich gerade dieses
Thema für meine Diplomarbeit ausgewählt habe, wie ich sie aufgebaut habe und
mit welchen Intentionen.
Bereits zu Beginn meines Studiums begegnete mir das
Thema: "Erlebnispädagogik in der sozialen Arbeit" und erweckte großes
Interesse bei mir. Des weiteren absolvierte ich das zweite 45-Tage Praktikum
bei der Bewährungshilfe in Wetzlar und diese Arbeitsfeld gefiel mir sehr gut.
Ich hatte dort die Möglichkeit, einen sehr guten Einblick in das gesamte
Arbeitsfeld sowie in seine Problembereiche zu erhalten. Eines der größten
Probleme sah ich in dem Zwangscharakter der Beratung, der zur Folge hatte, daß
die Probanden häufig sehr verschlossen und distanziert waren. Sicherlich gab es
hier auch Ausnahmen aber die Mehrzahl der Probanden lernte man nur
oberflächlich kennen Um Hilfe baten sie in der Regel nur bei Problemen mit
Ämtern oder Behörden, bei Bewährungsangelegenheiten oder in Schuldensachen. Die
große Anzahl der unterstellten Probanden und ihr Erscheinen alle sechs bis acht
Wochen führte ebenfalls zu einem recht oberflächlichen Verhältnis, was den
Eindruck im mir erweckte, eigentlich überhaupt nicht zu wissen, mit welchen
Menschen man es hier zu tun hatte. Ich war auch der Ansicht, daß ein effektives
Arbeiten an Problemen und Notlagen, die zur Straffälligkeit geführt hatten,
überhaupt nicht möglich war und die resozialisierende Wirkung, die der
Bewährungshilfe zugesprochen wird, nur schwer erfüllbar ist. Das dies nicht
Schuld der dort tätigen Bewährungshelfer war, wurde mir schnell klar. Denn
meiner Auffassung nach lagen die Gründe dafür eher in der Organisationsform der
Bewährungshilfe, nämlich als Institution der Justiz und in der Arbeitsweise der
Bewährungshilfe, als soziale Einzelhilfe. Das diese Arbeitsweise dominiert, ist
wohl einerseits in der namentlichen Bestellung des Bewährungshelfers durch das
Gericht begründet, andererseits in der Überlastung der Bewährungshelfer durch
die Vielzahl der unterstellten Probanden, was vielleicht dazu führt, daß für
Arbeitsaufwand und Risiko neuerer Ansätze keine Zeit bleibt.
Im Laufe meines Praktikums erfuhr ich dann von einem
Marburger Bewährungshelfer, der hin und wieder erlebnispädagogische Wanderungen
mit seinen Probanden durchführte. Wie bereits erwähnt hatte ich mich an der
Universität schon verstärkt mit dem Thema der Erlebnispädagogik sowie mit der
Straffälligenarbeit beschäftigt. Mich interessierte die Kombination beider
Bereiche und so nahm Kontakt mit dem Marburger Bewährungshelfer Peter Reckling
auf. Dieser war von Beginn an sehr hilfsbereit und versorgte mich mit Material
über seine erlebnispädagogischen Aktivitäten und über Gruppenarbeit in der
Bewährungshilfe. Der Bewährungshelfer versuchte hiermit genau das zu
überwinden, was ich an der Arbeit der Bewährungshilfe kritisierte: daß keine
Nähe zu den Probanden aufgebaut wird und somit effektives Arbeiten sowie
Resozialisierungsabsichten nur schwer zu realisieren sind. Peter Reckling
erklärte sich bereit mich bei anliegenden Fragen und Vorhaben zu unterstützen.
Meine Diplomarbeit beginne ich mit der Beschreibung der
Bewährungshilfe, d.h. mit der geschichtlichen Entwicklung, den rechtlichen
Grundlagen, den Organisationsformen sowie der sozialen Arbeit in der
Bewährungshilfe. Damit beabsichtigte ich, zunächst das Arbeitsfeld der
Bewährungshilfe sowie seine Problembereiche vorzustellen, um später dann eine
bessere Integration der erlebnispädagogischen Methode in das Arbeitsfeld
vornehmen zu können und auch besser die daraus entstehende Vorteile aufzeigen
zu können. Des weiteren habe ich die Methode der Erlebnispädagogik vorgestellt,
ebenfalls in ihrem geschichtlichen Werdegang, ihrer Methodik und Didaktik sowie
ihre Zielvorstellungen. Ab dem Vierten Gliederungspunkt meiner Diplomarbeit
gehe ich dann speziell auf die Erlebnispädagogik mit Randgruppen und
insbesondere mit Straffälligen ein. Hierbei verfolgte ich die Absicht die
Relevanz dieser Methode einmal auf die Zielgruppe der Straffälligen zu
untersuchen und die Vorteile einer erlebnisorientierten Arbeit mit ihnen
aufzuzeigen. Das Thema Erlebnispädagogik boomt seit den 80er Jahren nahezu in
allen Arbeitsfeldern der sozialen Arbeit, aber gerade im Bereich der
Straffälligenarbeit wird sie gegenüber anderen Arbeitsfeldern noch relativ
selten angewendet. Im Gegensatz zu der Bewährungshilfe ist die Methode der
Erlebnispädagogik jedoch schon vielfach im Jugendarrest und im
Jugendstrafvollzug anzutreffen und freie Träger der Straffälligenhilfe haben
sich hin und wieder damit befaßt. In der Arbeit der Bewährungshilfe spielt die
Erlebnispädagogik immer noch eine sehr untergeordnete Rolle, abgesehen von
vereinzelten Maßnahmen einiger Bewährungshelfer. Dies entspricht ebenfalls dem
Bild der Anwendung von Gruppenarbeit generell in der Bewährungshilfe, die auch
nur sporadisch von einzelnen Bewährungshelfern angewandt wird. Im fünften Teil
meiner Arbeit stelle ich ein konkretes Projekt einer erlebnispädagogischen
Maßnahme in der Bewährungshilfe am Beispiel der Bewährungshilfe in Marburg dar,
wo erlebnispädagogische Wanderungen mit Probanden auf dem historischen
Jakobsweg in Frankreich durchgeführt werden. Um diese Maßnahme noch
transparenter darzustellen, habe ich Interviews mit dem durchführenden
Bewährungshelfer und drei der teilnehmenden Probanden gemacht. Abschließend
habe ich noch einige Kritikpunkte angeführt, die trotz positiver Beurteilung
der Methode von meiner Seite, durchaus berechtigt sind und nicht verschwiegen
werden dürfen.
Zielvorstellung meiner Diplomarbeit war es demnach,
deutlich zu machen, daß auch die Bewährungshilfe als traditionelle, ambulante,
Institution der Resozialisierung neue Arbeitsweisen zur Verfügung stellen
sollte, die durchaus förderlich wären die die Probanden auf ein Leben in
Straffreiheit vorzubereiten anstatt ständig an alten und vielleicht überholten
Methoden streng festzuhalten. Des weiteren wollte ich aufzeigen, daß die Gruppe
der Straffälligen durchaus mit solchen Maßnahmen erreicht werden kann und die
Erlebnispädagogik vielleicht einen neuen Weg im Umgang mit dieser Zielgruppe
darstellen kann.
2. Strafaussetzung
und Bewährungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland
2.1 Definition der Bewährungshilfe
Bevor ich in diesem Teil meiner Arbeit näher auf die
Geschichte der Bewährungshilfe, ihre Rechtsgrundlagen, Organisationsformen
sowie auf ihre Arbeitsweisen und -bedingungen eingehe, möchte ich vorab noch
einige Definitionen zur Bewährungshilfe geben.
Die Strafaussetzung zur Bewährung, so wie wir sie heute
kennen, gehört zu den tiefgreifenden Reformen des deutschen Strafrechtes und
hat zu wesentlichen kriminalpolitischen Neuorientierungen beigetragen. Im
Rahmen des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 4.8.1953 wurde die
Strafaussetzung zur Bewährung eingeführt und im Zuge des 2. Gesetzes zur Reform
des Strafrechtes erweitert.
Die Zahl der Probanden der Bewährungshilfe, welche bei
weitem die der Strafgefangenen übersteigt, macht deutlich, welche Bedeutung der
Strafaussetzung zur Bewährung heute zukommt. Die Wurzeln dieser Umverteilung
liegen wohl in der weitgehend gewachsenen Erkenntnis in die negativen Folgen
des Strafvollzuges. Andererseits kommt hier auch ein gewisser Glaube an bessere
Resozialisierungsmöglichkeiten im Rahmen ambulanter Maßnahmen zum Ausdruck.
(vgl. Maelicke, 1986, S.143)
Bewährungshilfe bezeichnet zunächst diejenige
Institution, die bei der Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung sowie
bei der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung tätig wird. Oberstes Ziel
dieser Einrichtung besteht darin, bei der Resozialisierung von Straffälligen
mitzuhelfen, um so den Vollzug einer Freiheitsstrafe oder einer weiteren
Vollzug überflüssig zu machen. (vgl. Maelicke, 1986, S. 145)
Da die Institution der Bewährungshilfe eine ambulante
Maßnahme zur Resozialisierung von Straftätern darstellt, möchte ich nun hier
noch kurz den Begriff der Resozialisierung erläutern. Der Begriff der
Resozialisierung bezeichnet ein Ziel gesellschaftlicher Reaktion auf
Kriminalität und zwar bedeutet das in diesem Zusammenhang die
Wiedereingliederung der Straftäter in die Gesellschaft. (vgl. Schellhoss, 1993,
S. 429)
Aufgrund des erheblichen Anstieges der Strafaussetzung
zur Bewährung wurde die Bewährungshilfe in den letzten Jahren erheblich
ausgebaut und hat sich so im Laufe der Zeit zu einem eigenständigen Teil der
Justiz entwickelt. Die Bewährungshelfer unterstehen in der Regel der
Dienstaufsicht des jeweiligen Landgerichtspräsidenten und sind somit der Justiz
zugehörig. (vgl. Maelicke, 1986, S.145)
Kerner geht in seinen Ausführungen zur Bewährungshilfe
etwas präziser vor. Bewährungshilfe besteht für ihn gemäß des Gesetzes darin,
einen Verurteilten für die Dauer seiner Bewährungszeit einem Bewährungshelfer
zu unterstellen. Ziel dieser Unterstellung ist zunächst, den Verurteilten von
Straftaten abzuhalten. Weiterhin beinhaltet die Bewährungszeit auch das
Bereitstellen spezieller Hilfsmaßnahmen für den Probanden. Bei all diese
Aufgaben, muß der Bewährungshelfer seine Arbeit weitgehend selbständig
organisieren. Weiterhin geht Kerner auf die Doppelfunktion des
Bewährungshelfers ein, die ihm das Gesetz aufgebürdet hat. Einerseits ist er
nämlich Helfer des Probanden und andererseits ist er verlängerter Kontrollarm
der Justiz. (vgl. Kerner, 1993, S. 78)
Die Anordnung eines Bewährungshelfers geschieht
automatisch bei allen Formen der Aussetzung im Jugendstrafrecht (§ 24 JGG). Im
allgemeinen Strafrecht ist dies etwas anders geregelt. Hier kommt es zu einer
Unterstellung bei allen Verurteilten unter 27 Jahren, wenn Freiheitsstrafen von
über 9 Monaten ausgesetzt werden, ansonsten bei Erwachsenen nur dann, wenn dies
im Einzelfall angezeigt ist, um den Verurteilten von erneuten Straftaten
abzuhalten.
Abschließend zu diesem Punkt möchte ich nun einen
Ausschnitt eines Definitionsvorschlages der Bewährungshilfe vorstellen, den ein
Bewährungshelfer selbst gegeben hat. Ich denke dieser Definitionsvorschlag
stellt ein gutes Pendant zu den eher formell und institutionsgebundenen
Definitionen dar. Nach Bernd Schulze, der selbst seit 31 Jahren als
Bewährungshelfer tätig ist, ist Bewährungshilfe „der Versuch, sozial
bindungsschwachen Menschen, die aus diesem Grund in Sozialkonflikte geraten und
daher straffällig geworden sind, zur Bindungsfähigkeit zu verhelfen. Es gilt
eine defizitäre Entwicklung, die zu gesellschaftlicher Isolierung geführt hat,
aufzuhalten und umzukehren. Dies ist möglich über die Herstellung einer Bindung
zwischen Helfer und Klient, die Modellcharakter hat. Mit den Mitteln der
Sozialpädagogik wird eine positive Sozialpartnerschaft hergestellt. Der Helfer
stützt und unterstützt zunächst den schwächeren Partner, überwindet durch sein
Verständnis, durch sachgemäße fürsorgerische und sonstige Hilfeleistungen
dessen Mißtrauen und stellt ein freundschaftliches Verhältnis zum Klienten her.
In dem Maße,wie das gelingt, wächst des Klienten Vertrauen und seine
Leistungsbereitschaft." (Schulze, 1990, S. 322)
2.2 Geschichte und Entwicklung der heutigen
Strafaussetzung zur Bewährung
Betrachtet man die Geschichte der sozialen Hilfen für
straffällige Menschen, so zeichnet sich hier ein Wechsel der verschiedensten
Einstellungen gegenüber Straffälligen ab. Die Reaktionen der Gesellschaft
reichen von staatlicher Zurückhaltung über soziale Erniedrigung bis hin zu
caritativen Bemühungen von privaten Organisationen und Privatpersonen.
Im Laufe dieser historischen Entwicklung wird jedoch auch
ein Anwachsen des Wissens um die sozialen Entstehungsfaktoren von Kriminalität
deutlich. Die Folge davon ist ein Ausbau von Fachkräften und Institutionen, die
sich um einen professionellen Umgang mit den Straffälligen bemühen und so
versuchen, deren Resozialisierungschancen zu verbessern. (vgl. Maelicke,
1994,S. 9)
Des weiteren möchte ich nun speziell auf die Geschichte
der Strafaussetzung und Bewährungshilfe in Deutschland eingehen. Eines der
ältesten Zeugnisse einer Strafaussetzung stammt aus dem 17. Jahrhundert und
wurde in Form eines Scherzspieles von Andreas Gryphius überliefert. Dieses
Scherzspiel in schlesischer Mundart handelt von einem Gutspächter, der als
Gerichtsherr drei Bauern und eine Kupplerin zu Freiheits-, Leibes- und
Lebensstrafen verurteilte und diese dann unter besonderen Auflagen zur
Bewährung aussetzte. Hier existierte keine Rechtsnorm, sondern es geschah aus
reiner Ermessenssache des Gutspächters. Nichts desto trotz ist dies jedoch ein
Beweis dafür, daß die bedingte Verurteilung sowie die bedingte Begnadigung
schon damals bekannt waren. (vgl. Tögel, 1990, S. 3) Zum Ende des 19.
Jahrhunderts war das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 immer noch orientiert an
der klassischen Vergeltungsidee und eine bedingte Gnadenentlassung war noch
immer ein Privileg des Souveräns. In dieser Zeit regten sich jedoch erste
Reformbestrebungen, die eine der angelsächsischen Probation ähnliche
Rechtsfolge vorsahen. Die Reformvorschläge scheiterten zu diesem Zeitpunkt
jedoch noch, hatten aber die Auswirkung, daß einige Bundesländer dazu
übergingen, die bedingte Gnadenentlassung den Staatsanwaltschaften zu
übertragen. (vgl. Spieß, 1983, S. 23)
Eine aufgrund richterlicher Entscheidung bedingte
Strafentlassung im Urteil weist erstmals das Jugendgerichtsgesetz von 1923 auf.
In dieser Fassung waren jedoch weniger Maßnahmen der Betreuung und Überwachung
im Sinne der heutigen Bewährungshilfe vorgesehen. Es bestand hier eine Form von
begleitenden Maßnahmen, bei denen es sich jedoch in erster Linie um Schutz- und
Kontrollmaßnahmen handelte, im Sinne einer Polizei- und Schutzaufsicht. (vgl.
Sobottka, 1990, S. 4) Maßgeblich war hier, daß sich der Proband während einer
zwei- bis fünfjährigen Bewährungszeit einen Straferlaß verdienen konnte, indem
er sich gut führte. Diese Regelung konnte sich jedoch nur einer 20-jährigen
Dauer erfreuen, denn sie wurde 1943 wieder abgeschafft. (vgl. Spieß, 1983, S.
23) Der Umstand dieser Gesetzesfassung führte jedoch zu Unstimmigkeiten unter
den engagierten Praktikern, was zur Folge hatte, daß nach 1945 zunächst ohne
gesetzliche Regelungen Initiativen durchgeführt wurden. Diese Initiativen
bestanden in einer Versuchsreihe in fünf deutschen Großstädten, wo Ansätze
einer Aussetzung der Jugendstrafe sowie des Jugendarrestes und eine daran
gekoppelte Unterstellung unter einen Bewährungshelfer durchgeführt wurden.
Orientiert wurde sich dabei wiederum an dem angelsächsischen Modell der
Probation und an der "liberté surveillée" in Frankreich. Im weiteren
Verlauf beschränkte man sich jedoch auf die Aussetzung der Jugendstrafe , was
auch in dem neuen Jugendgerichtsgesetz von 1953 mit den entsprechenden
Richtlinien zur Bewährungshilfe verankert wurde. (vgl. Spieß, 1983, S. 24)
Ebenfalls 1953 wurde auch das allgemeine Strafrecht reformiert und die
Strafaussetzung sowie die Bewährungshilfe und die gerichtliche Strafaussetzung
rechtlich verankert. Die Aufhebung der Obergrenze von 9 Monaten auf ein Jahr
und bei besonderen Umständen in der Tat und Persönlichkeit des Täters sogar auf
zwei Jahre, bedeutete eine Ausweitung des Anwendungsbereiches grundsätzlich
aussetzungsfähiger Freiheitsstrafen. Eine weitere Ausweitung vollzog sich im
Bereich der bedingten Entlassung, hier sah man eine etwaige Entlassung bereits
nach der Verbüßung der Hälfte der Strafe vor. Grundlage beider Erneuerungen
bildete das erste Strafrechtsreformgesetz von 1969. Die Aussetzungsmöglichkeit
der Reststrafe einer lebenslangen Freiheitsstrafe ließ dann in ihrer
gesetzlichen Verankerung recht lange auf sich warten und wurde erstmals 1981
eingeführt. Die erste Chance zur Aussetzung der lebenslangen Freiheitsstrafe
zur Bewährung ist demnach erst nach der Verbüßung von mindestens 15 Jahren
möglich. (vgl. Spieß, 1983, S. 24)
2.3 Rechtsgrundlagen der Bewährungshilfe
Das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland kennt zwei
Hauptformen der Strafaussetzung zur Bewährung:
- als Aussetzung der (gesamten) Freiheitstrafe, was
bezeichnet wird als Strafaussetzung zur Bewährung. Dieser Fall ist geregelt in
§ 56 STGB für das allgemeine Strafrecht und in § 21 JGG für das
Jugendstrafrecht.
- als Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrestes, was
bezeichnet wird als Strafrestaussetzung zur Bewährung. Geregelt ist dies in den
§§ 57, 57a STGB für das allgemeine Strafrecht und in §§ 88, 89 JGG für das
Jugendstrafrecht. (vgl. Maelicke, 1994, S. 18)
Darüberhinaus kann im Rahmen der Gnadenordnung des Bundes
und der Länder ebenfalls eine Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. (vgl.
Maelicke, 1994, S. 18)
Neben der üblichen Strafaussetzung zur Bewährung
existiert auch noch die Führungsaufsicht. Zu einer Führungsaufsicht kommt es,
wenn eine freiheitsentziehende Maßregel ganz oder teilweise nachträglich zur
Bewährung ausgesetzt wird. Unter einer freiheitsentziehenden Maßregel ist zum
Beispiel die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt oder in einer
Entziehungsanstalt gemeint. Des weiteren tritt Führungsaufsicht auch dann ein,
wenn die Entlassung aus einer erstmaligen Sicherungsverwahrung nach Ablauf der
Höchstfrist von 10 Jahren ansteht. Die Möglichkeit der Unterstellung unter die
Aufsicht eines Bewährungshelfers im Rahmen der Führungsaufsicht kennt das
Gesetz seit 1975. Geregelt ist dies in den §§ 67b, 67c STGB. (vgl. Spieß, 1983,
S. 32)
Die Vorgaben für eine Strafaussetzung nach allgemeinem
Strafrecht sowie nach Jugendstrafrecht bestehen in der Regel darin daß eine
Aussetzung, bei der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr und
wenn besondere Umstände in der Tat und der Persönlichkeit des Täters vorliegen,
auch bei einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren möglich ist. Bedingung für
eine Aussetzung ist unter den gegebenen Voraussetzungen, daß der Strafzweck
auch ohne Einwirkung des Vollzuges erreicht werden kann und zwar in diesem Fall
mit Hilfe der Strafaussetzung, eventuell mit Unterstützung der Bewährungshilfe.
Geregelt ist dies in den §§ 56 Abs. 1 StGB, 56 Abs. 2 StGB, 21Abs. 1 JGG, 21
Abs. 2 JGG. (vgl. Spieß, 1983, S .30)
Bei der Aussetzung eines Strafrestes zur Bewährung sind
die Regelungen etwas anders: Im allgemeinen Strafrecht ist eine Aussetzung des
Strafrestes möglich, wenn zwei Drittel, mindestens jedoch zwei Monate der
Strafe verbüßt worden sind. Hinzu kommt hier noch das Kriterium, ob der Versuch
verantwortet werden kann zu erproben, daß der Verurteilte auch außerhalb des
Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird § 57 Abs. 1 STGB. Weiterhin
besteht auch die Möglichkeit einer Strafrestaussetzung zur Bewährung schon nach
einer Verbüßung der Hälfte einer Freiheitsstrafe. Dies ist nach einer
Gesamtwürdigung aller Umstände sowie der Tat und Persönlichkeit des Täters dann
möglich, wenn hier besondere Umstände vorliegen. Zur Anwendung in diesen Fällen
kommen hier. §§ 57 Abs. 1 STGB, 57 Abs. 2 STGB. (vgl. Maelicke, 1994, S. 18-19)
Welche besonderen Umstände in der Tat und Persönlichkeit des Täters im zweiten
Fall gemeint sind, wird vom Gesetz her nicht näher definiert.
Im Falle einer Jugendstrafe ist die Strafrestaussetzung
erst nach einer Verbüßung von sechs Monaten möglich bzw. bei einer Jugendstrafe
von mehr als einem Jahr schon nach der Verbüßung von einem Drittel. Geregelt
ist dies im § 88 Abs. 2 JGG. (vgl. Spieß, 1983, S. 31) Voraussetzung ist in
beiden Fällen, daß der Verurteilte einen Teil der Freiheitsstrafe verbüßt hat
und nun der Versuch unternommen werden kann zu erproben, ob der Verurteilte
auch ohne die weitere Einwirkung des Jugendstrafvollzuges in der Lage ist ein
rechtschaffenes Leben zu führen, vgl. hierzu § 88 Abs. 1 JGG.
Bei der Aussetzung einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur
Bewährung gelten die besonderen Bestimmungen des § 57a STGB. Hier kann nach der
Verbüßung von mindestens fünfzehn Jahren eine Aussetzung angestrebt werden.
(vgl. Maelicke, 1994, S. 19)
Das Gericht kann dem Verurteilten in Verbindung mit der
Strafaussetzung Auflagen und Weisungen erteilen, welche ihre gesetzliche
Grundlage in den §§ 56b STGB und 56c STGB, und in § 23 JGG haben. Ziel dieser
Auflagen und Weisungen ist es, einerseits die Lebensführung des Probanden
günstig zu beeinflussen und andererseits, die Zusammenarbeit mit der
Bewährungshilfe sicherzustellen. Möglich ist eine Aufhebung oder Abänderung der
Auflagen und Weisungen im Laufe der Bewährungszeit, wenn dies aus bestimmten
Gründen angezeigt ist.
Die häufigsten Auflagen und Weisungen, die erteilt
werden, sind:
- mit dem Bewährungshelfer Kontakt zu halten und seinen
Vorladungen zur Sprechstunde Folge zu leisten
- Arbeitsplatz und Wohnsitz nur im Einvernehmen mit dem
Bewährungshelfer zu wechseln
- Unterhaltsverpflichtungen nachzukommen
- eine begonnene Ausbildung abzuschließen
- Aufenthalt in bestimmten Lokalen oder Verkehr mit
bestimmten Personen zu meiden
- Wiedergutmachung eines Schadens
- die Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige
Einrichtung
- das Ableisten von Arbeitsstunden
- Meldepflicht sich zu bestimmten Zeiten bei Gericht
(vgl. Spieß, 1983, S. 33-34)
Eine der wichtigsten flankierenden Maßnahmen in
Verbindung mit einer Strafaussetzung ist die Unterstellung des Verurteilten
unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers. (vgl. Spieß, 1983, S.
34)
Geregelt ist die Bestellung eines Bewährungshelfers im
allgemeinen Strafrecht im § 56d STGB und im Jugendstrafrecht im § 24 JGG. Das
Gericht hat demzufolge die Möglichkeit den Verurteilten für die Dauer oder nur
für einen Teil der Bewährungszeit unter die Aufsicht und Leitung eines
Bewährungshelfers zu stellen. Ziel dieser Unterstellung ist es, den
Verurteilten von etwaigen neuen Straftaten abzuhalten.
Aufgabe des Bewährungshelfers ist es, dem Verurteilten
helfend und betreuend zur Seite zu stehen und im Einvernehmen mit dem Gericht
die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der Anerbieten und Zusagen zu
überwachen. In Zeitabständen, die das Gericht dem Bewährungshelfer vorgibt, hat
dieser über die Lebensführung des Probanden zu berichten. Mitzuteilen hat der
Bewährungshelfer dem Gericht gröbliche und beharrliche Verstöße gegen Weisungen
und Auflagen sowie gegen Anerbieten und Zusagen. (vgl. Maelicke, 1994, S. 19)
Im Falle der Aussetzung einer Jugendstrafe oder bei der
Aussetzung des Strafrestes einer Jugendstrafe ist die Bestellung eines
Bewährungshelfers die Regel. Sie erfolgt hier für eine Bewährungszeit von zwei
bis drei Jahren, kann jedoch nachträglich auf ein Jahr verkürzt oder auf
maximal vier Jahre verlängert werden. (vgl. Spieß, 1983, S. 33) Das JGG gibt
dem Bewährungshelfer besondere Befugnisse. Er kann sich Zugang zu dem
unterstellten Jugendlichen zu verschaffen, er hat das Recht von
Erziehungsberechtigten, der Schule, dem Lehrherrn oder dem Ausbildungsleiter
Auskünfte über die Lebensführung des Jugendlichen einzuholen. Weiterhin stehen
dem Bewährungshelfer die gleichen Zutrittsrechte zu wie einem Verteidiger,
falls sich der Jugendliche in Untersuchungshaft befindet. (vgl. Spieß, 1983, S.
35)
Nach allgemeinem Strafrecht sehen die Voraussetzungen
etwas anders aus. Hier ist die Bestellung eines Bewährungshelfers bei der
Strafaussetzung nicht obligatorisch. Vorgeschrieben ist sie nur bei
Verurteilten unter 27 Jahren, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als neun
Monaten verurteilt wurden oder wo es angezeigt ist, um den Verurteilten von
Straftaten abzuhalten. Im Rahmen der Strafrestaussetzung nach einer
Strafverbüßung von einem Jahr und mehr ist die Bestellung eines Bewährungshelfers
ebenfalls die Regel. Die Dauer der Bewährungszeit beträgt hier zwischen zwei
und fünf Jahren. (vgl. Spieß, 1983, S. 33)
Neben hauptamtlichen Bewährungshelfern ist auch die
Bestellung von ehrenamtlichen Bewährungshelfern möglich. Die Praxis hat jedoch
bewiesen das überwiegend hauptamtliche Bewährungshelfer bestellt werden,
vorgeschrieben sind diese aber nur im JGG. (vgl. Spieß, 1983, S. 35)
Abschließend in diesem Teil über die gesetzlichen
Grundlagen der Bewährungshilfe möchte ich nun noch auf den Widerruf der
Bewährung eingehen Eine Strafaussetzung zur Bewährung kann unter den
Voraussetzungen des § 65f STGB und nach dem § 26 JGG widerrufen werden.
Das Gericht hat die Möglichkeit eine Strafaussetzung zur
Bewährung zu widerrufen:
- wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine neue
Straftat begeht und somit deutlich macht, daß sich die Erwartung, die der
Strafaussetzung zugrunde lag nicht erfüllt hat
- wenn der Verurteilte gröblich und beharrlich gegen
Weisungen verstößt und sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers
entzieht
Absehen kann das Gericht von einem Widerruf, wenn es
genügt die Bewährungszeit zu verlängern oder weitere Auflagen und Weisungen zu
erteilen. (vgl. Maelicke, 1994, S. 19) Die Bewährungszeit endet auf dem
normalen Wege durch den Straferlaß (vgl. § 56d STGB und § 26a JGG).
2.4 Organisationsformen der Bewährungshilfe
Die Institution der Bewährungshilfe gehört zum Bereich
der justizförmigen Straffälligenhilfe in der Bundesrepublik Deutschland. Der
Begriff der Straffälligenhilfe beinhaltet sämtliche öffentliche und private
Hilfeformen, deren Ziel es ist, zur Resozialisierung von Straftätern
beizutragen. Es gibt zwei Arten von Straffälligenhilfe und zwar einerseits die
justizförmige Straffälligenhilfe und andererseits die freie Straffälligenhilfe,
welche durch private und öffentliche Träger geleistet wird und ihre gesetzliche
Basis in § 72 BSHG findet. Zur justizförmigen Straffälligenhilfe gehört die
Gerichtshilfe, die Bewährungshilfe, die Führungsaufsicht sowie die soziale
Hilfe im Strafvollzug und in der Untersuchungshaft. (vgl. Maelicke, 1994, S.
10)
Gekennzeichnet ist die justizförmige Straffälligenhilfe
durch Anbieten sozialer Hilfen im Auftrag der Justiz, z.B. der
Staatsanwaltschaften, der Gerichte und der Vollzugsanstalten. Zusätzlich zu den
sozialen Hilfen wird hier jedoch auch Kontrolle im Auftrag der Justiz ausgeübt.
Der jeweilige Aufgabenkatalog der einzelnen Fachdienste im engeren Sinn richtet
sich nach den entsprechenden Regelungen im Strafgesetzbuch, in der
Strafprozeßordnung sowie im Strafvollzugsgesetz und in der
Untersuchungshaftvollzugsordnung. (vgl. Maelicke, 1994, S. 11)
Die Institution der Bewährungshilfe ist strukturell
gesehen durch private sowie durch staatliche Elemente charakterisiert. Die
Bewährungshelfer besitzen in der Regel eine Ausbildung als
Diplom-Sozialarbeiter/-Sozialpädagoge und sind überwiegend Staatsbedienstete.
Gemäß dem Justizmodell der Länder ist die Bewährungshilfe dem Landgericht
zugeteilt, und Stadtstaaten ist sie den Sozialbehörden zugehörig. Die
Bestellung eines Bewährungshelfers durch den Richter ist nicht als Einschaltung
einer Behörde anzusehen, sondern als persönlicher Einzelauftrag. (vgl. Kerner,
1993, S. 81)
Dieser persönliche Einzelauftrag hat jedoch oft zur
Folge, daß in der Praxis der Bewährungshelfer alleine in seinem Büro sitzt und
auf Probanden wartet und Gruppenarbeit oder gegenseitiger Austausch findet so
gut wie nicht statt. Dominik Eichmann sieht hierin ein Grundproblem der
Bewährungshelfer, welches sich in Einzelgängertum und Mangel an Lob und Kritik
äußert, da kein Austausch untereinander stattfindet. Wer hingegen Dankbarkeit
und Lob von seinen Probanden erwarte, der sei in der Bewährungshilfe völlig
fehl am Platz. (vgl. Eichmann, 1995, S. 53)
Die Bewährungshilfe als Glied der justizförmigen
Straffälligenhilfe ist demnach der Justiz zugehörig und untersteht demzufolge
der Dienstaufsicht der Justizbehörde. (vgl. Spieß, 1983, S. 35)
In Deutschland wird die Arbeit der Bewährungshilfe zum
größten Teil von hauptamtlichen Bewährungshelfern erledigt, nur etwa 2% aller
Probanden werden durch ehrenamtliche Bewährungshelfer betreut. Die
ehrenamtliche Bewährungshilfe wird überwiegend von Trägern der freien
Straffälligenhilfe getragen. Es gilt hier auch noch zu erwähnen, daß die
einzelnen Fachdienste der justizförmigen Straffälligenhilfe organisatorisch
getrennte Dienste darstellen und weitgehend unabhängig voneinander ihre
Aufgaben erfüllen. (vgl. Sobottka, 1990, S. 7)
Die Auswahl der zu bestellenden Bewährungshelfer erfolgt
in der Praxis nach dem internen Geschäftsverteilungsplan der örtlichen
Geschäftsstelle. Seltener ist eine Spezialisierung von Bewährungshelfern auf
bestimmte Probandengruppen wie z.B. mit Drogenabhängigen oder ausländischen
Probanden. (vgl. Spieß, 1983, S. 34)
Ideelle und materielle Unterstützung erhält die
Bewährungshilfe häufig vor Ort im Rahmen regionaler
Bewährungshilfefördervereine. Hinzukommt noch auf der Bundesebene die Deutsche
Bewährungshilfe e.V., mit Sitz in Bonn, die sich als übergreifende Vereinigung
zur Unterstützung von Bewährungshilfe, Gerichtshilfe und Straffälligenhilfe
versteht. (Kerner, 1993, S. 81)
2.5 Soziale Arbeit in der Bewährungshilfe
Die bereits erläuterten gesetzlichen Grundlagen der
Bewährungshilfe umreißen in groben Zügen den Aufgabenkatalog der
Bewährungshelfer. In diesem Teil meiner Arbeit geht es nun um die tatsächlichen
Aufgaben und Arbeitsweisen im Rahmen der Bewährungshilfe .
Nach dem Gesetz ist zunächst vorrangig, das der
Bewährungshelfer dem Klienten hilft, ein straffreies Leben zu führen und die
vom Gericht auferlegten Weisungen und Auflagen überwacht. (vgl. Sobottka, 1990, S. 16)
In der Regel beginnt die Tätigkeit der Bewährungshilfe
mit der Bestellung eines Bewährungshelfers durch das Gericht. Eine Ausnahme bildet
hier lediglich die Mitwirkung eines Bewährungshelfers bei der Erstellung eines
Jugendgerichtshilfeberichtes für einen Beschuldigten, der dem Bewährungshelfer
bereits aus früheren Unterstellungen bekannt ist. (vgl. Spieß, 1983, S. 38)
Da die Arbeitsbedingungen Aufschluß darüber geben, wie
hier die soziale Arbeit aussieht, zunächst einige Anmerkungen hierzu. Zunächst
einmal zum Umfang der Unterstellungen eines Bewährungshelfers. Erst seit dem
Jahre 1963 existieren überhaupt offizielle Zahlen zur hauptamtlichen
Bewährungshilfe und diese werden vermittelt durch die Bewährungshilfestatistik.
Demzufolge entwickelten sich die jährlichen Zugänge zur Bewährungshilfe wie
folgt:
1963 - 11.646 neue Zugänge
1980 - 40.615 neue Zugänge
Seit 1980 werden nur noch Abgänge mitgeteilt. Hier ist
nun folgender Trend zu beobachten:
1980 - 30.892 Abgänge
1985 - 39.206 Abgänge
1989 - 130.767 Abgänge
Hierzu muß jedoch angemerkt werden, daß aufgrund von
Mehrfachunterstellungen die Personenzahlen geringer anzusetzen sind. (vgl. Kerner,
1993, S. 80)
Diesem ansteigenden Trend der Bewährungshilfeprobanden
steht jedoch keine dementsprechende Ausweitung des Personals der
Bewährungshilfe gegenüber. .Auch zu dieser Entwicklung führt Kerner einige
Entwicklungstendenzen an: Er bezeichnet das Verhältnis von Bewährungshelfer zu
Probanden als sogenannten „Pensenschlüssel". Dieser schwankte bis ins Jahr
1974 zwischen 1:49 und 1:64, im Jahre 1980 pendelte er sich bei 1:55 ein und
stieg dann 1989 wieder auf 1:69 an, einschließlich Führungsaufsicht. Kerner
führt an, daß die allgemein vertretbare Obergrenze auf keinen Fall die Zahl von
40 Probanden überschreiten dürfte, denn sonst sei eine ausreichende und
intensive sozialpädagogische Betreuung der Probanden nicht mehr möglich. (vgl.
Kerner, 1990, S, 80)
Ein weiterer nicht zu verachtender Faktor, welcher die
Arbeitsbedingungen der Bewährungshelfer beeinflußt, ist die Aussetzungspraxis.
Zu diesem Punkt macht Spieß sehr deutliche Aussagen. Betrachtet man die
Qualität derer die unter Bewährungsaufsicht stehen, so wird schnell
ersichtlich, das zunehmend solche Täter dem Aufgabenbereich der Bewährungshilfe
zufließen, die wohl früher kaum Aussicht auf eine Strafaussetzung zur Bewährung
gehabt hätten. Dies manifestiert sich in einem Zugang zum Teil erheblich
vorbelasteter Täter. Von 1963 und 1980 ging die Zahl der erstmals Straffälligen
unter den Bewährungshilfeprobanden von etwa 42% auf 22% zurück Dem steht eine
Verdreifachung der bereits mehrfach zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und der
Bewährungsaufsicht unterstellten Probanden gegenüber. (vgl. Spieß, 1983, S. 30)
Führt man nun die Wechselwirkung dieser zwei
Bedingungsfaktoren zueinander, so kommt man zu dem Ergebnis, daß einerseits die
steigende Zahl und andererseits der Zustrom an Problemprobanden mit erheblichen
Integrationsschwierigkeiten, die Arbeitsbedingungen der Bewährungshelfer
entscheidend beeinträchtigen.
Bei der Betrachtung der sozialen Arbeit der
Bewährungshilfe steht die Frage, wie die Klientel Bewährungshilfe aussieht und
welche Problemlagen sie überwiegend mitbringt im Vordergrund. Maelicke führt
an, daß die Arbeitslosenquote der Bewährungshilfeprobanden im
Bundesdurchschnitt bei über 60% liegt, demzufolge leben über 50% der Probanden
unter dem Sozialhilfeniveau und die wenigsten besitzen eine eigene Wohnung. Die
durchschnittliche Verschuldung der Probanden betrug bereits Anfang der
achtziger Jahre über 10 000 DM, Suchtprobleme weisen über 50% der Probanden auf
und weit über 75% der Probanden sind ledig, geschieden oder verwitwet. (vgl. Maelicke,
1994, S. 21) Hinzu kommen hier natürlich noch Ehe- und Familienkonflikte, nicht
selten die Tendenz zu Suizidhandlungen und schwere Selbstbildschäden. (vgl.
Kerner, 1993, S. 80)
Spieß führt zu diesem Punkt weiter aus, daß etwa drei
Viertel der Probanden aus unvollständigen und erheblich konfliktbelasteten
Familien stammen. Über eine abgeschlossene Schulausbildung verfügten nur etwa
zwei Drittel aller Probanden und nur ein Drittel über eine abgeschlossene
Berufausbildung. (vgl. Spieß, 1983, S. 39) Die Tendenz der hier aufgeführten Problemlagen dürfte wohl in
allen Bereichen ansteigend sein, um nicht zu sagen, sie hat bereits heute
verheerende Ausmaße angenommen.
Die ersten Kontakte des Bewährungshelfers mit seinem
Probanden sind in aller Regel davon geprägt, sich gemeinsam ein Bild über die
dringensten Probleme der Existenzsicherung zu machen und nach
Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Den Schwerpunkt hier zu setzen ist
entscheidend, um überhaupt Voraussetzungen für eine Reintegration des Probanden
zu schaffen. Ganz im Vordergrund steht natürlich die Hilfe bei Beschaffung von
Wohnung und Arbeit sowie die Klärung von Ausbildungsmöglichkeiten. Der hohe
Anteil von Suchtmittelabhängigen bei den Bewährungshilfeprobanden setzt
eigenständig gleich einen weiteren Schwerpunkt in der sozialen Arbeit des
Bewährungshelfers fest. Dies manifestiert sich in der Suche nach geeigneten
stationären oder ambulanten Therapiemöglichkeiten sowie in der Klärung der
Kostenübernahme für diese Maßnahmen. Eine hohe Schuldenbelastung ist, wie
bereits erwähnt, ein ebenfalls häufiges Charakteristikum der Probanden. Diese
sind meist nicht in der Lage, ihre Schuldensituation ohne Mithilfe zu klären.
Haben die Belastungen ein bestimmtes Maß überschritten, so bemüht sich der
Bewährungshelfer in der Regel um Kontakte mit den Gläubigern, um eventuell
Absprachen über Stundungen oder Abzahlung der Schuld in Raten zu treffen.
Weiterhin bedarf es häufig der Intervention des Bewährungshelfers, um etwaige
vorhandene Ansprüche der Probanden oder deren Eltern auf staatliche
Sozialleistungen zu klären und bei gegeben Anspruch, diese durchzusetzen. Unter
diese sozialstaatlichen Leistungen fällt zum Beispiel die Hilfe zum
Lebensunterhalt, Umschulungs -und Ausbildungsbeihilfen sowie Kindergeld. (vgl.
Spieß, 1983, S. 39)
Die komplexen Problemkonstellationen machen deutlich, daß
die Bewährungshelfer hier in vielen Bereichen über Kenntnisse verfügen müssen,
um überhaupt helfen zu können. Nach Eichmann stellt die Berufsgruppe der
Bewährungshelfer eine Gruppe Generalisten dar, deren Professionalität darin
besteht, von allem etwas zu beherrschen. Während andere Berufsgruppen bei
fachübergreifenden Fragen schnell ratlos sind, ist der Bewährungshelfer in
vielen Bereichen kompetent und kann aktiv werden. (vgl. Eichmann, 1995, S. 53)
An dieser Stelle möchte ich nun auf die konkreten
Hilfeleistungen eingehen, die Bewährungshelfer im Rahmen ihrer sozialen Arbeit
ausführen. Anlehnen werde ich mich hierbei an das Berufsbild für
Bewährungshelfer, welches die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Bewährungshelfer
(ADB) 1985 herausgegeben hat und das eine Leitfunktion für die einzelnen
Bundesländer zur Erstellung einer Arbeitsplatzbeschreibung haben sollte. Diesem
Berufsbild zur Folge bilden folgende soziale Hilfeleistungen den Schwerpunkt
der helfenden und betreuenden Aufgaben der Bewährungshelfer:
a) Hilfe zur Gestaltung der existentiellen
Lebensbedingungen
- Hilfe zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes
- Hilfe bei der Wohnungssuche
- Hilfestellung zur Berufsberatung und Arbeitsfindung
- Hilfe bei einer Schadenswiedergutmachung oder bei
etwaiger Schuldentilgung
b) Hilfeleistungen bei speziellen Problemen
- Neuordnung des sozialen Umfeldes
- Bearbeitung von persönlichen und zwischenmenschlichen
Konflikten
- Beratung bei Drogen- und Alkoholabhängigkeit und, wenn
nötig, die Weitvermittlung in andere Einrichtungen
- Gegebenenfalls Vermittlung in psychiatrische Hilfen
- Erziehungs- und Eheberatung, auch hier
Weitervermittlungsfunktion
- Hilfestellung bei der Freizeitgestaltung
c) Weitere Problembereiche, mit denen sich
Bewährungshelfer und Klient im Laufe der Bewährungszeit auseinandersetzen
müssen
- Zukunftsängste des Klienten
- Berufliche Aussichtslosigkeit
- Dauerarbeitslosigkeit
- Dauerverschuldung
- Zunehmende wirtschaftliche Verelendung
- Ausländerfeindlichkeit
- Erschließung vorhandener Hilfsmöglichkeiten
- Planung von Projektarbeit im Rahmen gezielter
Bewährungshilfe
(vgl. Sobottka, 1990, S. 17 f)
Nach Dominik Eichmann sieht es in der Praxis so aus, daß
die Probanden den Bewährungshelfern die größte Kompetenz bei Problemen mit
Gerichten, Behörden und Schulen beimessen. Geht es um Wohnungs- oder
Arbeitssuche, wenden sie sich seiner Meinung nach bedeutend seltener an den
Bewährungshelfer. Noch weniger gefragt ist der Rat des Bewährungshelfers bei
psychischen Problemen oder bei Konflikten in Partnerschaft und Ehe. In diesen
Fällen wird bevorzugt Rat bei Freunden oder anderen sozialen Einrichtungen
gesucht, da zum Bewährungshelfer in der Regel anscheinend doch nicht das
genügende Vertrauen besteht, um solche Probleme anzusprechen. (vgl. Eichmann,
1995, S. 53)
2.6 Resümee und Ausblick
Zum Abschluß dieses Teiles über die Strafaussetzung und
Bewährungshilfe in der Bundesrepublik Deutschland möchte ich nun
zusammenfassend einige wichtige Aspekte herausgreifen und neue
Entwicklungstendenzen aufzeigen.
Eine entscheidende Veränderung für die Arbeit der
Bewährungshilfe hat die geänderte Aussetzungspraxis nach sich gezogen. Dieser
Umstand läßt sich recht gut an folgenden Daten aufzeigen. Im Jahre 1990 wurden
etwa 67% aller verhängten Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt, des weiteren
wurden ca. 30% aller Strafgefangenen frühzeitig auf Bewährung aus dem
Strafvollzug entlassen. Diese Zahlen charakterisieren die Bewährungshilfe
bereits als die kriminalpolitische Maßnahme zur Haftvermeidung und -verkürzung.
Die Ursache für diese veränderte Aussetzungspraxis liegt einfach in dem
gewachsenen Vertrauen der Richter in die Arbeit der Bewährungshilfe, was zur
Folge hat, daß immer stärker auch solche Probanden in die Bewährungshilfe
einfließen, die durch ungünstige soziale und persönliche Verhältnisse
gekennzeichnet sind und bereits strafrechtlich zum Teil erheblich vorbelastet
sind. Zur Ausweitung der Probanden durch erheblich vorbelastete Täter kommt
noch eine sich verschlechternde Lebenslage der Probanden im allgemeinen.
Seitens der Bewährungshilfe werden aufgrund der dargestellten Problematik die
Rufe nach personellem Ausbau und einer Senkung der Fallzahlen immer lauter.
(vgl. Maelicke, 1994, S. 23 f)
Angezweifelt wird mittlerweile auch die Effektivität der
dominierenden Arbeitsweise in der Bewährungshilfe, die soziale Einzelhilfe. Es
wird hier nämlich in Frage gestellt, ob diese Arbeitsweise geeignet dazu ist,
eine Isolation der Probanden aufzuheben und eine bessere Integration zu
fördern. Es herrscht die Ansicht, die Bewährungshilfe müsse neue Arbeitsweisen
entwickeln, die sich ihrer verändernden Klientel anpassen und deren schwierigen
Problemlagen Rechnung tragen. Diese Innovationsgedanken speisen sich aus dem
Umstand, daß viele der dominierenden Probleme der Probanden mit der
traditionellen Arbeitsweise nicht mehr lösbar sind und an die Stelle der Arbeit
mit den Probanden eine Verwaltung derer tritt. (vgl. Maelicke, 1994, S. 25)
Die heutige Diskussion über eine Reform der
Bewährungshilfe kreist um viele verschiedene Themenbereiche. Einmal geht es um
den vielfach diskutierten Rollenkonflikt des Bewährungshelfers zwischen Hilfe
und Kontrolle. Hier sind die Bestrebungen zugunsten der Funktion des Helfens
ausgerichtet, was möglicherweise durch die Verankerung des
Freiwilligkeitsprinzips in der Bewährungshilfe erreicht werden könnte. Das
Pendant zu dieser Ansicht stellt der Gedanke dar, Bewährungshilfe stärker noch
auf den harten Kern anzusetzen, um so eine weitere Reduzierung der Inhaftierten
zu erreichen. Bestrebungen, die versuchen die Aufgaben von Gerichtshilfe und
Bewährungshilfe zusammenzufassen, existieren auch schon. Der Grund hierfür ist,
daß der Proband während der Zeit, die entscheidend von Justizkontakten
gekennzeichnet ist, eine gewisse Sicherheit erhält, wenn vieles von ein und
derselben Person erledigt wird und der Proband nicht ständig mit neuen
Sozialarbeitern konfrontiert wird. Es wird hiermit also eine Verbindlichkeit
und Verläßlichkeit in der Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klient
angestrebt, welche dann auch von beiden eingefordert werden kann. Derjenige der
also die Diagnose und die Prognose erstellt, soll auch zuständig bleiben für
die Realisierung seiner vorgeschlagenen Schritte, ohne daß es zu ständigen
künstlichen Einschnitten und Abbrüchen aufgrund verfahrensbestimmter
Zuständigkeiten kommt. (vgl. Maelicke, 1994, S. 25 f)
Ein weiterer veränderungsbedürftiger Punkt in der Arbeit
der Bewährungshilfe wäre eine stärkere Vernetzung unter den verschiedenen
Beratungsstellen der Bewährungshilfe. Hier fehlen bis heute fast völlig
gemeinsame Fallbesprechungen und gemeinsame Standards über die Form der
Berichterstattung oder über Stellungnahmen in Folgeverfahren und bei einem
Widerruf. Eine ausreichende Vernetzung fehlt außerdem innerhalb der sozialen
Dienste der Justiz sowie mit freien Trägern der Straffälligenhilfe und anderen
sozialen Institutionen wie dem Jugendamt und dem Sozialamt. Eine engere
Zusammenarbeit im Bereich der justizförmigen Straffälligenhilfe würde eine
durchgehende Betreuung ermöglichen, was die Resozialisierungschancen
entscheidend verbessern könnte. Ein Beispiel hierfür wäre eine engere
Zusammenarbeit der Sozialarbeiter im Strafvollzug mit den Sozialarbeitern der Bewährungshilfe.
Die ersten Schritte des Probanden in Freiheit könnten hier entscheidend
erleichtert werden. (vgl. Maelicke, 1994, S. 22)
Als letzten Punkt in diesem Teil möchte ich nun noch
einmal auf die Forderung nach stärker einzelfallübergreifenden Aktivitäten
eingehen, um auch entsprechend zum nächsten Teil meiner Arbeit überzuleiten.
Hilfe, die sich auf den Einzelfall bezieht, muß sich auf
persönliche Beratung beschränken, da die immer schlechter werdenden Lebenslagen
der Probanden keine andere Möglichkeit mehr offen lassen. Dies ist zum Einen
darin begründet, daß der Bewährungshilfe in den Bereichen Lebensunterhalt,
Arbeit, Wohnen und Schuldenregulierung nicht genügend Ressourcen zur Verfügung
und zum Anderen darin, daß bei sozialen Leistungsträgern die Angebote ebenfalls
zurückgehen. Aus diesen Gründen werden vermehrt einzelfallübergreifende
Aktivitäten gefordert, die auch eine Ausgestaltung der Bewährungshilfe als
sozialen Dienst einschließen. (vgl. Maelicke, 1994, S. 22)
Wie bereits bei den methodischen Ansätzen in der
Bewährungshilfe erwähnt, ist die traditionelle Methode der sozialen Einzelhilfe
nur wenig dazu geeignet, die Probanden aus ihrer Isolation herauszuführen und
ihre Reintegration zu verbessern. Eine bessere Möglichkeit würde hier die
soziale Gruppenarbeit mit Probanden bieten, die einerseits die Möglichkeit
bietet, gemeinsame Erfahrungen zu machen und diese auszutauschen, andererseits
die Erkenntnis erleichtert, daß Straffälligkeit und soziale Problemlagen nicht
Einzelschicksale sind. Die dargestellte aktuelle Situation der Bewährungshilfe,
die gekennzeichnet ist durch immer höhere Fallzahlen und ein ständig
schwieriger werdendes Klientel führt vielfach zu einem reinen Verwahren der
Probanden, weil keine anderen Möglichkeiten mehr offen sind. Könnte hier nicht
die soziale Gruppenarbeit mit Probanden einen Ausweg aus dem Dilemma
darstellen? Legt nicht gerade der Zwangscharakter der helfenden Beziehung eine
gewisse Distanz fest, welche eine Schreibtischsozialarbeit nicht aufbrechen kann
und demzufolge auch nicht in der Lage ist an die wahren Belange dieser
schwierigen Klientel heranzukommen? Des weiteren stellt sich die Frage, ob der
Bewährungshelfer bei der Vielzahl seiner Probanden und deren schwierigen
Lebenslagen überhaupt noch die Gelegenheit hat, den Einzelnen als Person
kennenzulernen und zu erfahren. Dieser Vielzahl von Fragen möchte ich im Rahmen
meiner Diplomarbeit nachgehen, indem ich versuche die erlebnisorientierte
Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe darzustellen und die Effektivität anhand
von einem Praxisbeispiel zu überprüfen.
3. Erlebnispädagogik als Methode in der Sozialen
Arbeit
3.1 Exkurs: Die traditionellen Methoden der Sozialarbeit
In der aktuellen Diskussion wird heute durchaus
bezweifelt, ob es sich bei den drei Methoden der Sozialarbeit: der Einzelhilfe,
der Gruppenarbeit und der Gemeinwesenarbeit nicht lediglich um Arbeitsformen
handelt, die in diesem Sinne überhaupt keine Methoden darstellen. Begründet ist
dieser Kritikpunkt in der Tatsache, daß sich die soziale Arbeit, ob nun mit
Einzelnen oder mit Gruppen, in der Regel auf methodische Konzepte
verschiedenster psychologischer Richtungen stützt.
In der Praxis der Sozialarbeit sind die einzelnen
Arbeitsformen oder Methoden sehr unterschiedlich gewichtet. Man kann davon
ausgehen, daß sich ca. 66 - 75 % aller Sozialarbeiter überwiegend mit der
Arbeitsform der sozialen Einzelhilfe beschäftigen, hingegen nur ca. 16 % mit
sozialer Gruppenarbeit und 11 % mit Gemeinwesenarbeit. Warum die
Anwendungsverhältnisse der einzelnen Methoden so stark differieren, läßt sich
nicht ohne Weiteres feststellen, hierfür wäre eine spezielle Untersuchung
nötig. (vgl.
Belardi u.a., 1995, S. 68 f)
Im folgenden möchte ich nun die drei traditionellen
Methoden kurz in ihrer geschichtlichen Entwicklung und speziellem Gegenstand
vorstellen, um dann zur Methode der Erlebnispädagogik überzugehen.
Die Geschichte der sozialen Einzelhilfe begann gegen Ende
des 19. Jahrhunderts in den USA und in Europa zu einem Zeitpunkt der schnell
fortschreitenden Industrialisierung. Es regten sich in dieser Phase vermehrt
Bemühungen,, der traditionellen Armenpflege
eine wissenschaftliche Basis zu geben. 1898 wurde in New York die erste
Schule für Wohlfahrtspfleger gegründet, die nicht nur Almosen geben wollte um
soziale Notstände zu beheben, sondern den Betroffenen stärker stärker zur
Selbsthilfe zu befähigen. Eine große Rolle in der Geschichte der sozialen
Einzelhilfe, auch Social Casework genannt, spielt das von Mary Richmond 1917
erschiene Buch mit dem Titel :"Social Diagnosis", worin sie den
Grundstock der diagnostischen Einstellung des Sozialarbeiters legt. Mary
Richmond hat damit die wissenschaftliche Grundlage für einen neuen Beruf
geschaffen, wofür sie 1921 mit dem "Master of Arts" ausgezeichnet wurde. Gegen Ende der 20er Jahre und in
den 30er Jahren übte Freuds analytische Psychologie und Psychotherapie einen
entscheidenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der Einzelhilfe aus, was zur
Folge hatte, daß nicht mehr die Einflüsse der Umwelt und ihre Folgen im
Mittelpunkt des Interesses standen, sondern vielmehr darauf geachtet wurde, wie
der Mensch diese Einflüsse erlebt und verarbeitet oder eben nicht verarbeitet.
In Deutschland wurde die Entwicklung der sozialen
Einzelhilfe vor allen Dingen von Alice Salomon in den 20er Jahren geprägt.
Salomon war Direktorin der sozialen Frauenschule in Berlin und veröffentlichte
nach ihrem Studium der Sozialarbeit in den USA das Buch :"Soziale
Diagnose". Damit lieferte sie einen wichtigen Beitrag für die Verbreitung
der sozialen Einzelhilfe in Deutschland.
In den 60er Jahren wurden neue Impulse in die Methode der
sozialen Einzelhilfe hineingetragen. Bei der Beschreibung und Bearbeitung von
Problemlagen wurden nun vermehrt auch kulturelle und soziale Rahmenbedingungen
in die Betrachtung mit einbezogen und vermehrt Handlungsableitungen von anderen
Basiswissenschaften herangezogen. Systemtheoretische Erkenntnisse erhielten
eine stärkere Gewichtung. Mitte der 60er Jahre bis etwa Mitte der 70er Jahre
kam es in Deutschland zu einer kritischen Überprüfung der bis dahin
entwickelten Methoden der Sozialarbeit und vor allen Dingen die Einzelhilfe
stand hier auf dem Prüfstein, da sie als Instrument zur ungerechtfertigten
Anpassung sozial Benachteiligter angesehen wurde.
Die soziale Einzelhilfe, als weitverbreitetste
Arbeitsform in der Sozialarbeit, hat in der Regel psychosoziale Notlagen von
Einzelnen oder von Familien zu ihrem Gegenstand. Diese psychosozialen Notlagen
manifestieren sich zum Beispiel in Erziehungsnotständen und Dissozialität, in
Familienproblemen, abweichendem Verhalten, Drogen- und Alkoholabhängigkeit
sowie in Altersproblemen und Behinderungen verschiedenster Art. Das Ziel der
sozialen Einzelhilfe besteht dementsprechend in der Beseitigung oder zumindest
Verringerung dieser Notlagen und zwar immer in dem Maße, wie dies die
vorhandene Struktur, in der der Klient lebt, dies zuläßt.
Der Hilfeprozeß der Einzelhilfe läßt sich systematisch in
Phasen einteilen, wenn auch diese in der Praxis nicht in dieser Reihenfolge
oder überhaupt in zeitlicher Folge ablaufen müssen. Der Hilfeprozeß ist demnach
gegliedert:
a) in die Fallstudie, in der es um das Sammeln von Daten
geht
b) in die Diagnose, hier werden die vorhandenen Daten
geordnet und überdacht, um zu einer zielgerichteten Erklärung zu gelangen und
c) die Behandlung, in der die Schlußfolgerungen
angewendet werden, um das vorhandene Problem zu beseitigen bzw. Wege zu, wie
dies geschehen kann. (vgl. Belardi, 1995, S. 69 ff)
Nach der Einzelhilfe ist die soziale Gruppenarbeit die
zweithäufigste Arbeitsform der Sozialarbeit. Die Arbeitsmöglichkeiten mit
Gruppen in der Praxis lassen sich unterscheiden nach:
a) der Art der Gruppenmitglieder wie zum Beispiel nach
Geschlecht und Alter oder einem sozialen Merkmal
b) der Beschaffenheit des Problems, welches als Kriterium
für die Gruppenzugehörigkeit gilt
c) der Art des Programms der Gruppe
d) der Zielsetzung der Gruppe.
Möchte man hier nun den genauen Gegenstandsbereich der
sozialen Gruppenarbeit herausarbeiten, so steht man gleich vor einem
Definitionsproblem, denn die bekanntesten Autoren der sozialen Gruppenarbeit
fassen hier alle Arbeitsformen mit Gruppen, ob nun mit Erwachsenen oder mit
Kindern, ob behandlungsorientiert oder bildungsorientiert unter dem Oberbegriff
der sozialen Gruppenarbeit zusammen. Nach Konopka umfaßt soziale Gruppenarbeit
alle Arbeitsformen mit Gruppen behandlungs- sowie bildungsorientierter Art. Um
diese Unschärfe zu umgehen kann man schließlich davon ausgehen, daß soziale
Gruppenarbeit nur aussagt, daß in der Arbeitsform einer Gruppe gearbeitet wird.
Die soziale Gruppenarbeit entstand wie die Einzelhilfe um
die Jahrhundertwende aus der in den USA entwickelten Sozialarbeit. Ihre
wissenschaftliche Basis bilden die Soziologie, die Sozialpsychologie, die
Psychoanalyse und die Gruppendynamik. Die soziale Gruppenarbeit ist jünger als die
in den 20er Jahren entwickelte Einzelhilfe und wurde in Deutschland erst nach
1945 aufgenommen. Im Gegensatz zu dieser eher sozialwissenschaftlich
ausgerichteten Gruppenarbeit entwickelte sich in Deutschland bereits schon zur
Zeit der reformpädagogischen Bewegungen eine Gruppenarbeit mit stärkerer
pädagogischer Ausrichtung. Es ging hier darum, alten Autoritätsverhältnissen
neue Formen der Arbeits- und Lebensgemeinschaft gegenüber zu stellen. Somit ist
die Geschichte der deutschen sozialpädagogischen Gruppenarbeit als eher
bildungsorientiert zu bezeichnen, im Gegensatz zu der in den USA entwickelten
sozialen Gruppenarbeit, die stärker behandlungsorientiert ist.
In den 50er Jahren begann man an die Stelle der sozialen
Gruppenarbeit den Begriff der Gruppenpädagogik zu setzen, um deutlich zu
machen, daß es sich hier um eine bewußt pädagogische Arbeitsweise handelt.
Gruppenpädagogik beschäftigt sich also primär mit der sozialisierenden Wirkung
der Gruppe selber und weniger mit sozialen und psychischen Defiziten oder der
Vermittlung von Lerninhalten. Die Gruppe selbst stellt das Mittel zum Zweck dar
und beabsichtigt damit vor allen Dingen die menschliche und soziale Reifung der
Gruppenmitglieder zu fördern. (vgl. Belardi, 1995, S. 141 ff)
Die dritte traditionelle Methode der Sozialarbeit ist die
Gemeinwesenarbeit. Ihr Gegenstandsbereich umfaßt die sozialen Aktionen von
Menschen, die entweder durch räumliche Nähe miteinander verbunden sind oder die
gemeinsame Problemlagen aufweisen, aufgrund dessen sie benachteiligt sind und
deshalb durch gemeinsames Planen und Handel versuchen ihre Benachteiligung
aufzuheben. Sie setzen in Kommunikationsprozessen ihre eigenen Fähigkeiten zur
Verbesserung ihrer Situation ein.
Die geschichtlichen Wurzeln der Gemeinwesenarbeit liegen
einerseits in der bedrohlichen Ausbreitung von Slums in den Industriestädten
des 19. Jahrhunderts und in der Entwicklung von Programmen für
landwirtschaftlich unterentwickelte und arme Gebiete. Anfänglich wurde dann vor
allen Dingen in den USA im Rahmen von organisierter Hilfe für
Unterpriveligierte ein Feldzug gegen die Armut des 19. Jahrhunderts gestartet.
Eine bedeutende Rolle spielt hier die Settlement Bewegung um den Pfarrer Samuel
Barnett, der mit seiner Frau und einigen Studenten in ein Slumviertel zog, um
dort gemeinsam mit der Bevölkerung für bessere Wohnverhältnisse zu arbeiten.
Anders war dies bei den landwirtschaftlichen Entwicklungsprogrammen. Der Westen
war zu dieser Zeit von Siedlern bereits voll erschlossen worden, die Erträge
waren jedoch gering und die Menschen litten unter großer Armut. Aufgrund
staatlicher Initiativen wurden dann sogenannte Agriculture Colleges geplant,
die einerseits wirtschaftliche und bildungsmäßige Hilfen anboten, andererseits
jedoch auch die Entwicklung von Gemeinden, Schulen und Marktmöglichkeiten
vorantrieben. Beide Arbeitsansätze bringen die gemeinsamen Merkmale von
Gemeinwesenarbeit, die im Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe bestehen, in einer
selbstorganisierten Gruppenbildung mit einem demokratischen
Veränderungsanspruch, in einer Betreuung und Beratung durch Fachleute sowie in
der Förderung kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten zum Ausdruck.
Als dritten Entwicklungsstrang der Gemeinwesenarbeit kann
man die Gemeindearbeit bezeichnen. Hier stand die Vermittlung von Kontakten,
Hilfen und Verständnis füreinander innerhalb von Wohnbereichen im Vordergrund.
Gesellschaftspolitische Forderungen traten stärker in den Hintergrund und die
Aufhebung von Isolierung sowie die Förderung von Kommunikation und Kreativität
hatten Priorität. Zusammenfassend könnte man Gemeinwesenarbeit heute als einen
Protest gegen vorgegebene Isolierungstendenzen und gegen die Auslieferung von
Menschen an Machtfaktoren, welche ihre humanen und gerechten Lebensbedürfnisse
einschränken, verstehen.
In Deutschland setzte die Gemeinwesenarbeit in den 50er
Jahren ein und zwar als erstes in Form von Initiativen in
Obdachlosensiedlungen. Hier versuchten Einzelne oder Gruppen, meist politisch,
sozial oder kirchlich engagiert, Solidarisierungsprozesse unter der Betroffenen
zu wecken und zu unterstützen, damit diese für bessere Wohnbedingungen, weniger
Kontrolle durch die Behörden sowie Diskriminierungsprozesse durch die Presse
eintreten und Veränderungen anstrebten. Parallel zu der Arbeit in
Obdachlosensiedlungen entwickelte sich in Neubau- und Sanierungsgebieten die
Gemeinwesenarbeit als Stadtteilarbeit. Hier erhoben betroffene Anwohner,
Initiativgruppen, fachliche Berater, Sozialarbeiter und Kirchen gemeinsam
Kritik gegen die herrschenden Lebensbedingungen und Reglementierungen und
forderten Veränderungen der Wohn- und Lebenssituationen. (vgl. Belardi, 1995, S. 229 ff)
3.3 Geschichtliche Entwicklung der Erlebnispädagogik
3.3.1 Die frühen Wegbereiter der Erlebnispädagogik
Des weiteren werde ich nun Rahmen meiner Ausführungen
über die geschichtliche Entwicklung der Erlebnispädagogik auf die bekannteste
Wurzel dieser eingehen, nämlich auf die Reformpädagogik. Vorab werde ich noch
zwei Persönlichkeiten vorstellen, die das Gedankengut der Erlebnispädagogik
schon in früherer Zeit geprägt haben.
Die Rede ist hier von Jean-Jaques Rousseau und von David
Henry Thoreau. Beide lebten im Zeitalter der Aufklärung und haben das philosophische
sowie das pädagogische Denken ihrer Kontinente entschieden beeinflußt und
geprägt. Gemeinsam ist ihnen, daß sie Utopien der Erziehung und des modernen
Staates entwickelt haben, die dem Zeitgeist entgegenliefen und die die Schaffung eines neuen Menschen vor
Augen hatten. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 3)
Zuerst einmal zu Jean-Jaques Rousseau: Die Parallelen
seines Denkens und Werkens zur Erlebnispädagogik werden am deutlichsten in
seinem Roman: "Emile- oder über die Erziehung". Rousseau lebte von 1712
bis 1778 und somit steht sein Werken vor dem Hintergrund der Aufklärung. Die
Erziehung zur Zeit der Aufklärung war geprägt von Wissenserwerb, Training der
Denkfunktion, Lernen im Unterricht und Förderung der Vernunft. Seiner Ansicht
nach war dies jedoch nicht das Entscheidende, was die menschliche Existenz
prägen sollte, sondern für ihn stand die Erfahrung durch die Sinne, ein
Feingefühl für das innere Empfinden und die Gefühle im Mittelpunkt des
Interesses.
Der Roman Rousseaus: "Emile- oder über die Erziehung",
läßt sich aus heutiger Sicht sehr gut mit den Augen eines Erlebnispädagogen
lesen. Der wohl bekannteste Satz diese Romans: "Alles ist gut, wie es aus
den Händen des Schöpfers kommt, alles entartet unter den Händen des
Menschen" (Rousseau, 1975, S .9), läßt hier schon auf eine bestimmte
Ausrichtung des Denkens Rousseaus schließen. Der zu Erziehende in diesem Roman,
genannt Emile, sollte sein Wissen nicht aus den Belehrungen seines Erziehers
ziehen, sondern alleine aus seinen Erfahrungen erwerben und aus der Sache
selbst. Der Erzieher hat bei Rousseau lediglich die Aufgabe, negative Einflüsse
auf diesen Erziehungsprozeß zu verhindern und die Erziehungsgewalt der Natur
und der Dinge zu stärken. Negative Einflüsse im Sinne Rousseaus sind die
Gesellschaft, die Wissenschaft, die Zivilisation und die Kunst. Der Erzieher
hat die Rolle eines Anwaltes. der für die natürlichen Bedürfnisse des Kindes
eintritt.
Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß Rousseau versucht,
sich auf die Lebenswelt des Kindes auszurichten. Seiner Meinung nach sind
Abenteuer, Erfahrung und Erlebnis Lernprinzipien, die der Natur des Kindes
entsprechen und seine Entwicklung fördern. Wichtig ist für ihn das direkte
Lernen über die Sinne und nicht das Erlernen und das Unterrichten. Mit diesem
Gedankengut hat Rousseau bereits die Grundmauern der Erlebnispädagogik
errichtet, was folgendes Zitat noch einmal in aller Kürze verdeutlicht:
"Und denkt daran, daß ihr in allen Fächern mehr durch Handlungen als durch
Worte belehren müßt. Denn Kinder vergessen leicht was sie gesagt haben und was
man ihnen gesagt hat, aber nicht, was sie getan haben oder was man ihnen
tat." (Rousseau, 1975, S. 80) Es gilt jedoch zu erwähnen, das Rousseau
zeit seines Lebens ein Schreibtischtäter geblieben ist und seine eigene Kinder
nicht selber erzogen hat, sondern sie ins Findelhaus gab.
Knapp 100 Jahre später wurde diese Gedanken von David
Henrey Thoreau wieder aufgegriffen und weitergeführt. (vgl. Heckmair/Michl,
1994, S. 4 ff) David Henry Thoreau war ebenfalls der Ansicht, daß die Natur die
größte Erzieherin und Lehrmeisterin ist, er jedoch lieferte im Gegensatz zu
Rousseau auch ein praktisches Beispiel seiner Lebenskunst.
Thoreau zog am 4.Juli 1845 in eine selbstgebaute Hütte am
Waldensee in der Nähe seiner Heimatstadt Concord und sein Leben dort
zweieinhalb Jahre lang war geprägt von Einfachheit und Einsamkeit. Den Grund
hierfür bildete nicht etwa ein romantischer Rückzug Thoreaus in die Natur,
sondern lag in einem komplexem Gedankengebäude und seine persönliche Situation.
Dieses sogenannte Walden-Experiment war Ausdruck für die Distanz, die Thoreau
zum "American way of life" einnahm. Das Leben in Amerika war in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet von Aufbruchstimmung und
Naturbeherrschung sowie von Technik und Industrialisierung, Naturwissenschaft
und Fortschritt. Er nahm die Rolle des Skeptikers ein. Des weiteren prangerte
er den Luxus, die Mode, die Bequemlicht, die Zivilisation sowie die Technik an,
die seiner Meinung nach Schuld daran sind, daß die Unmittelbarkeit des Lebens
verloren geht. Im Rahmen des Walden-Experimentes versuchte Thoreau den
ursprünglichen Bedürfnissen des Lebens auf den Grund zu gehen, indem er ein
asketisches Leben führte und so hoffte das wirklich wichtige, die Wirklichkeit,
zu erfahren.
Thoreau hatte viele Ideen der späteren Reformpadägogik
bereits in seinem Gedankengebäude integriert, wie vor ihm schon Jean-Jaques
Rousseau. Das Jahrhundert des Kindes, welches im Jahre 1900 von Ellen Key
ausgerufen wurde, hatte hier bereits begonnen. Ausgangspunkte all dieser
Überlegungen sind immer die eigenen Erfahrungen sowie das Lernen durch Versuch
und Irrtum und dies in möglichst realen Situationen. Das Leitmotiv Thoreaus war
es, einen neuen Menschen zu schaffen, der die Tugenden Aufrichtigkeit,
Wahrheitsliebe, Einfachheit und Weisheit besitzen sollte, eben ein
konstruierter Mensch, so wie Emile einer war.
Abschließend läßt sich sagen, das David Henry Thoreau,
wie auch Jean-Jaques Rousseau, als Wegbereiter der Erlebnispädagogik genannt
werden können. Das Walden-Experiment ist quasi eine Selbsttherapie von Thoreau
gewesen, denn sein Leben in der Einsamkeit und Einfachheit befreite ihn von den
schweren Depressionen, an denen er nach dem Tod seines Bruders litt. Die
Erlebnisse in der Natur haben ihm demnach zur Überwindung seiner Depressionen
entschieden beigetragen, sozusagen eine Erlebnistherapie. Den Ausdruck der
Erlebnistherapie finden wir ca. 100 Jahre später in dieser konkreten
Bezeichnung und zwar prägte diesen Begriff Kurt
Hahn. (vgl.Heckmair/Michl, 1994, S. 9 ff)
3.3.2 Die Reformpädagogik
Die Epoche der Reformpädagogik ist vor dem Hintergrund
der gesellschaftlichen Umwälzungen zu sehen, die der erste Weltkrieg mit sich
brachte. Einerseits herrschte natürlich große Not in Deutschland, wie das nach
Kriegen die Regel ist, andererseits entstand jedoch auch eine geistige
Blütezeit, welche die unterschiedlichsten Gedanken zum Erziehungsprozeß
hervorbrachte. Einer der entscheidenden Gesichtspunkte, den die Reformpädagogen
hervorbrachten, war die Kritik an den herrschenden Strukturen in den Schulen
und anderen pädagogischen Institutionen, die von Autorität geprägt waren. Das
weitverbreitetste Mittel pädagogischer Intervention war der Zwang, und das
Lernen vollzog sich im Stil des Eintrichterns von Informationen und Wissen.
(vgl. Sommerfeld, 1995, S. 24)
Die Reformpädagogik und alle ihre Bewegungen gelten
allgemein als die eigentliche Wurzel der Erlebnispädagogik. Die Epoche der
Reformpädagogik wird in der aktuellen Literatur datiert zwischen den Jahren
1890-1933 und beschränkte sich in den Anfängen zunächst auf den
deutschsprachigen Raum, bevor sie dann nach Europa überschwappte. Die
Reformpädagogik gliedert sich in Bewegungen, deren Gemeinsamkeit es ist, daß
der Begriff des Erlebens in allen eine zentrale Rolle spielt. Weitere Begriffe
oder besser gesagt Ideen der Reformpädagogik sind die des Augenblicks, der
Unmittelbarkeit, der Gemeinschaft, der Natur sowie der Echtheit und
Einfachheit.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts schien sich das Wort
Erlebnis zu einem Modewort entwickelt zu haben. Beispielsweise verwendete Hugo
Gaudig in der Einleitung seines Buches: "Was der Tag mir brachte"
siebenunddreißigmal den Begriff des Erlebens, Wilhelm Dilthey schrieb eine
Abhandlung über das Verhältnis Dichtung und Erlebnis. Kurzum die Begriffe des
Erlebens und des Erlebnisses schienen in aller Munde zu sein.
Die Geschichte der Reformpädagogik sowie auch der
Erlebnispädagogik beginnt mit der Kulturkritik zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Die wohl bekanntesten Kulturkritiker waren Paul de Lagarde, Julius Langbehn und
Friedrich Nietsche. Ausgangspunkt ihrer Kriktik stellte das veraltete und
überholte Preußische Schul- und Bildungswesen dar. Ihrer Meinung nach stand
hier eine Verwissenschaftlichung und ein Expertentum im Vordergrund, was nicht
eine Ganzheitlichkeit und Volksbildung zum Ziel hatte, wie es ihrer Ansicht
nach wichtig wäre. Die Kulturkritiker wandten sich hauptsächlich an die Jugend
mit dem Ziel, ihr neue Ideale vermitteln zu wollen. Einen ebenso hohen Stellenwert
für die Geschichte der Erlebnispädagogik nimmt neben der Kulturkritik die
Lebensphilosophie dieser Reformpädagogen ein, die sich damit beschäftigte, daß
das menschliche Leben nach aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt strebt.
Gefühl, Intuition, Anschauung sowie Unmittelbarkeit stellen die wahren
Erkenntnisfunktionen des Menschen dar. Zu nennen wären hier exemplarisch Henri
Bergson, Georg Simmel, Hugo Gaudig und Martin Luserke.
Ich möchte nun die zentralen Begriffe der Reformpädagogik
erläutern, bevor ich näher in die Thematik einsteige:
a) Der Begriff des Augenblicks
Dieser Begriff soll dem, der etwas erlebt, Identität
verleihen, da er im Zusammenhang steht mit Plötzlichkeit, Ergriffenheit,
Eingebung und Intuition. Die augenblicklichen Anforderungen, die an ein
Individuum gestellt werden, machen ihm die Grenzen zwischen sich selbst und der
Umwelt bewußt. Des weiteren ist der Augenblick dazu geeignet die Zukunft und
die Vergangenheit ineinander zu verschmelzen, damit das Gefühl des Erlebens und
der Präsenz eines Individuums in seiner Umwelt verstärkt werden.
b) Der Begriff der Unmittelbarkeit
Die bürgerliche Jugend der Jahrhundertwende empfand ihre
Umwelt als von Erwachsenen beherrscht und vorgeformt, langweilig und triste.
Das ganze Erleben war gefiltert durch die Erwachsenen und mittelbar. Die Jugend
suchte jedoch nach Unmittelbarkeit und eigens gestalteten Erlebnissen, welche
sie nur in der Natur, fernab von der Welt der Erwachsenen finden konnte. Gemäß
der Tradition der Jugendbewegung suchten demzufolge die Pädagogen des
anfangenden 20. Jahrhunderts nach dieser Unmittelbarkeit, um sie für
pädagogische Zwecke zu nutzen. Jedoch alleine dieses planmäßige Vorgehen
verurteilte die Aktionen häufig schon im Vorfeld zum Scheitern, wie dies auch
bei heutigen Unternehmungen der Fall ist.
c) Einfachheit und Echtheit
Mit den Begriffen der Einfachheit und Echtheit war
verbunden, daß wahre Erziehung nur auf dem Land und somit in einer natürlichen
Umgebung vollzogen werden sollte. Die Großstadt galt in der Zeit der
Reformpädagogik als ungünstiges Erziehungsumfeld, wie dies bereits von Rousseau
und Thoreau postuliert wurde.
d) Die Gemeinschaft
In der Zeit der Reformpädagogik spielte die Bedeutung der
Gruppe in fast allen pädagogischen und
psychologischen Theorien eine wichtige Rolle, sei es in der Erlebnistherapie
von Kurt Hahn oder in Adlers Individualpsychologie. Die Gemeinschaften waren
anfangs kleinere soziale Gebilde wie z.B. eine Pfadfindergruppe oder eine
Kindergruppe, später weitete sich dieser Gruppenbegriff auf größere
Gemeinschaften aus wie die des Deutschen Volkes oder des Volkes überhaupt.
Basis bildete hier immer eine Gleichgesinnung und ein Gleichempfinden der
Gemeinschaftsmitglieder. Vielleicht war gerade diese Eigenschaft verantwortlich
dafür, daß sie später leicht umfunktionalisierbar für den Nationalsozialismus
war.
(vgl. Heckmair/Michl, 1994, S.17 ff)
Ein weiterer entscheidender Impuls für die Entwicklung
der Erlebnispädagogik stellte die Landerziehungsheim Bewegung der
Reformpädagogik dar. Das Kind war bisher, Objekt der Pädagogik und ihrer
hochgesteckten Leitlinien gewesen, nun sollte es in den Mittelpunkt der
Betrachtung gerückt werden, um ihm endlich eigene Bedürfnisse zuzugestehen. An
die Stelle der starren Schulanstalt sollte nun eine Schulgemeinschaft treten,
in deren Umfeld sich das Kind unter Gleichaltrigen selber erziehen konnte.
(vgl. Antes, 1995, S. 14)
In Gang gesetzt wurde die Landerziehungsheim Bewegung
1889 durch den Engländer Cecil Reddie, der dort sein erstes Heim in Abbotsholme
gründete. Von diesem Zeitpunkt an breitete sich die Landerziehungsheimbewegung
schnell in verschiedenen europäischen Ländern aus. Ausgangspunkt dieser
Heimgründungen war sie Absicht, junge Menschen von den schlechten Einflüssen
der Zivilisation fernzuhalten und ihnen
im Gegensatz dazu ein Lernfeld anzubieten, welches geprägt ist von einer
gesunden, naturgemäßen und vernünftigen Lebensweise. In diesem Lernfeld sollten
auch nicht nur die intellektuellen Fähigkeiten gefördert werden, sondern
besondere Betonung lag auf der Förderung von seelischen und körperlichen
Kräften. Jede neue Heimgründung arbeitete mit anderen Erziehungsschwerpunkten
und besonderen Ausprägungen des Lebens in der Schulgemeinde. (vgl. Potthoff,
1992, S. 15)
In meinen weiteren Ausführungen zur Landerziehungsheim
Bewegung möchte ich mich auf den bekanntesten deutschen Initiator Hermenn Lietz
beschränken, da eine vollständige Darstellung dieser Bewegung den Rahmen
sprengen würde, und weil Lietz auch ein entscheidenes Vorbild für Kurt Hahn, den
Urvater der Erlebnispädagogik, war. Hermann Lietz wird von seinen ehemaligen
Schülern als begnadeter Erzieher beschrieben. Geprägt war Lietz stark von den
Einflüssen des Engländers Cecil Reddie und von Konzeptionen älterer Internate.
Lietz kann man ebenfalls als einen Vertreter der Kulturkritik bezeichnen und er
bemängelte ebenfalls wie seine Vorgänger und seine Nachfolger, die einseitige
intellektuelle Ausbildung an den Schulen.
In seiner Erziehungskonzeption ging es Lietz darum, die
verschiedenartigen Anlagen des Kindes zu entwickeln und zwar nicht durch bloßen
Unterricht, sondern in Form einer Umstellung der gesamten Lebensweise.
Voraussetzung hierfür war eine Erziehung auf dem Land fernab von
Masseneindrücken und gräßlichen sowie häßlichen Dingen der Stadt. Die von Lietz
favorisierten Erziehungsmittel waren eine gesunde, naturgemäße und vernünftige
Lebensweise, planmäßige Körperübungen und Arbeit sowie das Spiel.
Lietz arbeitete mit dem System der Familienerziehung in
seinen Heimen, d.h jeder Lehrer betreute etwa 12 Schüler als sogenannter
Familienvater. Ziel dieses Systems war eine wirkliche Begegnung zwischen Lehrer
und Schüler, die für Lietz sozusagen das Kernstück der Erziehung darstellte.
Einen großen Teil seiner Lebenslehre, welcher auch besonders interessant im
Hinblick auf die Erlebnispädagogik, stellten Wanderungen und Reisen dar. Die
Anstrengungen, die Lietz im Rahmen dieser Aktivitäten von seinen Schülern
verlangte, nahm er auch immer selber auf sich. Ziel dieser Unternehmungen
stellte das Herstellen eines Gemeinschaftsgefühls sowie eine
Weltoffenheitsorientierng dar. (vgl. Potthoff, 1992, S. 92 ff)
Kurt Hahn gilt als Vater der Erlebnispädagogik. Er war
von Hause aus weder studierter Pädagoge, noch Politiker mit Mandat. Trotzdem
hat er die Pädagogik entschieden mitbeeinflußt. Nach dem ersten Weltkrieg
machte sich Hahn als politischer Berichterstatter, Redenschreiber und Berater
verdient. Er gehörte zu den engsten Vertrauten des letzten deutschen
Reichskanzlers Max von Baden, der nur 40 Tage an der Macht war und später
unterstützt von Kurt Hahn die Landerziehungsheim Schule Schloß Salem gründete.
Hahn wurde zum Leiter dieser Schule ernannt und verstand es hervorragend,
Schüler, Kollegen und sein Umfeld für seine Ideen zu begeistern. Hahn war weit
davon entfernt, das Rad neu zu erfinden. Er bediente sich der uneinheitlichen
und zum Teil recht außergewönhlichen Modelle der Reformpädagogik. Seine
pädagogische Praxis war inspiriert von der britischen Tradition des
demokratischen Handelns, welches er im Rahmen seiner zahlreichen Reisen durch
England kennengelernt hatte. Des weiteren war er beeinflußt von dem Gedankengut
Platons, das sich um ein harmonisches Staatsverständnis drehte und der daraus
abgeleiteten Hoffnung, man könne durch eine richtige Erziehung den dafür
geschaffenen Staatsbürger hervorbringen. Das von Platon geschaffene Gleichnis
"Politeia" prägte entscheidend Hahns Einstellung, denn hier ging es
darum, daß eine ideale Gemeinschaft in der Lage ist, durch Erziehung das Gute
im Menschen hervorzubringen. Ähnlich beeindruckend und und prägend wirkten sich
auch die Landerziehungsheime von Reddi und Lietz bis hin zu Wynekens und
Geheebs aus, die im Sinne einer pädagogischen Provinz, die Trennung der Kinder
von ihren Eltern postulierten, da man annahm, daß sie nicht in der Lage sind,
die verantwortungsvolle Aufgabe der Erziehung zu leisten.(vgl. Heckmair/Michl,
1994, S. 21 ff)
Erziehung nach der Vorstellung Hahns war ein Lernen, das
durch konkretes Handeln und praktischen Lebensbezug gekennzeichnet war. Mit
dieser Auffassung lief Hahn der öffentlichen Erziehung zuwider. Er stellte eine
neue Rangfolge der Erziehungsaufgaben auf:
1. Charakter
2. Intelligenz
3. Wissen
Gespeist hat sich Hahns entwickelte Erlebnistherapie aus
der Erkenntnis, daß die jungen Menschen stark an modernen Verfallserscheinungen
litten, denen in irgendeiner Form begegnet werden mußte. Die
Verfallserscheinungen äußerten sich nach Hahn in:
a) der Zuschauerkrankheit- der fehlenden
Selbstinitiative, verursacht durch die modernen Kommunikationsmittel.
b) dem Verfall körperlicher Tauglichkeit- verursacht
durch die modernen Fortbewegungsmöglichkeite
c) dem Verfall der nötigen Geschicklichkeit und Sorgfalt-
der aufgrund der schwächer werdenden Tradition des Handwerkertums zustande kam
d) der mangelnden Fähigkeit, Empathie für andere Menschen
zu entwickeln,- verursacht durch eine ständige Hast und Eile, die das moderne
Leben mit sich brachte. (vgl. Antes, 1995, S. 15)
Die von Hahn vorgenommene Gesellschaftsdiagnose förderte
also Verfallserscheinungen zu Tage, denen er mit einem erlebnistherapeutischen
Konzept begegnen wollte, um damit heilende Kräfte zu aktivieren. Den vier
Verfallserscheinungen der modernen Gesellschaft, setzte vier Aktivitäten gegenüber,
die seine Erlebnistherapie bildeten:
a) Das körperliche Training
Hierunter waren leichtathletische Übungen sowie je nach
Standort der Einrichtung unterschiedlich geprägte Natursportarten zu verstehen,
wie z.B. Bergsteigen, Skilaufen, Segen und Kanufahren. Ergänzt wurden diese
Aktivitäten mit unterschiedlichen Ballspielen und Übungen in speziellen
Parcours.
b) Die Expedition
Anspruchsvolle Naturlandschaften bildeten hier das
Medium. Die Expedition bestand aus einer mehrtägigen Tour, der eine Planungs-
und Vorbereitungsphase vorausging. Im Mittelpunkt stand hier zwar die
körperliche Anstrengung und Betätigung, eingebettet war dies jedoch in
alltagspraktische Tätigkeiten wie Selbstversorgung, Entsorgen, Transportieren
und ein Nachtlager vorbereiten.
c) Das Projekt
Hierbei wurden an die Teilnehmer handwerklich-technische
sowie künstlerische Anforderungen gestellt. Das ganze vollzog sich in einem
abgesteckten Rahmen thematischer sowie zeitlicher Art. Heute würde man dies als
prozeß- und produktionsorientierte Aktion bezeichnen.
c) Der Dienst
Das Element des Dienstes am Nächsten war für Hahn das
wichtigste in seiner gesamten Erlebnistherapie. Je nach Standort und
Beschaffenheit der Umwelt wurden Tätigkeiten der Ersten Hilfe, der Berg- oder
Seenotrettung sowie der Küstenwache eingeübt. Eine praktische Bedeutung hatten
diese Kurse auch für die Regionen in denen sie stattfanden, da in den 50er und
60er Jahren diese Rettungsdienste noch nicht wie in der heutigen Form
professionalisiert waren.
(vgl. Hechmair/Michl, 1994, S. 24 ff)
Es wäre durchaus denkbar, diese vier Elemente automatisch
auf die jeweilig auftretende Verfallserscheinung anzuwenden, Kurt Hahn hat dies
jedoch in dieser Weise nicht postuliert. Ihm war wichtig, daß erst die
Verknüpfung der einzelnen Elemente und ein Zusammenspiel dieser die eigentliche
charakterbildende Wirkung zum Vorschein bringt. (vgl. Bauer/Nickolai, 1991, S.
16) Vorrangigstes Ziel war es nach Hahn, allseitig gebildete Menschen zu
erziehen, die in der Lage sind sozial kompetent und verantwortungsbewußt zu
handeln. Um dieses Ziel zu verwirklichen, hat er für sich und damit für sein
pädagogisches Handeln zwei Grundprinzipien herausgearbeitet, die auch in seinen
Internaten und Kurzschulen fest institutionalisiert wurden.
Das erste Prinzip besagte, daß Erleben immer besser ist
als Belehren. Nach Hahn ist faktisch niemand in der Lage,
Verantwortungsbewußtsein zu erlangen, wenn er niemals in die Situation versetzt
wird selber Verantwortung tragen zu können. Hier kommt zum Ausdruck, daß die
gedankliche Ebene und die Handlungsebene nicht identisch sind und bei Hahn eine
größere Gewichtung auf der Handlungseben liegt. Die herkömmliche Pädagogik der
Schule spricht nach Hahn lediglich die Ratio der Schüler an und wendet sich
somit gegen eine ganzheitliche Sichtweise des Menschen, die Herz und Hand
miteinschließt. Demnach ist es Aufgabe der Pädagogik, ganzheitliche
Erziehungsformen zu entwickeln und Erlebnisräume zu schaffen, die eine
Entwicklung und Erziehung ermöglichen.
Das zweite Prinzip der Erlebnistherapie ist die Erziehung
durch die Gemeinschaft. Die Gemeinschaft hat einerseits die Funktion eines
Erziehungsmittels und andererseits die eines Disziplinierungsmittels, d.h. sie
wird quasi als soziale Kontrolle
moralischer Forderungen eingesetzt. Demnach sind die körperlichen Grenzerfahrungen
nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern schließen den Aspekt einer
gemeinschaftlichen Bewältigung einer Sache mit ein. Die Teilnehmer werden so
dazu gezwungen, aufeinander einzugehen und miteinander zu kooperieren. Aufgrund
dessen werden ganz besondere Lernerfahrungen möglich, ohne daß diese
angesprochen oder gelehrt werden müssen. Das Erlebnis in Gestalt einer
gemeinsamen Aktion wird zum Mittel erzieherischer Intervention und ist in der
Lage, den Lernenden in eine aktive Rolle zu versetzen in einem Prozeß, der
einen sozialen Charakter besitzt und welcher beeinflußt und gestaltet werden
kann. (vgl. Sommerfeld, 1995, S. 28 f)
Es stellt sich nun die Frage, wie die von Hahn so
hochgeschätzten Erlebnisse sein müssen, um die entsprechende Wirkung zu
erzielen. Kurt Hahn vertrat die Ansicht, daß die Erlebnisse einen hohen
Intensitätsgehalt besitzen müssen, damit diese, wie Hahn sie selber bezeichnet,
"Heilsamen Erinnerungsbilder" auch nach Jahren noch in einer
Situation der Bewährung abrufbar sind und entsprechend steuernd wirken können.
(vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 25)
Zum Abschluß dieses Punktes über Kurt Hahn möchte ich nun
noch einige zusammenfassende und würdigende Anmerkungen anschließen. Wie
bereits erwähnt hat sich Hahn von den breiten Strömungen der Reformpädagogik
leiten lassen. Die Idealisierung des Kindes in der Reformpädagogik wurde in
gewisser Weise auch von ihm übernommen, jedoch weniger romantisierend sondern
mit einer ganz konkreten Ausrichtung, nämlich durch Erziehung mündige Staatsbürger
zu schaffen, die Verantwortung übernehmen sollen. Ebenso wie Hermann Lietz und
andere Reformpädagogen gründete Hahn Landerziehungsheime und Outward
Bound-Bildungsstätten. In den von ihm gegründeten Einrichtungen stand jedoch
nicht, wie dies bei den anderen der Fall war, das Fernhalten ihrer Zöglinge von
der kranken Zivilisation im Vordergrund, sondern er brachte weltoffene Elemente
in sein Konzept mit ein. Diese Weltoffenheit drückte sich in den Berg- und
Seenotrettungsübungen, Feuerwehreinsätzen und Hilfsdiensten bei den umliegenden
Bauernhöfen aus.
Kurt Hahn war eigentlich sein ganzes Leben lang bestrebt,
möglichst viele Jugendliche zu erreichen. Er gründete mit dem Reeder Laurence
Holt die erste Bildungsstätte, in der überwiegend kurzzeitpädagogische Kurse
durchgeführt wurden. Als idealer Standort bot sich das an der englischen
Westküste gelegene Aberdovey an. Laurence Holt gab der Bildungsstätte den Namen
Outward Bound, was ein Seemannsausspruch für ein zum Auslaufen bereites
Schiff aus früherer Zeit ist. Noch
heute ist Outward Bound eine Bezeichnung für sämtliche Programme und
Einrichtungen nach Hahnscher Prägung. Hahns Erlebnistherapie, die zur heutigen
Erlebnispädagogik mutiert ist, hat als erste die Natur- und Kulturlandschaft
als konkretes Erziehungsmedium nutzbar gemacht. Seine Methode, die von
Ernsthaftigkeit und Unmittelbarkeit der Situationen gekennzeichnet war, hatte
im Gegensatz zu einer Vielzahl anderer reformpädagogischer Modelle einen Erfolg
aufzuweisen. Begriffe wie Echtheit, Direktheit und Authenzität sind in einer
modernen Welt, welche gekennzeichnet ist durch hohe technische Standards und
modernste Medienmöglichkeiten, mehr gefragt als je zuvor. Die Körperlichkeit
und das lustvolle Empfinden psychischer und physischer Anstrengung wird heute wieder
neu entdeckt. Der Boom der Fitnesswelle und die Vielzahl der Extremsportarten
sind ein guter Beweis hierfür. Alleine aus diesen Gründen ist die Hahnsche
Pädagogik ein Ansatzpunkt für viele pädagogische Praktiker geblieben. Hierzu
läßt sich noch anfügen, daß vieles was Sozialwissenschaftler und Theoretiker in
den späten 60er Jahren in den Bereich der Freizeit und Ersatzbefriedigung
abgedrängt haben, heute wieder ausgegraben wird, um es für Bildung und
Erziehung nutzbar zu machen. Die Aktualität Kurt Hahns spricht hier für sich.
(vgl. Hechmair/Michl, 1994, S. 23 ff)
3.3.3 Erlebnispädagogik vom Nationalsozialismus bis heute
Die Pädagogik des dritten Reiches brachte keine
Erneuerungen hervor. Der Nationalsozialismus arbeitete vielmehr mit dem
Vorhandenen und zwar in der Form, daß er ausselektierte, was nicht seiner
Ideologie entsprach, tolerierte, was ihm keinen Schaden zufügte und förderte,
was ihm nützlich war. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß der
Nationalsozialismus zwischen der traditionellen und weiterentwickelten
reformpädagogischen Erziehungsarbeit schwankte, je nachdem, was seinen
Interessen und Zielen entsprach. Die Strategien im Erziehungs- und
Bildungsbereich waren ebenso schwankend und sprunghaft, wie die politischen
Strategien. "Jederzeit konnte verdammt werden, was eben erst gefeiert war,
wenn es dem Urteil Hitlers oder eines Gefolgsmannes als Führer in einer
nationalsozialistischen Gliederung gefiel" (vgl. Dräger, 1995, S. 32)
Der relativ hohe Stellenwert der Erlebnispädagogik im
Dritten Reich ist vielleicht darin begründet, daß die Weltanschauung der
Nationalsozialisten wohl eher einen Erlebnisinhalt darstellte als eine Lehre.
An der Erlebnispädagogik interessierte sie vornehmlich die Möglichkeit
geleitete soziale Erlebnisse in einem kalkulierten Erlebnisszenario zu
konstruieren. Absicht der Nationalsozialisten war es, den methodisch bedingten
Subjektverlust des Einzelnen in eine Kollektivität zu überführen Die Highlights
erlebnispädagogischer Verwendung im dritten Reich beschränkten sich auf
Versammlungen, Aufmärsche, Kundgebungen, Fackelzüge, Feiern, Chorspiele und
Zeltlager.(vgl. Dräger, 1995, S. 31 ff)
In der Betrachtung der Erlebnispädagogik nach 1945 bis
heute beschränke ich mich den Autoren Heckmair und Michl folgend, auf die
Entwicklung in Westdeutschland. Heckmair und Michl bezeichnen den Versuch einer
Verortung hier als äußerst schwierig, da die Erlebnispädagogik oft als solche
gar nicht erkennbar ist und auch die Entwicklungen in die Betrachtung mit
einbezogen werden sollen, wo nur einige Elemente der Erlebnispädagogik
auftauchen, ohne daß der Begriff als solcher verwendet wird.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges drängten die Alliierten
auf eine Umerziehung der deutschen Jugend die weg vom Nationalsozialismus hin
zur Demokratie führen sollte. Es wurde den Jugendverbänden zunächst verboten,
sich überregional zu organisieren. Die Alliierten empfanden verständlicherweise
Unbehagen bei uniformtragenden Gruppen. In der damaligen Jugendarbeit waren es
von Beginn an Fahrten und Zeltlager, die einen hohen Stellenwert einnahmen, um
die Jugend wenigstens räumlich einmal aus dem Grauen Alltag zu befreien. Eine
spezielle Jugendkultur hat sich in den beiden ersten Jahrzehnten der BRD nicht
entwickeln können. Den genannten Unternehmungen das Etikett Erlebnispädagogik
auf die Fahnen zu schreiben, würde nach Meinung der Autoren Hechmair und Michl
der Sache nicht gerecht werden. Das Selbstverständnis der Jugendbünde war eher
instrumentell, denn ein pädagogisch-reflexiv. Es herrschten hier stärker
verbandspolitische Interessen vor, mit dem Ziel, durch Schaffung attraktiver
Inhalte, Jugendliche zu binden und Nachwuchs für die Organisation zu
rekrutieren. Festzustellen bleibt jedoch, daß eine Vielzahl von Jugendverbänden
in ihren neu formulierten oder bestehenden pädagogischen Zielsetzungen auf
Elemente der Hahnschen Pädagogik zurückgriffen, auch wenn dies meist unbewußt
geschah. Deckungsgleich mit den Zielen und Vorstellungen der Erlebnispädagogik
arbeitete die Jugend des deutschen Alpenvereins (JDAV), dessen Medium die
Alpenistik darstellte. Die fachlich auf Bergsteigen fixierte JDVA formulierte
in ihrer Arbeit Erziehungs- und Bildungsziele, die darin bestanden, die
Persönlichkeitsbildung junger Menschen zu fördern.
Ob und in welchem Ausmaß die offene Jugendarbeit
erlebnispädagogisch orientiert gearbeitet hat läßt sich den Autoren zur Folge
aufgrund der einschlägigen Literatur nur schwerlich feststellen. Es zeichnete
sich aber seit etwa mitte der 80er Jahre eine Entwicklung ab, die aus dem Haus
hinaus in die Umwelt und Natur führt.
Eine durchgehende Entwicklung durchliefen demgegenüber
die von Kurt Hahn ins Leben gerufenen Bildungsstätten von Outward Bound, die
sich wie folgt charakterisieren läßt
1951 Erster Kurs
für Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien am Plöner See in Schleswig-Holstein
1952 Gründung der Bildungsstätte
Weißenhaus an der Ostsee durch die Deutsche Gesellschaft für
Europäische Erziehung
1956 Eröffnung des ersten alpinen
Standortes in Baad/Kleinwalsertal
1968 Gründung der Kurzschule in
Berchtesgarden
1975 Schließung des Weißenhauses an der
Ostsee
1988 Inbetriebnahme der Bildungsstätte
Königsberg an der Schlei
1991 Eröffnung des ersten Standortes in
den neuen Bundesländern:
Outward Bound Schweriner See in
Mecklenburg/Vorpommern
Die Geschichte der Erlebnispädagogik war auch immer eine
Geschichte des Begriffes. So selbstverständlich wie heute in den 90er Jahren
von Erlebnispädagogik gesprochen wird, so deutlich muß auch hervorgehoben
werden, daß der Begriff erst zu Beginn der 80er Jahre in die Theoriediskussion
eingeflossen ist. Im Zeitgeist der sozialen Bewegungen nach 1968 hatte eine
pädagogische Richtung, die auf Körperlichkeit und Nutzbarmachung der Natur als
Spielraum setzte keine Chance. Im Gegenteil hatte Sport in den intellektuellen
Kreisen eher den Hauch des Primitiven und Bornierten. Wer sich in dieser Zeit
als Student der Sozialpädagogik zum Sport bekannte, galt eher als Exot.
Hinzu kommt hier noch, daß pädagogische Nachschlagewerke
und Lexikas den Begriff der Erlebnispädagogik weitgehend ignorierten. In
umfangreiche Bibliographien, wie von Jagenlauf und Baumgarten taucht der
Begriff der Erlebnispädagogik erst seit 1984
programmatisch in den Titeln auf. Es dominierten hier stärker Praxisberichte,
die von einer starken Theoriefeindlichkeit geprägt waren sowie
praxisorientierte Theorieversuche, in denen die Reformpädagogik und Kurt Hahn
nicht einmal erwähnt wurden. Der Nachholbedarf auch in der Theoriediskussion
ist demnach immens, zumal hier in Deutschland nicht auf Studiengänge des
Experiential Education zurückgegriffen werden kann, wie dies in den USA oder in
Großbritannien der Fall ist. Wie die beiden Autoren Heckmair und Michl es
bezeichnen hat die Geschichte der Erlebnispädagogik gerade erst begonnen. (vgl.
Hechmair/Michl, 1994, S. 26 ff)
3.2 Definition der Erlebnispädagogik
Beginnen möchte ich mit den Definitionsvorschlägen von
Jörg Ziegenspeck, die dieser anläßlich eines Interviews mit Wolfgang Antes
gegeben hat.
Ziegenspeck geht zunächst einmal auf den
gesellschaftspolitischen Zusammenhang ein, auf dessen Hintergrund der Begriff
der Erlebnispädagogik zu verstehen sei. Das Wort "Erlebnis" hat ja in
letzter Zeit große Karriere gemacht. Die Palette der Erlebnisarten hat ein fast
unüberschaubares Maß angenommen, sie reicht von Erlebnisreisen über
Erlebniskneipen bis hin zu Erlebniswarenhäusern. Der Erlebnishunger der
Menschen scheint demnach nahezu unstillbar geworden zu sein.
Die Frage, woher dieser immense Erlebnishunger und diese
große Sehnsucht nach Abenteuer kommt. Leben wir nicht gerade in einem
Zeitalter, wo nahezu alles möglich und wählbar ist oder besser gesagt, wo man
für Geld nahezu alles geboten bekommt?
Ziegenspeck erläutert, was sich hinter dem Begriff des
Erlebnisses verbirgt. Seiner Meinung nach hat die Menschheit das biblische
Gebot, sich die Erde untertan zu machen, gründlich falsch verstanden. Die
Menschen sind seiner Meinung nach eher unreflektiert und unbedacht an die Sache
herangegangen, was zur Folge haben mußte, daß sie sehr bald an ihre Grenzen
gestoßen sind, "...wenn ökologischer Unverstand und soziale Unverträglichkeiten die Menschheit an den Rand
humaner Existenzfähigkeit bringt, werden Überlebensstrategien angestellt. Wer
sich um's Überleben Sorgen machen muß, muß zunächst einmal über das Leben -
individuell und kollektiv - ganz neu nachdenken." (Ziegenspeck, 1995,S.
108)
Genau in diesen globalen Umbruch gehört seiner Meinung
nach das Erlebnis. Von den Einen wird es vermarktet und zum Konsumgut
herabgesetzt, von den Anderen wird es mit einem hohen erzieherischen, sozialen
und psychologischen Wert ausgestattet, um die Ganzheitlichkeit des Menschen zu
erneuern oder wiederherzustellen. In unserer Welt, die noch nie materiell so
reich gewesen ist wie heute, und in der man abgesichert ist wie nie zuvor, wird
seiner Meinung nach die sozial-emotionale, gesellschaftspolitische und
kulturelle Armut hingegen immer größer. Jeder ist sich zunächst einmal selbst
der Nächste und seines eigenen Glückes Schmied. Es drängt sich die Frage auf,
wie es nun mit der Erziehung zur Verantwortung im Sinne Kurt Hahns aussieht in
unserer Demokratie. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S. 108)
Des weiteren möchte ich nun damit fortfahren, wie ein
Erlebnis im Sinne der Erlebnispädagogik zu verstehen ist und welche Wirkungen
ihm hier beigemessen werden. Verstanden werden kann das Erlebnis als die
Vorstufe einer Erfahrung, aus der später Erkenntnisse gezogen werden können.
Das menschliche Erleben kann als unreflektierter Vorgang beschrieben werden,
bei dem einige Faktoren eine Rolle spielen, wie der Raum und die Zeit sowie das
Subjekt und das Objekt. Grundbaustein einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung
ist demnach das Erleben. In unserer Zeit besitzen jedoch Erlebnisse aus zweiter
Hand einen höheren Stellenwert und die Suche nach Erlebnissen aus erster Hand
führt häufig in Süchte und Neurosen. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S. 109)
Nach Ziegenspeck sind mit Erlebnispädagogik überwiegend
natursportlich orientierte Unternehmungen zu Land und zu Wasser sowie
gelegentlich auch in der Luft gemeint. Man bezeichnet diese Aktivitäten auch
als Outdoor-Pädagogik, eine stärkere Verlagerungen der Aktivitäten auch auf den
Innenbereich steht noch aus. Erlebnispädagogische Programme beziehen also die
natürliche Umwelt mit ein und schließen somit auch einen ökologischen
Bildungsanspruch mit ein. Es ist jedoch nötig, hier auch einige Abgrenzungen
vorzunehmen, denn Erlebnispädagogik ist weder Überlebenstraining noch eine
Ranger-Ausbildung. Das erzieherische Vorhaben sollte in allen Unternehmungen
sichtbar bleiben, um die jeweilige Praxis begründbar zu machen. Des weiteren
bezeichnet Ziegenspeck die Erlebnispädagogik als eine recht junge
wissenschaftliche Teildisziplin der Erziehungswissenschaft, ähnlich der Schul-
und Sonderpädagogik, der Sport- und Freizeitpädagogik sowie der
Sozialpädagogik. Abschließend konstatiert Ziegenspeck noch, daß bisher keine
geschlossene Theorie der Erlebnispädagogik existiert, jedoch mit ihrer
zunehmenden öffentlichen Wertschätzung wohl in absehbarer Zukunft mehr Mittel
und Personal zur Verfügung gestellt werden, um die Erlebnispädagogik stärker zu
fundieren und zu substantieren. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S. 110)
Anfügen möchte ich an dieser Stelle ein Zitat von Jörg
Ziegenspeck, welches nochmal zusammenfaßt, was für ihn Erlebnispädagogik ist:
"Unmittelbares Lernen mit Herz, Hand und Verstand in Ernstsituationen und
mit kreativen Problemlösungsansätzen und sozialem Aufforderungscharakter bilden
den Anspruchsrahmen erzieherisch definierter, verantwortbarer und auf eine
praktische Umsetzung ausgerichteter Überlegungen, die auf individuelle und
gruppenbezogene Veränderungen von Haltungen und Wertmaßstäben ausgerichtet sind
und durch sie veranlaßt und begründet werden." (Ziegenspeck, 1994, S. 21)
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema:
"Erlebnispädagogik - Mode, Methode oder mehr?" haben einige Praktiker
und Theoretiker aus dem Bereich der Erziehungswissenschaften und Sozialarbeit
Statements zu dieser Frage abgegeben. Einige dieser Statements werde ich nun in
Bezug auf Definitionskriterien der Erlebnispädagogik hin vorstellen.
Für Bärbel Schöttler ist Erlebnispädagogik auf der einen
Seite ein eigenständiges Fachgebiet, auf der anderen Seite kann es ihrer
Meinung nach aber genauso ein Teilgebiet der Sozialpädagogik, der Freizeitpädagogik,
der Familienpädagogik sowie der Sport-, Schul- und Kulturpädagogik sein. Des weiteren
bezeichnet sie Erlebnispädagogik, im Gegensatz zu Ziegenspeck, als eine
Methode, die in den unterschiedlichsten Einsatz- und Berufsfeldern nutzbar
gemacht werden kann und folgende Merkmale beinhaltet :
- im Vordergrund steht immer das handlungsorientierte
Lernen
- die Methode bietet für den Einzelnen und die Gruppe
einen breiten Raum, in dem an die Grenzen des Möglichen gegangen werden kann,
eingebettet und verbunden mit handwerklichem Geschick, hauswirtschaftlichem
Können und naturkundlichen Kenntnissen
- ein gewisses Risiko ist in dosierter Form vorhanden,
jedoch sollte es kalkulierbar bleiben
- unberechenbare und unvorhersehbare Erlebnisse sind in
den Outdoor-activities beinhaltet
- aufgrund des Handlungsraumes Natur bietet die
Erlebnispädagogik auch immer eine Möglichkeit, Kenntnisse über die Natur zu
vermitteln und Anregungsmöglichkeiten zu ihrem Schutz zu geben (vgl. Schöttler,
1994, S. 23 ff)
Michael Jagenlauf bringt in seiner Umschreibung der
Erlebnispädagogik gleich ein wenig Kritik mit ins Spiel, indem er betont, daß
nicht jedes Picknick im Grünen und nicht jede Kajaktour bei Windstärke 4 als
praktizierte Erlebnispädagogik bezeichnet werden kann. Erlebnispädagogische
Maßnahmen sind seiner Meinung nach dadurch gekennzeichnet, daß sie Erlebnisse
vermitteln, auf deren Basis Erfahrungen möglich sind, auch ohne ein allzu
großes Risiko einzugehen. Entscheidend für den Erfolg erlebnispädagogischer
Maßnahmen ist für ihn nicht das veränderte Verhalten nach einer solchen
Unternehmung und den dort gemachten Erlebnissen, sondern die Reizauslösung für
eine Reflexion des bisherigen Verhaltens und gegebenenfalls notwendigen
Änderungen.
Um dies zu erreichen, müssen seiner Meinung nach folgende
Auflagen erfüllt werden :
- die Ganzheitlichkeit des Erlebens, d.h. Herz, Hand und
Verstand müssen gleichzeitig angesprochen werden
- das Moment der Unmittelbarkeit muß beachtet werden, d.h.
sollen Situationen zum Erlebnis werden, dann dürfen Anfang und Ende der Aktion
zeitlich nicht zu weit auseinander liegen
- die Deutungsversuche der neuen und offenen Situationen
des Einzelnen müssen kontinuierlich pädagogisch begleitet werden (vgl.
Jagenlauf, 1994, S. 33 f)
Abschließend zu diesem Teil noch die Auffassung von Hans
G. Bauer zum Wesen der Erlebnispädagogik: Bauer konstatiert zunächst einmal,
daß Erlebnispädagogik für ihn nicht das ist, was ihr äußeres Erscheinungsbild
ihr auferlegt, nämlich etwas exotisches, spektakuläres, extremes und nicht
alltägliches zu sein. Weiterhin ist Erlebnispädagogik auch für ihn nicht
vornehmlich ein Instrument der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, auch wenn sie dort
überwiegend eingesetzt wird. Seiner Meinung nach geht es der Erlebnispädagogik
um Integration anstelle von Ausgrenzung, um Ganzheitlichkeit statt zu
spezialisieren, um Handlung und Handlungserfahrungen anstelle von purer Action
und um lebendige, primäre Bedürfnisse statt simulierter Bedürfnisbefriedigung.
Die Erlebnispädagogik stellt weiterhin für ihn ein Pendant dar zu eher
vermittelten, indirekten und bezugslosen Lernformen und besteht für ihn in
einer Haltung und einem allgemeinen Bildungsansatz. (vgl. Bauer, 1994, S. 43 f)
3.4 Didaktik und Methodik der Erlebnispädagogik
Voraussetzung nahezu jeder professionellen pädagogischen
Intervention ist es, zielgerichtet, planmäßig, absichtsvoll und erfolgreich zu
handeln. Um dies zu realisieren muß jedoch das Handeln vorstrukturiert werden,
d.h. einzelne Ziele und Schritte im Prozeß müssen festgelegt werden, der Prozeß
und die geplante Abfolge müssen reflektiert werden und die erzielten Ergebnisse
müssen überprüfbar und generell korrigierbar sein. Hat die heutige
Erlebnispädagogik also den Anspruch, professionell wirken zu wollen, so
benötigt sie ein Curriculum, welches durch methodische und didaktische Aspekte
gekennzeichnet ist.
Der Didaktik und Methodik der Erlebnispädagogik gehen
einige Grundannahmen voraus, welche sich auch später in der Praxis wiederfinden
:
- jeder Mensch besitzt mehr Kompetenzen und Ressourcen,
als er selber denkt
- eine kleine heterogene Gruppe ist sehr gut in der Lage,
erfolgreich mit körperlichen und geistigen Anforderungen umzugehen
- nicht nur Erwachsene, sondern auch junge Menschen sind
durchaus fähig kritische Entscheidungen zu fällen und dafür Verantwortung zu
übernehmen
- durch die Herausforderung, sich einem Problem zu
stellen, wird mehr gelernt als durch die bloße Darbietung von Lösungen und
Methoden
- gemeinsam Erlebtes sowie Streß sind entscheidende
Katalysatoren im Prozeß der Selbstfindung einer Person
- die Selbsteinschätzung eines Menschen ist ein wichtiger
Faktor für seine Zukunft
- kurzfristige und intensive Erlebnisse sind dazu
geeignet ein bedeutungsvolles und langfristiges Lernen herbeizuführen
(vgl.Reiners, 1995, S. 21)
Didaktik der Erlebnispädagogik
Annette Reiners geht in ihren Ausführungen zur Didaktik
der Erlebnispädagogik zunächst einmal davon aus, daß man hier drei spezifische
Lernarten unterscheiden kann und zwar ein spezifisches Lernen, ein unspezifisches
Lernen sowie ein metaphorisches Lernen.
Das spezifische Lernen ist gekennzeichnet durch einen
spezifischen Lerneffekt. Hierbei eignet man sich z.B. etwas an und entwickelt
eine Fähigkeit nach vorausgegangener Anleitung. Ein Beispiel für diesen
Lerneffekt wäre die Fähigkeit, eine topographische Karte lesen zu können. Diese
Art der Lerneffekte ist für das Alltagsleben nicht relevant, sondern dient nur
dem Mittel zum Zweck. Macht sich ein Teilnehmer bestimmte selbsterarbeitete
Methoden zu eigen, so kann man hier von einem unspezifischen Lerneffekt
sprechen. Dies ist der Fall, wenn in seinem Selbstbild gewisse Konflikt- und
Problemlösungsstrategien oder veränderte Ansichten und Wertvorstellungen
auftreten. Das metaphorische Lernen erkennt man daran, daß hier analog zu
Alltagssituationen Lernerfahrungen stattfinden, die dann später auch in das
Alltagsleben übertragen werden können, wie z.B. Verhaltensänderungen.
Stattfinden kann diese Form des Lernens entweder während einer Aktivität
aufgrund alltagsähnlicher Strukturen oder nach Beendigung einer Aktivität in
Form von Reflexionen. (vgl. Reiners, 1995, S. 21 f)
Nach den Autoren Hechmair und Michl sind
erlebnispädagogische Aktivitäten wie z.B. Segeltörns oder Schlauchbootfahren
Archetypen des sozialen Gruppenlernens. Diese Aktivitäten bieten einen breiten
Raum für soziales Lernen aufgrund des Spaßes, den der Einzelne in der Gruppe
erfährt sowie durch die Auseinandersetzung mit der Gruppe und der
Rollenverteilung. Alle erlebnispädagogischen Maßnahmen beinhalten eine Planung,
eine Durchführung sowie eine Nachbereitung und in diesen unterschiedlichen
Phasen ist jeder Teilnehmer in gewisse Rollen eingebunden, die teilweise selbstbestimmt
sind und teilweise verordnet werden. Des weiteren bietet die Gruppe die Chance,
integrierend zu wirken und wertvolle Konflikte zu schaffen sowie für den
Einzelnen Sicherheit und Entlastung zu bieten. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S.
71 f)
Doch in welcher Form findet das soziale Lernen nun in der
Erlebnispädagogik statt und wie reicht es ein Erlebnispädagoge am Besten seinen
Teilnehmern dar?
Nach Annette Reiners vollzieht sich Lernen generell in
einem Prozeß. Die einzelnen Lernschritte in diesem Prozeß müssen vom
Erlebnispädagogen so dargereicht und dosiert werden, daß es den Teilnehmern
auch reizvoll erscheint, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Weiterhin müssen
sich die einzelnen Lernschritte auch als ein zusammenhängendes Ganzes
darstellen und am Ende einen Gestaltabschluß darstellen, in dem alle einzelnen
Schritte zusammenlaufen. Dieser Zusammenhang der einzelnen Aktivitäten muß für
die Teilnehmer ersichtlich sein, damit nicht die Frage nach dem
"Warum" des Ganzen auftauchen. Motivationsfördernd auf den Lernprozeß
wirkt sich auch die freie Entscheidungsmöglichkeit der Teilnehmer aus. Freie
Entscheidungen zu sanktionieren, wäre demnach motivationshemmend und würde den
Teilnehmern auch die Möglichkeit nehmen, verschiedene Lösungswege
auszuprobieren, auszuwerten und sich dann für ein angemessenes Verhalten zu
entscheiden. Das Feedback stellen also die vorhandenen Umstände dar, ohne das
der Betreuer sanktionierend eingreifen muß. (vgl. Reiners, 1995, S. 22)
Den Prozeß des Lernens sehen Heckmair und Michl als
dreiteiliges Gebilde an, welches ganz im Sinne Hahns durch Kopf, Herz und Hand
gekennzeichnet ist. Die bildende Kraft, welche von Erlebnissen in und mit der
Natur ausgeht, spricht also einerseits den Kopf und damit die kognitiven
Funktionen an. Hierunter versteht man das Erwerben von Wissen, das Verarbeiten
von Informationen und das Erkennen der Zusammenhänge. "Am Beispiel
Bergsteigen heißt dies: Wissen über Klettertechniken, Wetterkunde, Geologie,
Erste Hilfe, Gebrauch von Karten, Bergrettung, Landschaftskunde usw."
(vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 73) Als nächstes kommt das Lernen mit dem Herz
hinzu, welches die senso-motorische Dimension bezeichnet. Hiermit ist das
sinnliche Begreifen, das Erfahren und Ertasten sowie das Erfühlen der inneren
und äußeren Natur gemeint. Die affektive Dimension wird hier erfahrbar durch
den Umgang mit der natürlichen Umwelt, der uns wieder staunen, Freude spüren
und Angst sowie Bedrohung an uns heranzulassen lehrt. Das Lernen durch Handeln
bezeichnet ganz im Sinne Hahns die zentrale Rolle der Handwerker und der
handwerklichen Tätigkeit. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 73 f)
Annette Reiners geht in ihren Ausführungen über den
Lernprozeß der Erlebnispädagogik präziser auf die einzelnen Handlungsschritte
ein und versucht hier einzelne Phasen herauszuarbeiten. Sie bezieht sich auf
James S. Coleman, der das Lernen im Klassenzimmer mit handlungsorientierten
Ansätzen vergleicht und dabei vier Schritte des erlebnispädagogischen Prozesses
aufstellt. Am Anfang stehen das Handeln in einem bestimmten Augenblick und der
nachfolgende Effekt diese Handelns im Mittelpunkt. Der zweite Schritt
beinhaltet die Wirkungen in diesem bestimmten Augenblick und die Konsequenzen
der Aktion werden sichtbar. Daraus folgt, daß ein Lernen zielgerichteten
Verhaltens für bestimmte Umstände ermöglicht wird. Im dritten Schritt wird die
stattgefundene Situation unter ein generelles Prinzip eingeordnet und ein
Verständnis dafür entwickelt. Ist also nun das generelle Prinzip verstanden
worden, so kann nun im vierten Schritt eine Umsetzung des Verstandenen auf neue
Situationen erfolgen. Die Kette des Lernprozesses setzt sich also zusammen aus
dem Handeln, dem Verstehen, der Generalisation und der Anwendung.
Des weiteren bezieht sich Reiners auf Laura Choplin, die
ihrer Meinung nach ein ähnliches, jedoch ausdifferenzierteres fünf Phasen
Modell entwickelt hat. Diesem Modell zur Folge beginnt der Lernprozeß damit,
daß der Teilnehmer vor ein Problem gestellt wird. In der zweiten Phase, der
sogenannten Aktionsphase, gilt es, dieses Problem zu lösen und zwar ist hierbei
zu beachten, daß der Teilnehmer das Problem nicht umgehen kann und seine neu
erlernten Fähigkeiten zur Lösung nutzen kann. Über die Beschaffenheit der
Aktion sind keine engeren Eingrenzungen gemacht worden. Sie können entweder
körperlich, emotional oder psychisch sein. Die dritte und vierte Phase ist
durch eine Unterstützung und ein Feedback des Betreuers gekennzeichnet, welches
dem Teilnehmer bei der Lösung behilflich sein soll und ihn zum Weitermachen
animieren soll. Die fünfte und letzte Phase beinhaltet eine Nachbesprechung, um
dem Teilnehmer zu helfen, aus seinen Erfahrungen zu lernen und diese auch in
den Alltag zu übertragen.
Abschließend weist Reiners noch einmal auf die hier
deutlich werdenden Unterschiede zur Erlebnistherapie Hahns hin. Hahn ging in
seiner Erlebnistherapie noch von einer unbewußten Wirkung des Erlebnisses aus,
während heute ein verstehendes Erleben die zentrale Rolle spielt. Absicht ist, Erfahrungen
bewußt zu sammeln, um diese dann später auf den Alltag transferieren zu können.
Als weiteren wichtige didaktischen Punkt der
Erlebnispädagogik ist das Lehr-Lerngefälle zwischen dem Betreuer und seinen
Teilnehmern zu erachten.
Zu Beginn einer aktivität ist diese Gefälle noch sehr
stark ausgeprägt. Der Betreuer ist der Experte und der Macher und die
Teilnehmer nehmen stärker die Rolle der Konsumenten ein. Wichtig für den
Lernprozeß ist es, diese Gefälle im Laufe der Aktivität immer stärker
abzubauen, weil die Erlebnispädagogik erreichen will, daß die Teilnehmer
eigenen Kompetenzen vertrauen lernen und diese weiterentwickeln, indem sie bei
den Stärken der Teilnehmer ansetzt. Die direkte Verwicklung des Betreuers, in
den Lernprozeß in der Kursanfangsphase wird immer im Verlauf der Aktitvität
reduziert und die Entscheidungsfreiräume und - teilnahme der Kursteilnehmer
wächst zusehens mit dem Rückzug des Betreuers. Dieser beschränkt mehr und mehr
seine Aktivitäten darauf, die Teilnehmer in ihrem Lernprozeß, Verantwortung zu
tragen zu unterstützen.
Letztliches Ziel des Prozesses ist ein gleichberechtigtes
Agieren ohne Gefälle und der Rückzug des Betreuers in die Rolle des
Beobachters, des Begleiters und des Beraters, der außer bei
sicherheitstechnischen Aspekten nicht mehr in die Entscheidungsfindung
eingreift und die Durchführung der weiteren Aktivitäten den Teilnehmern
überläßt. (vgl. Reiners, 1994, S. 23 ff)
Des weiteren möchte ich nun auf die Rolle des Betreuers
während einer erlebnispädagogischen Aktivität eingehen und die Beziehung
zwischen ihm und seinen Teilnehmern näher beleuchten. Das Verhältnis des
Betreuers zu seinen Teilnehmern ist vornehmlich berufsbedingt. Hinzu kommt
jedoch in der Erlebnispädagogik, daß der Betreuer auch selbst Betroffener ist,
indem er aktiv an der Maßnahme teilnimmt. Der Betreuer nimmt also demnach viele
unterschiedliche Rollen ein, er ist einerseits der Fachmann und Experte, dann
er ist er Gruppenleiter und andererseits ist er persönlich Betroffener. Die
Rolle des Gruppenleiters schließt die Organisation des Programms, die
Verantwortlichkeit für den Ablauf, die juristische Verantwortung für die Teilnahme
der Teilnehmer sowie bei Minderjährigen, die Abwicklung von Rechtsgeschäften
mit ein. Der Erlebnispädagoge ist demzufolge für die Einhaltung gesetzlicher
Bestimmungen sowie der verabredeten Gruppenregeln verantwortlich. Mitunter muß
er Grenzen aufzeigen und unter Umständen auch Teilnehmer ausschließen, wenn
dies im Sinne der Aktivität geboten ist. Die Rolle des Experten ist
gekennzeichnet von der Beherrschung des vorhandenen Mediums, wie z.B. das
Wissen um Sicherheitsvorkehrungen beim Bergsteigen usw., von Situationen in
denen er entscheiden muß, ob eine Maßnahme abzubrechen ist oder ob einige
Teilnehmer ausgeschlossen werden müssen und wer überhaupt teilnehmen darf etc.
In der Funktion des Erlebnisgefährten teilt der Betreuer mit den Teilnehmern
die Freuden sowie die Unannehmlichkeiten einer Maßnahme. Er teilt eigene
Bedürfnisse mit und geht persönliche Beziehungen mit den Teilnehmern ein,
welche unabhängig von seinen Beruf sind. (vgl. Reiners, 1994, S. 27 f) Von
vielen wird die Rolle des Erlebnisgefährten sehr geschätzt, da hier der
Pädagoge ebenfalls in die Rolle des Lernenden wechselt und die Teilnehmer so miterleben,
wie der "Experte" selber mit seiner Angst, mit seiner Unlust und mit
seiner Autorität umgeht und wie er sich auf bestimmte Situationen einläßt.
(vgl. Nickolai, 1994, S. 135) Zuletzt nimmt der Erlebnispädagoge noch die Funktion
des Beobachters wahr, der sich in einer quasi Metaposition befindet und als
Prozeßbegleiter entweder das ganze Geschehen beobachtet oder auch interveniert.
Diese Funktion verlangt wiederum eine gewisse Distanz und Unparteilichkeit vom
Pädagogen. (vgl. Reiners, 1995, S. 28) Der Wechsel in die unterschiedlichen
Funktionen des Betreuers hat natürlich auch Auswirkungen auf die
Beziehungssysteme mit den Teilnehmern, die demzufolge ebenfalls einem ständigen
Wechsel unterliegen. Oftmals widersprechen sich die einzelnen Rollen sogar. Im
Falle des Erlebnisgefährten, wo der Pädagoge involviert ist in das gesamte
Geschehen und des Beobachters, wo eher eine gewisse Distanz zum Geschehen
erforderlich ist. (vgl. Reiners, 1995, S. 28) Die damit verbundenen hohen
Anforderungen an den Erlebnispädagogen können nur mit einer sehr guten
Vorbereitung auf solche Maßnahmen kompensiert werden.
Entscheidend ist, daß der Erlebnispädagoge zwei Kompetenzen
besitzt: einerseits die Beherrschung des Mediums, wie z.B. Bersteigen oder
Kanufahren und andererseits die pädagogische Ausbildung d.h. der Pädagoge muß
mindestens ein Grundwissen über gruppendynamische Prozesse und das Verhalten
als Gruppenleiter besitzen. (vgl. Nickolai, 1994, S.134 f) Didaktisch wichtig
sind des weiteren die Kommunikationsebenen, denn um die Teilnehmer zu erreichen
und eventuelle Verhaltensänderungen anzustoßen, muß auf einer bestimmten Ebene
kommuniziert werden. Annette Reiners unterscheidet hier die Inhalts- und
Beziehungsebene sowie die Selbstoffenbarungs- und Appellebene. Die Intentionen
erlebnispädagogischer Maßnahmen liegen ja meist darin, gewisse
Verhaltensänderungen zu ermölichen und die Prozesse dafür anzustoßen. Voraussetzung
dafür ist, daß sich der Erlebnispädagoge um ein gutes Verhältnis unter den
Teilnehmern sowie auch zu sich selbst bemüht, d.h. hier ist die Beziehungsebene
primär und die Inhaltsebene zunächst einmal sekundär. Die Erfahrung
mutmachender Erlebnisse auf der Ebene der Gruppenbeziehung, in der
Auseinandersetzung mit dem Medium sowie mit dem sozialen Umfeld sind
Zielsetzungen erlebnispädagogischer Programme. Zur Erreichung ist jedoch ein
positives Gruppenklima notwendig, denn wenn dies nicht vorhanden ist, werden
viele Störungen der Beziehungsebene auf die Sach-/Inhaltesebene übertragen, was
zur Folge hat, daß Widerstände gegen bestimmte Aktivitäten auftreten, die
eigentlich nur im schlechten Gruppenklima begründet sind. Stimmen die
Beziehungen unter den Teilnehmern und zum Betreuer, so kann sich stärker auf
die inhaltliche Ebene der Aktion eingelassen werden, treten jedoch Störungen
auf, so gilt es, diese im Hier und Jetzt zu bearbeiten und sie als Lernfeld zu
betrachten.
Entscheidend für den Erfolg einer erlebnispädagogischen
Maßnahme ist neben den unterschiedlichen Rollen des Betreuers und deren
Verflechtung sowie den Beziehungen innerhalb der Gruppe und ihren Auswirkungen
auch die Gestaltung der Situationen. Nach Reiners hängen die
Handlungsstrategien und letztlich auch die Verhaltensänderungen immer von der
Interpretation der Situation ab, welche sie in innere und äußere Situation
unterteilt. Die innere Situation bezieht sich auf die innere Verfassung der
Teilnehmer und des Betreuers, die äußere Situation schließt die Faktoren der
Umwelt mit ein. Die Besonderheit der Erlebnispädagogik liegt ja letztlich
darin, daß sie die Möglichkeit bietet, Lernsituationen zu schaffen, die
physische, psychische, soziale und kognitive Fähigkeiten der Teilnehmer
gleichzeitig ansprechen. Die Situationen in der Erlebnispädagogik sind
vielfältig und nicht alltäglich und stellen somit reale und ernsthafte
Situationen dar, die einen Aufforderungscharakter besitzen und die Teilnehmer
geradezu zur Auseinandersetzung und zum Handeln zwingen. Ein Ausweichen oder
Überspielen und einfach umgehen solcher Situationen, wie im Alltag vorkommt,
ist im Rahmen erlebnispädagogischer Aktivitäten nicht möglich.
Aufgrund dessen kommt es auf die Gestaltung der
Situationen in der Erlebnispädagogik an. Reiners führt hierzu aus, daß die
einzelnen Situationen zwar eine Struktur besitzen müssen, jedoch nicht
abgeschlossen sein dürfen. Denn je abgeschlossener eine Situation ist, desto
weniger fordert sie zum Handeln heraus und umso weniger provoziert sie Erregung
und Handlung. Strukturierte, aber zum größten Teil offene Situationen
vermitteln das Gefühl, daß das Leben aktiv gestaltbar ist und spannend sein
kann. In der Praxis bedeuet das, daß man eine Situation, wie z.B. eine
mehrtägige Skitour in drei Phasen untergliedern kann. Zum Einen in die Anfangs-
und Einstiegsphase, in der es hauptsächlich um die Motivation der Teilnehmer
durch Informationen geht sowie um das bewußte Bearbeiten von Abwehr und Angst
der Teilnehmer. Die zweite Phase ist die sogenannte Hauptphase, in der es
hauptsächlich um die Lösung und um die Durchführung der Aktivität geht. Hierbei
geht es vor allem um Entscheidungs-, Planungs- und Delegationsprozesse sowie um
die Aktivität selber. Die dritte Phase bildet die Lösungs- und Abschlußphase,
in der es um eine Reflexion und Zusammenfassung der Ergebnisse geht, mit dem
Ziel, den Lernprozeß zu unterstützen. (vgl. Reiners, 1995, S. 28 ff)
Methodik der Erlebnispädagogik
Unter dem Begriff der Methodik versteht man eine
bestimmte Verfahrensweise, mit deren Hilfe Lehr- und Lernprozesse planmäßig
fachlich vorbereitet sowie gelenkt und gesteuert werden. Die Methodik der
Erlebnispädagogik folgt einigen Prinzipien, die ich nun in Anlehnung an Annette
Reiners erläutern möchte. Im Mittelpunkt steht das Prinzip des
handlungsorientierten und sozialen Lernens. An den Teilnehmer sollen
Anforderungen gestellt werden, die schwer, jedoch nicht unlösbar sind und die
Möglichkeit zur Grenzerkundung bieten. Solche Grenzerkundungen tragen nämlich
dazu bei, daß sich die Teilnehmer selber besser kennenlernen, indem sie in
ihren Fähigkeiten und Eigenschaften gefordert werden. Des weiteren muß das
Erleben sämtliche Lernebenen des Menschen einbeziehen, also die kognitive, die
emotionale und die aktionale Ebene. Hat eine Aktivität erst einmal begonnen, so
sollte der Gruppe im Laufe der Zeit immer stärker die Gruppensteuerung und die
Selbstverantwortung überlassen werden. Weiterhin darf die Aktivität nicht einer
künstlich geschaffenen Umwelt ähneln, sondern die Situationen müssen ernsthaft,
direkt, konkret sowie authentisch sein. Die Teilnehmer sollen durch ein breit
gefächertes Angebot an sportlichen, sozialen, kreativen und organisatorischen
Aktivitäten immer wieder in Situationen geraten, denen sie nicht ausweichen können
und in welchen sie sich bewähren und an ihre Grenzen stoßen können. Diese
Prinzipien lassen deutlich werden, daß im Mittelpunkt der erlebnispädagogischen
Aktivitäten immer die Situation und das Verhalten der Teilnehmer steht. Eine
grundsätzliche Zielsetzung solcher Aktivitäten richtet sich demzufolge nach den
individuellen Problemlagen der Teilnehmer sowie nach ihren Bedürfnissen und
ihrem Leistungsvermögen. Abhängig von der Zielsetzung ist natürlich immer die
gewählte Methode, das Medium und das Material sowie der zeitliche Rahmen einer
Aktivität.
Der Begriff des Mediums hat seinen Ursprung im
Lateinischen und bedeutet soviel wie Mittler, Vermittelndes und Mittel. Die
Funktion eines pädagogischen Mediums besteht nicht nur darin, Informationen zu
vermitteln, sondern hauptsächlich darin, Kommunikationen und Handlungen
anzuregen. Im Bereich der Erlebnispädagogik stellen die Natursportarten das
häufigste Medium dar, aber auch soziale, handwerkliche und ökologische Projekte
werden hier als Medium verwendet, um der Aktivität einen Erlebnischarakter zu
verleihen. Im Vordergrund steht nicht das Erlernen einer bestimmten Sportart
oder Tätigkeit, sondern die Bereitstellung einer ungewohnten und interessanten
Umwelt, die an den Einzelnen und an die Gruppe alltagsähnliche Anforderungen
stellt. In der Psychologie existiert eine ähnliche Methode als Milieutherapie,
die den Klienten ebenfalls einer besonderen Atmosphäre oder einem Mileu
aussetzt, in dem dann spezifische Techniken angewendet werden. Den wesentlichen
Einfluß hat hier jedoch, wie auch in der Erlebnispädagogik, die Atmosphäre als
Ganzes und nicht nur einzelne Bestandteile. Entscheidend ist immer die
Kombination, die Präsentation sowie die
Interpretation der Aktivitäten. Zusammenfassend zu der Funktion des Mediums
läßt sich sagen, daß es immer den Kristallisationskern in der Erlebnispädagogik
darstellt und die Aufgabe hat, eine Auseinandersetzung und Begegnung mit
Situationen sowie mit sich selbst und anderen zu provozieren. Welches Medium
für eine Aktivität ausgewählt wird, ist immer abhängig von finanziellen,
zeitlichen und organisatorischen Faktoren sowie von den Voraussetzungen der
Zielgruppe. Je nach der Wahl des Mediums, richtet sich auch das benötigte
Material. Das Material setzt sich zusammen aus den benötigten Gegenständen und
Dingen über die die Gruppe zum Teil selber entscheiden kann.
Im Weiteren möchte ich nun auf die Aktions- und
Handlungsformen eingehen und zwar sind damit die Weisen gemeint, in denen der
Betreuer agiert. Ganz generell kann man hier zwei Aktionsformen unterscheiden.
Einerseits die direkte Aktionsform, in der sich der Lehrende direkt an die
Lernenden richtet, zum Beispiel in Form einer Demonstration und andererseits
die indirekte Aktionsform, die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Betreuer die
Teilnehmer sich selbst überläßt, während sie mit dem Lerngegenstand umgehen.
Reiners unterscheidet vier Aktions- und Handlungsformen der Betreuer. Dieser
Einteilung werde ich mich anschließen und die vier Formen hier kurz darstellen:
a) Arrangieren
Eine der vier Grundformen pädagogischen Handelns in
erlebnispädagogischen Zusammenhängen ist das Arrangieren. Zentral ist hier das
Arrangieren von offenen, schöpferischen Lernprozessen im Gegensatz zur
Vermittlung von vorgefertigtem Wissen. Der Erlebnispädagoge ist bemüht, seinen
Teilnehmern geeignete Bedingungen und Lernmöglichkeiten zu verschaffen, in
denen diese Lernziele in Form von Selbsttätigkeit und aktiver Beteiligung
verwirklicht werden. Wichtiger Bedingungsfaktor ist in der Erlebnispädagogik
das Bilden von meist überschaubaren, altershomogenen Gruppen, um die sozialen
Bedingungen für die Entstehung eines pädagogischen Feldes zu schaffen. Die
Gruppe gibt dem einzelnen Teilnehmer eine soziale Orientierung und verleiht ihm
einen sozialen Status. Außerdem ist die Gruppe ein ideales Lernfeld, um
bestimmte Verhaltensweisen wie z.B. Kooperation, Kompromißfähigkeit etc.
einzuüben, da das Zusammenleben rund um die Uhr gewisse Verhaltensweisen
erforderlich macht und dazu anregt, alte Verhaltensweisen und Rollen zu
überdenken. Die Medien, die in der Erlebnispädagogik zur Verfügung gestellt
werden sind meist komfortarme Lebensräume in der Natur. Die Natur wird hier
quasi zu Lehrmeisterin in deren Umgebung der Teilnehmer Entdeckungen macht und
handelt sowie darüber nachdenkt, welche Schlüsse er aus den gemachten
Erfahrungen ziehen kann. Demzufolge sind wichtige methodische Bausteine in der
Erlebnispädagogik das Naturerlebnis, was sich in der Unberührtheit der
Landschaft und den Wetterelementen festmacht, das Ich-Erlebnis, welches
gekennzeichnet ist durch körperliche und geistige Leistung und durch die
sinnliche Erfahrung des Körpers sowie das Gruppenerlebnis. Man versucht diese
methodischen Bausteine mit Hilfe bestimmter Arrangements zusammenzufügen, um
den Rahmen für diese Erlebnisse mit sich, der Natur und der Gruppe zu geben.
Einen entscheidenden Faktor stellt in diesem Zusammenhang auch das Machen von
Grenzerfahrungen dar. Diese Grenzerfahrungen sind nicht ausschließlich auf die
Grenzen der eigenen körperlichen Leistungsfähigkeit beschränkt, sondern
beziehen sich auch auf das Einhalten von Rahmenbedingungen und auf das
Aushandeln von Grenzen innerhalb von Beziehungen, denn auch diese Erfahrungen
können für die Teilnehmer durchaus zum Grenzerlebnis werden. Beim Arrangieren
von Situationen und Aktivitäten ist des weiteren noch zu beachten, daß diese
auch den entsprechenden Raum zum Handeln für die Teilnehmer bieten. Dies kann
dadurch erreicht werden, daß die geplanten Aktivitäten eine Arbeitsteilung
erforderlich machen, in der jeder einzelne Teilnehmer eine Aufgabe übernehmen
kann und somit aktiv werden muß. Weiterhin sollten Wahlmöglichkeiten und
Handlungsalternativen bestehen, an deren Auswahl sich die Teilnehmer aktiv
beteiligen können, wie z.B. bei der Auswahl der Route oder ähnlichem. Den
Teilnehmern wird die Chance gegeben, kreative und vielleicht auch eigenwillige
Lösungsmöglichkeiten bei der Bewältigung einer Aufgabe auszuprobieren. Man
serviert ihnen nicht vorgefertigte Lösungen, denn dies läßt die Teilnehmer eher
in einer passiven Haltung verharren. Abschließend ist zu beachten, daß der
Sicherheitsaspekt nie aus den Augen verloren werden darf und die Teilnehmer
weder über- noch unterfordert werden dürfen. Auch dürfen die Aktivitäten die
Kompetenzen des Betreuers nicht übersteigen, um die Sicherheit der Teilnehmer
nicht zu gefährden.
b) Das Animieren
Mit dem Animieren ist ebenfalls eine pädagogische
Handlungsform in erlebnispädagogischen Zusammenhängen gemeint, die die
Teilnehmer bewegen soll sich in einer arrangierten Situation auf etwas
einzulassen, Grenzen zu überwinden und gegebene Lernchancen zu nutzen. Im
Rahmen der Animation kann zum Einen das Interesse an einer Sache hervorgerufen
werden, indem in Aussicht gestellt wird, daß wichtige Bedürfnisse dadurch
befriedigt werden und Erfolgserlebnisse zu verbuchen sein werden. Indem der
Betreuer die Anforderungen erläutert, welche an die Teilnehmer in dieser
Situation gestellt werden, kann er Lernchancen transparent machen, die
ebenfalls eine animierende Wirkung auslösen. Fest steht jedoch, daß hier schon
alleine der Umstand selbständig etwas tun zu dürfen, besonders für Jugendliche
äußerst animierend ist. Zum Anderen wird die Handlungsform der Animation dann
nötig, wenn Teilnehmer zwar Interesse zeigen an der Aktivität aktiv
mitzuwirken, Ängste sie jedoch von der Umsetzung abhalten, wie dies z.B. beim
Abseilen der Fall sein kann. In der Erlebnispädagogik ist es sehr wichtig
diesen Ängsten freien Raum zu lassen und sie zu besprechen, denn Ziel
erlebnispädagogischer Maßnahmen ist ja nicht das Erlernen einer Sportart,
sondern die Auseinandersetzung mit den eigenen Grenzen und Ängsten. Spezielle
Techniken des Animierens lassen sich hier nicht pauschal auflisten, da eine
entscheidende Rolle die Persönlichkeit des Betreuers spielt, denn nur aufgrund
seiner persönlichen Glaubwürdigkeit und Authentizität wird ein Animieren
möglich. Indem der Betreuer den Teilnehmern Perspektiven und Lernchancen in
Aussicht stellt, die sich auch auf den Alltag übertragen lassen, kann er die
animierende Wirkung noch verstärken.
c) Das Begleiten
Methodisch gesehen orientiert sich die Handlungsform des
Begleitens an dem Modell des entdeckenden Lernens und stellt somit ein Pendant
dar zu den meisten schulischen Veranstaltungen. In Form des Begleitens findet
eine begleitende Unterstützung von Erfahrungsprozessen auf kognitiver,
motorischer, interaktionaler und emotionaler Ebene statt. Experimentelles
Lernen ersetzt hier autoratives Lernen und das Schlagwort dieser Methode ist
die Selbständigkeit der Teilnehmer. Beispiele hierfür wären etwa die
Selbstversorgung durch die Teilnehmer im Laufe einer Maßnahme oder die
selbständige Durchführung von handwerklichen Projekten. Indem der Betreuer die
Teilnehmer in sämtlichen Fragen und Konfliktsituationen begleitet und gemeinsam
mit ihnen Lösungen erarbeitet, werden die Teilnehmer ermutigt, sich mit
schwierigen Aufgaben und Situationen auseinanderzusetzen. Der Gruppenleiter ist
demzufolge nicht Wissensquelle, sondern Lernhelfer, der auch dafür verantwortlich
ist, daß Lerneffekte erkannt, artikuliert und ausgewertet werden.
d) Das Intervenieren
Ausgangspunkt dieser Handlungsform ist die Annahme, daß
zwar sichtbare und manifeste Problemlagen, überwiegend der Selbststeuerung der
Gruppe überlassen werden können, daß aber bei latenten Problemstellungen wie
zum Beispiel Ängsten und Spannungen ein Eingreifen des Betreuers nötig wird.
Weitere Fälle der Intervention des Betreuers sind dann gegeben, wenn sich
Gruppenmitglieder nicht mehr an vereinbarte Rahmenbedingungen halten, sich
durch Risikoverhalten gefährden oder Naturzerstörung droht. Generell kann man
sagen, daß die Selbststeuerung der Gruppe dann an ihre Grenzen stößt, wenn
Kenntnisse und Fähigkeiten fehlen oder unüberschaubare Aspekte dies gebieten,
so daß der Betreuer hier gezielt intervenieren muß. Die hier dargestellten
Handlungsformen der Betreuer während erlebnispädagogischer Maßnahmen
beanspruchen keine Vollständigkeit und festzuhalten bleibt, daß die einzelnen
Handlungsweisen durchaus ineinander übergehen können und keine abgegrenzten
Formen darstellen.
Abschließend zur Methodik der Erlebnispädagogik möchte
ich nun noch auf den zeitlichen Rahmen solcher Aktivitäten eingehen. Effektives
und bedeutungsvolles Lernen, so die Konzepte der Erlebnispädagogik, findet
aufgrund intensiver und kurzfristiger Erlebnisse statt. Voraussetzung
intensiver Erlebnisse ist, daß sie einen Ernstcharaker besitzen d.h. sie müssen
spürbare Konsequenzen nach sich ziehen. Am deutlichsten wird der Ernstcharakter
einer Situation, wenn es um die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, wie z.B.
Nahrung, Wasser, Schlaf und Zugehörigkeit geht. Es stellt sich die Frage, wie
lang eine solche Aktivität dauern muß, um diesen Ernstcharakter zu erreichen.
Generell kann man die Antwort geben, daß es für erlebnispädagogische Programme
keinen einheitlichen zeitlichen Rahmen gibt. Die Kursangebote sowie auch ihr
zeitlicher Rahmen richten sich häufig nach der Nachfrage und den
organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten anstatt nach Zielgruppen und
Wirkungschancen. Die Zeitspanne reicht von ein Tages Kursen bis hin zu
Projekten von einjähriger Dauer. Wann eine bestimmte Situation einen
Ernstcharakter erhält ist natürlich immer abhängig vom gewählten Medium. Beim
Klettern und Abseilen ist dieser Zeitpunkt sehr schnell erreicht, da es um die
Infragestellung der persönlichen Sicherheit geht, anders hingegen ist es bei
einer Radtour oder ähnlichem, die durchaus eine gewisse Mindestdauer aufweisen
müssen. (vgl. Reiners, 1995, S. 35 ff)
3.5 Ziele der Erlebnispädagogik
Ausgehend von den Axiomen Watzlawicks, daß ein Mensch
nicht keine Ziele haben kann, sondern jede Interaktion und Kommunikation immer
ein Ziel hat, so hat natürlich auch die Erlebnispädagogik ihre Ziele, die
jedoch von bestimmten Faktoren abhängig sind. Die Ziele werden zum Einen immer
durch die Organisationsstruktur und durch die vorgegebenen Rahmenbedingungen,
wie z.B. Träger, Ort, Umgebung und Fachkompetenz der Betreuer beeinflußt. Zum
Anderen wird die Zielformulierung geprägt von der Zielgruppe, an die sie sich
richtet. Hier spielen die individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer eine
Rolle wie Alter, Geschlecht, Fähigkeiten und Entwicklungsstand sowie ihre
sozio-kulturellen Bedingungen wie Schule, Wohnsituation und Beruf.
Zu unterscheiden ist hier immer zwischen den Zielen der
Betreuer und denen der Teilnehmer. Der Betreuer muß sich seiner persönlichen
Werthaltungen und seiner Erziehungsziele stets bewußt sein, um seine Pädagogik
transparent und reflektierbar zu machen. Annette Reiners unterscheidet hier in
Anlehnung an Heimann/Otto/Schulz drei Dimensionen in der Intention des
Lehrenden. Zum Einen geht es in der pragmatischen Dimension um die Entwicklung
von Fähigkeiten und Fertigkeiten und den daraus entstehenden Gewohnheiten. Die
emotionale Dimension ist gekennzeichnet von der Anbahnung von emotionaler
Bewegtheit, der Entfaltung zum Erlebnis sowie von der Ausbildung einer
Einsicht. Die dritte und somit kognitive Dimension ist gekennzeichnet von der
Vermittlung von Sachverhalten und der daraus entstehenden Erkenntnis.
Den Zielen des Betreuers stehen die eher diffusen
Erwartungen und Handlungsziele der Teilnehmer gegenüber, die der Betreuer
erkennen können muß, will er nicht die Teilnehmer zu bloßen Objekten seiner
pädagogischen Bemühungen machen. Um die Ziele seiner Teilnehmer zu erkennen,
muß der Betreuer ihr Handeln sehr genau beobachten und decodieren, da nicht
jeder in der Lage sein wird, diese verbal auszudrücken. Die Gefahr einer
Fehlinterpretation der Handlungsziele der Teilnehmer besteht immer,
entscheidend ist jedoch, daß sie eine gleichberechtigte Bedeutung neben denen
des Betreuers erlangen. Aus einer intensiven Prüfung der Erziehungsziele des
Betreuers und den Handlungszielen der Teilnehmer können dann Lernziele
abgeleitet werden. Die Lernziele können natürlich je nach Zielgruppe recht
unterschiedlich sein, trotzdem versucht Annette Reiners eine Aufstellung
genereller Grobziele erlebnispädagogischer Maßnahmen bestehen in:
- der Entwicklung individueller Persönlichkeitsmerkmale
wie der Entwicklung von Eigeninitiative und Spontaneität, Kreativität,
Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein sowie in einem realistischen Selbstbild
und in der Überprüfung von Wertesystemen etc.
- der Förderung der sozialen Kompetenzen der Teilnehmer
wie z.B. der Teamarbeit, der Rücksichtnahme, der Hilfsbereitschaft, der
Konfliktbewältigung und des Mitgefühls etc.
- der Herausbildung eines systemischen, ökologischen
Bewußtseins
(vgl. Reiners, 1995, S.31 ff)
4. Erlebnispädagogik in der Bewährungshilfe
In diesem vierten Gliederungspunkt meiner Diplomarbeit
möchte ich nun auf die erlebnisorientierte Gruppenarbeit als Methode in der
Arbeit mit Probanden der Bewährungshilfe eingehen. Aufgrund dessen stelle ich
zunächst methodische Ansätze der Bewährungshilfe dar und überprüfe die Für und
Wider einer Gruppenarbeit als Arbeitsmethode der Bewährungshilfe. Anschließend
führe ich einige neue Entwicklungstendenzen in der Bewährungshilfe an, die für
eine Veränderung der Arbeitsweisen sprechen und Reformen erforderlich und
möglich erscheinen lassen.
4.1. Methodische Ansätze der Sozialarbeit in der
Bewährungshilfe
Die Sozialarbeit als solche erfüllt zweierlei Funktionen.
Einerseits versucht sie Menschen bei der Lösung ihrer sozialen und privaten
Probleme behilflich zu sein, andererseits erfüllt sie eine gesellschaftliche
Funktion, indem sie versucht, durch Anpassung von Individuen und Umverteilung
von Ressourcen systemerhaltend zu wirken. Basis hierfür ist das Bestreben der
Gesellschaft, den Einzelnen in seinen Problemen zu unterstützen und trotzdem
das gewohnte System zu erhalten. (vgl. Sobottka, 1990, S. 17)
Hierzu möchte ich gerne noch die Aussage eines
Bewährungshelfers anführen, der Sozialarbeit aus den Blickwinkel der
Gesellschaft darstellt: "In den Augen der meisten sind wir Sozialarbeiter
so etwas wie die Müllwerker der Nation. Man braucht sie, aber man zeigt sie
nicht vor. Wie sie arbeiten, ist eigentlich jedem ganz egal, Hauptsache, sie
schaffen uns den Abfall vom Halse!" (vgl. Schulze, 1990, S. 314)
Um die bereits genannten Hilfsangebote zu verwirklichen
stehen der Bewährungshilfe die klassischen Methoden der Sozialarbeit zur
Verfügung. Zu diesen klassischen Methoden gehört die soziale Einzelhilfe
(social-case-work), die soziale Gruppenarbeit (social-group-work) sowie die
Gemeinwesenarbeit (community-work).
Diese einzelnen Methoden haben einige Praxisrelevanz für
die Bewährungshilfe:
Seit Einführung der Bewährungshilfe, 1953, hat sich ihre
Arbeit traditionell als soziale Einzelhilfe entwickelt. Maßgeblich für diese
Entwicklung ist wohl die namentliche Bestellung eines Bewährungshelfers durch
das Gericht sowie seine Berichtspflicht gegenüber dem Gericht. Die Konsequenz
hiervon ist, das die Maßnahmen immer wieder auf den Einzelfall bezogen
durchgeführt werden. Daran ändert auch die heutige Erkenntnis über die ähnlich
gelagerten Problemlagen der Probanden sowie das immer wieder an die Grenzen
stoßen der eigenen Handlungsmöglichkeiten aufgrund der Vielzahl der Probanden
und ihrer desolaten Lebenslagen nichts. (vgl. Maelicke, 1994, S. 21)
Die Gemeinsamkeit aller Konzepte sozialer Einzelfallhilfe
besteht darin, daß mittels der Interaktion zwischen Sozialarbeiter und Klient
eine sozialisierende Wirkung bei dem Klienten herbeigeführt werden soll. Die
Einflußnahme auf den Klienten wird als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden und hat
demzufolge zum Ziel, die Klienten zu befähigen, unabhängig von Sozialarbeitern
sowie von staatlichen und privaten Hilfsinstitutionen und deren Leistungen, ihr
Leben selber wieder in den Griff zu bekommen. (vgl. Sobottka, 1990, S. 23)
Die Methode der sozialen Einzelfallhilfe ist also primär
auf die Veränderung des Klienten zentriert, sie läßt jedoch die
Umweltbedingungen nicht gänzlich außen vor. Für den Sozialarbeiter hat dies zur
Folge, daß im Einzelfall entschieden werden muß, ob der Klient alleine die
Ressourcen besitzt, um mit einer belastenden Situation umzugehen oder ob er der
Hilfe des Sozialarbeiters bedarf. Hier hinein fließt ebenfalls die
Zusammenarbeit des Sozialarbeiters mit anderen Institutionen im Interesse des
Klienten. Zwei Bereiche von Institutionen können hier unterschieden werden. Zum
einen ist die Kontaktaufnahme mit Personen aus dem sozialem Umfeld der Klienten
wie z.B. Familie oder Peer-group sehr wichtig im Rahmen von Verhaltens- oder
Dispositionsänderungen des Klienten. Zum anderen wird Kontakt aufgenommen zu
den verschiedensten sozialen Einrichtungen wie z.B. Sozialamt oder Arbeitsamt,
um entsprechende Umweltbedingungen des Klienten zu verbessern. Diese Veränderungen
der Umweltbedingungen sind aber immer auf den Einzelfall bezogen und niemals
auf vom Einzelfall losgelöste Umwelt- und Strukturveränderungen. (vgl. Sobottka, 1990, S, 24)
Die weitverbreitetste Arbeitsmethode der sozialen
Einzelfallhilfe ist die Beratung. Hinzu kommen neuere therapeutische Ansätze
wie die klientenzentrierte Gesprächsführung nach Rogers und weitere
verhaltenstherapeutische Konzepte. (vgl. Sobottka, 1990, S. 23)
Die zweite Methode der Sozialarbeit ist die soziale
Gruppenarbeit. Sie spielt, wenn auch in geringerem Ausmaß, ebenfalls eine Rolle
in der Arbeit der Bewährungshilfe.
Gruppenarbeit ist wie die soziale Einzelhilfe Individuum-
und behandlungsorientiert. Ziel der Gruppenarbeit ist es, dem Einzelnen durch
die Interaktionen in der Gruppe, Erfahrungen zu ermöglichen, welche bewußt und
gesteuert bearbeitet werden können. Diese Interaktionen sollen dem Klienten
helfen auch außerhalb der Gruppe ungestörte soziale Beziehungen zu unterhalten.
(vgl. Sobottka, 1990, S. 24) Die methodische Ausrichtung der einzelnen Formen
der Gruppenarbeit ist sehr facettenreich. Sie reicht von therapeutisch
ausgerichteter Gruppenarbeit und Freizeitgruppenarbeit bis hin zu Formen, die
themen- und problemorientiert arbeiten. Gruppenarbeit ist auf ieden Fall dazu
geeignet, den Teilnehmern deutlich zu machen, daß Straffälligkeit und und
soziale Problemlagen nicht als Einzelschicksale erlebt werden müssen. (vgl. Sobottka, 1990, S.
24)
Als dritte Methode der Sozialarbeit gilt in der Regel die
Gemeinwesenarbeit. Gemeinwesenarbeit versucht abweichende Gruppen wieder in das
Gemeinwesen zu integrieren und sie mit den Gegebenheiten wieder zu versöhnen.
Dies geschieht nicht primär auf individueller Ebene, sondern vorrangig durch
die Initiierung sozialer Prozesse, die in der Lage sind, eine Isolation des
Einzelnen aufzuheben. (vgl. Sobottka, 1990, S. 25) Eine bedeutende Rolle in der
Arbeit der Bewährungshilfe spielt die Gemeinwesenarbeit jedoch nicht.
4.2 Soziale Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe
Die Arbeitsweise der Bewährungshilfe in Deutschland hat
sich als traditionelle Einzelhilfe entwickelt, obwohl derzeit aus den erwähnten
Gründen Bedenken gegen diese Favorisierung bestehen. Bevor ich näher auf die
soziale Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe direkt eingehe, möchte ich vorab
noch einige generellen Aussagen zur Gruppenarbeit machen und stärker auf die
Unterschiede zwischen Einzelhilfe und sozialer Gruppenarbeit eingehen.
Wolfgang Hinte gibt in seinen Ausführungen Hinweise,
warum sich Reformen im sozialen Bereich häufig nur sehr schwer durchsetzen
können, wie dies ja ähnlich auch im Falle der sozialen Gruppenarbeit in der
Bewährungshilfe gegeben ist.
Die Reformen scheitern seiner Meinung nach oft an den
psychischen Strukturen der Menschen, die sich nach jahrelanger Arbeitsweise mit
bestimmten Methoden einfach nicht auf etwas Neues einlassen wollen.
Vorgeschoben für das Scheitern bestimmter Reformen werden häufig falsche
Konzepte, schlechte Bedingungen und fehlende Ressourcen. Viele Professionelle -
und dies trifft wohl auch auf Bewährungshelfer zu - tun sich einfach schwer
damit, alte Standards zu verlassen und ihre Haltungen und Methoden, welche
überwiegend auf Einzelkontakte ausgerichtet sind, umzuorientieren,
beispielsweise auf Methoden der Gruppenarbeit oder der Gemeinwesenarbeit.
(Hinte, 1990, S. 30)
Die Einzelhilfe einer institutionellen Sozialarbeit
basiert meist auf gesetzlichen Grundlagen oder auf einer individuell
empfundenen Notlage von Menschen, die dankbar sind für jede Form von Hilfe.
Dies hat zur Folge, daß sich die soziale Arbeit hier auf mehr oder weniger
akute Lebenslagen der Menschen konzentriert. Hinte führt ein sehr
einleuchtendes Beispiel über die Situation des ASD (Allgemeiner Sozialer
Dienst) an und versucht hiermit zu belegen, warum ein Sozialarbeiter des ASD
überhaupt erst nicht auf die Idee kommt, an seine Arbeitsweise etwas ändern zu
müssen. Die Beziehung zwischen dem Klienten und dem Sozialarbeiter des ASD ist charakterisiert
durch eine Zwangslage des Klienten, der sich in einer sozialen Zusammenbruchsituation
befindet und dem bei Verweigerung der Mitarbeit Sanktionen drohen, in welcher
Form auch immer. Ein großer Teil der Aufgaben des ASD sind juristisch
festgelegte Tätigkeiten, mit denen sich der Klient abfinden muß, wenn er
Sanktionen entgehen will.
Diese Form der Tätigkeit hat für den Sozialarbeiter zur
Folge, daß er so vor sich hin werkelt, ohne zu bemerken, daß es sinnvoll wäre
an dieser Arbeitsweise etwas zu ändern. Er erhält von den Klienten kein
Feedback und bemerkt aufgrund dieser Arbeitsweise Mängel überhaupt nicht.
(Hinte, 1990, S. 30 ff) Vergleichbar ist die Situation des ASD, so wie Hinte
sie hier vorgestellt hat, auch sehr gut mit der Situation der Bewährungshilfe,
die ebenfalls einen Zwangscharakter besitzt und ein sich Einfügen des Probanden
in die Gegebenheiten voraussetzt. Auch hier dürfte eine Reflexion des
Bewährungshelfers aus den genannten Gründen schwierig sein. Deshalb wird
vielleicht doch alles beim Alten bleiben, was die Arbeitsweise anbetrifft:
"Vor allen Dingen kann ich auch vor mir selbst die Illusion erhalten, daß
ich fachlich ganz gut arbeite und meinen Job ordentlich erfülle. Was jahrelang
nicht klappt, das kann nicht schlecht sein." (Hinte, 1990, S. 33)
Die Kritik an traditionellen Arbeitsmethoden, wie der
sozialen Einzelhilfe, kann hier jedoch nicht genügen, sondern ich möchte nun
herausarbeiten, welche neuen Möglichkeiten die soziale Gruppenarbeit mit sich
bringen könnte.
Die soziale Gruppenarbeit, in welcher Form auch immer,
ist in der Regel von der Freiwilligkeit der Teilnahme gekennzeichnet, sei es
die Teilnahme an einer Gesprächsgruppe im Gefängnis oder an einer Mädchengruppe
im offenen Jugendhaus. Der Professionelle ist demnach viel stärker gefordert,
seine Grundsätze wie z.B. Partnerschaftlichkeit, Hilfe zur Selbsthilfe,
Akzeptanz und Lebensweltnähe zu verwirklichen und umzusetzen. Tut er dies
nicht, so erfolgt eine Sanktion seitens der Gruppenmitglieder, die schlicht in
der Teilnahmeverweigeung besteht. Der Professionelle muß hier also um den
Kontakt mit seinen Klienten kämpfen, während er im Rahmen der
institutionsgebunden Sozialarbeit immer ein Machtinstrument in der Hand hat,
das ihm den Kontakt sicherstellt
Die Rolle des Sozialarbeiters in der Gruppenarbeit ist
nicht die des klassischen Helfers, dessen Hilfeleistung inhaltlich zunächst relativ festgelegt ist, sondern
seine Rollen sind vielfältiger und richten sich nach den situativen
Gegebenheiten. In der Gruppenarbeit wird bedeutend mehr Nähe vom Sozialarbeiter
zu realisieren sein, als in der sozialen Einzelhilfe, da hier keine vorgeprägte
Rollenstruktur besteht. Der Sozialarbeiter begibt sich in der sozialen Gruppenarbeit in die Rolle
des Lernenden. Die Normen werden hier von der Lebenswelt der Klienten bestimmt.
Der Klient muß sich nicht, wie manchmal in der sozialen Einzelhilfe, an die
Normen und Regeln der Profis anpassen, um etwaige Hilfeleistungen zu erhalten.
Die Akzeptanz des Sozialarbeiters durch die Lebenswelt der Gruppenmitglieder
erfolgt in der Regel erst nach einer Reihe von kontakterschließenden und
kontakterhaltenden Vorleistungen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die
Einzelfallhilfe eine gute Möglichkeit bietet sich hinter einer Bastion von
psychischer, methodischer und institutioneller Sicherheit zu verschanzen, womit
nicht gemeint ist, daß dies bei allen Einzelfallhelfern der Fall ist.
Einzelkontakte können wohlgemerkt auch völlig anders aussehen. Festzuhalten
bleibt jedoch, daß gerade die behördliche Sozialarbeit wie z.B. das Jugendamt
oder das Sozialamt sowie demzufolge die auch Bewährungshilfe einen Raum bieten,
in dem es unter Umständen sehr schnell zu einer persönlichen Distanzierung und
zu einer in Motivationslosigkeit ausartenden Routine kommen kann.
In der Gruppenarbeit gibt es keine schematisch
vermittelbaren methodischen Ansätze. Dies liegt daran, daß eine Gruppe ein
komplexes Gebilde darstellt, welches aus Individuen mit jeweils
unterschiedlichen lebensgeschichtlichen und gesellschaftlichen Hintergründen
und unterschiedlichsten Bedürfnissen der Einzelnen besteht. Die Beziehungen der
Gruppenmitglieder untereinander ändern sich auch ständig, die Gruppe ist also
durch eine gewisse Eigendynamik gekennzeichnet, die nur schwer kalkulierbar
ist. Fest steht also, eine Gruppe ist kein statisches Gebilde, sondern sie
entwickelt sich ständig weiter, auch ohne jegliches Zutun der Professionellen.
Die Frage nach Anhaltspunkten für das Handeln in der
Gruppe sind hiermit jedoch nicht beantwortet, deshalb werde ich nun Hinte
folgend, die bekanntesten Prinzipien vorstellen: Für Hinte bestehen sie in
erster Linie im Ansatz bei der Betroffenheit und einer Akzeptanz der
Eigenständigkeit der Gruppenmitglieder. D.h. die Teilnehmer sollen möglichst
viel selber machen und mit ihren Stärken arbeiten. Hieraus lassen sich dann
folgende Handlungsansätze ableiten:
- Bedürfnisse und Interessen der Gruppenmitglieder klären
- die jeweilige Situation mit den Gruppenmitgliedern
analysieren
- die nächsten Schritte immer gemeinsam mit den
Teilnehmern besprechen
- aufmerksam zuhören, eigene Beobachtungen mitteilen und
Ressourcen anbieten
- bei Konflikten behilflich sein
- über die Befindlichkeit einzelner Gruppenmitglieder
reden u.v.a.m.
Merkmale wie Besonnenheit, Respekt, Präsenz, Akzeptanz,
Solidarität und Unbefangenheit sowie Spontaneität charakterisieren für Hinte
einen guten Gruppenarbeiter, hinzu kommen selbstverständlich noch das Wissen um
Abläufe in Gruppen und Gruppenstrukturen, die Kenntnis und Beherrschung von
Interaktionsspielen sowie Klärungshilfen und Moderationstechniken. (Hinte,
1990, S. 33 ff)
Die oben angeführten allgemeinen Anmerkungen zur sozialen
Gruppenarbeit ließen sich auch auf eine Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe
übertragen und gelten unter Umständen auch, was für meine Arbeit entscheidender
ist, für eine erlebnisorientierte Gruppenarbeit.
Seit der Einführung der hauptamtlichen Bewährungshilfe in
Deutschland im Jahre 1953, wurde Gruppenarbeit zwar sporadisch durchgeführt,
hat sich jedoch nie auf breiter Ebene durchsetzen können, obgleich sie als
Chance gesehen wird, dem Sozialisations- und Hilfeaspekt mehr Bedeutung
beizumessen. Der gesetzliche Rahmen sagt zwar nichts über die inhaltliche
Ausgestaltung der Bewährungshilfe aus, demzufolge stehen den Bewährungshelfern
sämtliche Elemente des Interventionsrepertoires der Sozialarbeit zur Verfügung.
In der Praxis hat sich bislang jedoch lediglich die Einzelhilfe durchsetzen
können.
Die bereits mehrfach erwähnte Ausweitung der
Voraussetzungen für die Anwendung der Bewährungshilfe hat zur Folge, daß immer
neue Tätergruppen in die Arbeit miteinbezogen werden müssen. Folglich wäre hier
nun eine differenziertere Diagnostik und Betreuung notwendig, deren
Weiterentwicklung bisher jedoch sehr vernachlässigt worden ist. Festgehalten
wurde im Gegenteil an der traditionellen Methode der sozialen Einzelhilfe, ohne
ihre Wirksamkeit und Angemessenheit zu hinterfragen.
Neben der sozialen Einzelhilfe wurden hin und wieder
andere Ansätze probiert, wie z.B. die Gesprächstherapie, Familientherapie sowie
die Verhaltenstherapie, abhängig waren sie jedoch immer vom Einsatz und der
Motivation des jeweiligen Bewährungshelfers. Ähnlich ist dies mit der sozialen
Gruppenarbeit, die immer nach vereinzelten Versuchen nach gewisser Zeit wieder
eingestellt wurde.
Wodurch entstand diese Vernachlässigung der Gruppenarbeit
in der Bewährungshilfe?
Die Gründe sind verankert in individuellen und
institutionellen Widerständen. Zum Einen fühlen sich die Bewährungshelfer nicht
genügend ausgebildet zur Durchführung einer Gruppenarbeit und zum Anderen wird
ihre Fallüberlastung als Hinderungsgrund angegeben. Hinzu kommen noch
Befürchtungen, Probanden könnten sich in der Gruppe kriminell infizieren und
würden eine Gruppenarbeit sowieso ablehnen. Häufig ist auch die Erscheinung zu
beobachten, daß Bewährungshelfer sich von ablehnenden Haltungen der Kollegenschaft,
der Verwaltung sowie der Richter von ihren Unternehmungen abhalten lassen. Lippenmeier
und Sagebiel führen des weiteren an, daß eine Institution wie die
Bewährungshilfe mit ihrer Größe und Tradition mit der Zeit dazu neigt,
Bestehendes zu bewahren und Veränderungen, die das alte Gleichgewicht ins
Wanken bringen könnten, im Vorfeld abzublocken. In ihren weiteren Ausführungen
gehen Lippenmeier und Sagebiel konkret auf eine problemorientierte
Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe ein, um dann später mit der Beschreibung
des Projektes "Arbeitskreis Gruppenarbeit mit Probanden, Berlin"
fortzufahren.
Im Hinblick auf das Thema meiner Diplomarbeit werde ich
nun nur noch auf die problemorientierte Gruppenarbeit mit Probanden eingehen
und die Projektbeschreibung aussparen.
Die problemorientierte Gruppenarbeit wird von vielen
Praktikern, die damit ihre Erfahrungen gemacht haben, als geeigneter Ansatz
angesehen, um zur Lösung von personalen und sozialen Problemen Straffälliger
beizutragen. Die Autoren Lippenmeier und Sagebiel verweisen in diesem
Zusammenhang auf die Chancen, die diese problemorientierte Gruppenarbeit
bietet. Demzufolge bleibt hier der soziale Bezug zwischen Sozialarbeiter und
Klient nicht isoliert, wie im Falle der sozialen Einzelhilfe, sondern ist
eingebunden in einen Gruppenprozeß, der für den Einzelnen eine wichtige Stütze
darstellt. Der Gruppe als sozialem Lernfeld wird eine größere Bedeutung für das
Nachholen ausgefallener Lernprozesse beigemessen, als dies im Rahmen einer
isolierten Beziehung zu einer Einzelperson möglich wäre.
Ein weiteres Argument für die Gruppenarbeit mit
Straffälligen ist laut Lippenmeier und Sagebiel, daß in den meisten
Erklärungsansätzen zur Kriminalitätsentstehung die Bezugsgruppe eine
entscheidende Rolle spielt. Als Beispiele hierfür werden die Bandentheorien von
Cohen, die Theorie der Unterschichtsubkultur sowie die Theorien der
differentiellen Assoziation genannt und es wird die Aussage gemacht, daß eine
Zugehörigkeit zu Randgruppen wie z.B. Obdachlosen, Rockern und Heimzöglingen
eine erhöhte Chance darstellen, kriminalisiert zu werden. Für den Bereich der
Jugendkriminalität gehen die Autoren noch gesondert auf die Bedeutung von
Gleichaltrigengruppen, sogenannten peergroups ein. Die peergroup zur Erklärung
von Jugendkriminalität findet ihre Bedeutung darin, daß ca. 80% jugendlicher
Straftaten gemeinschaftlich ausgeführt werden.
Es stellt sich nun die Frage, was die problemorientierte
Gruppenarbeit oder die Gruppenarbeit generell für Chancen in der Praxis der
Bewährungshilfe bieten könnte und was gerade an dieser Methode so wichtig für
die Gruppe der Straffälligen ist?
Auch zu dieser Frage geben die Autoren Lippenmeier und
Sagebiel einige Antworten.
Die Bedeutung der problemorientierten Gruppenarbeit liegt
zum Einen darin, daß sie in der Lage ist die Effektivität der Bewährungshilfe
zu erhöhen, da sie eine angemessene Reaktion auf die soziale Situation der
Straffälligen darstellt. Zum Anderen stellt diese Methode natürlich eine
Erweiterung und Intensivierung des Hilfsangebotes in der Bewährungshilfe dar,
welche sich durch folgende Charakteristika von den traditionellen Methoden
abhebt:
- die Probandengruppe bietet dem Einzelnen ein Lernfeld,
in dem er seine Selbständigkeit erproben kann
- die Gruppenmitglieder müssen lernen auf der Basis
inhaltlicher Auseinandersetzungen gemeinsame Entscheidungen zu treffen und
diese in die Praxis umzusetzen
- die Gruppe bietet die Möglichkeit, sich persönlich zu
akzeptieren, sich wohlzufühlen und sich auch emotional zu äußern
- die Gruppe ist in der Lage, ein Medium für die
Vermittlung von Meinungen, Informationen und Hinweisen darzustellen
- aufgrund der Eröterung vielfältiger Alltagsfragen
können Techniken zur Selbsthilfe vermittelt und eingeübt werden
- desweiteren bietet die Gruppe auch eine Möglichkeit zur
Weitergabe kreativer Feizeitgestaltungsangebote
Die Gruppenarbeit hat neben den qualitativen Vorteilen,
daß ähnlich gelagerte Problemlagen dadurch effektiver bearbeitet werden können,
da die Probanden zu Mitberatern werden, auch den quantitativen Aspekt, daß der
Bewährungshelfer mehrere Probanden gleichzeitig erreichen kann.
Wie alles hat natürlich auch die problemorientierte
Gruppenarbeit immer zwei Seiten d.h. sie besitzt auch eine Schattenseite. Ein
häufig angeführtes Argument gegen die Effektivität dieser Methode ist die
negative Fixierung, die hier auf ein Problem erfolgt. Das hat wiederum zur
Folge, daß die positiven Möglichkeiten der Probanden mitunter zu wenig
Beachtung finden. Von einigen Autoren werden handlungs- und erlebnisorientierte
Ansätze favorisiert mit dem Argument sie entsprächen eher den
Verbalisierungsmöglichkeiten der Probanden.
Abschließend zu diesem Punkt möchte ich noch einige
Argumente von Lippenmeier und Sagebiel anführen, die für ein Umdenken der Arbeitsmethoden
in der Bewährungshilfe sprechen, unabhängig von der Form dieser Methode. Den
Autoren zu Folge kann es bei den gravierenden Problemlagen der Probanden in
zentralen Lebensbereichen nicht genügen, sich an altbewährte Methoden zu
klammern. Auch die problemorientierte Gruppenarbeit reicht hier nicht aus, es
müssen demnach noch weitergehende Angebote bereitgestellt werden. Eine
künstlich konstruierte und zwanghafte Betreuungssituation sollte durch konkrete
Lebensbezüge der Probanden unter Einbeziehung natürlich gewachsener Beziehungen
ausgebaut werden, um effektiver wirken zu können. Als Alternativen werden hier
familientherapeutische Angebote sowie Gemeinwesenarbeit und Selbsthilfegruppen
angeführt. Der Knackpunkt besteht also in der Aufhebung der Distanz zur
Lebenswelt der Probanden, um dort gezielter Probleme bearbeiten und lösen zu
können, wo sie entstehen. Entscheidend ist dafür eine Umorientierung der
Bewährungshilfe in Richtung Mobilisierung der Eigenkräfte der Probanden und
ihrer Umwelt. (vgl. Lippenmeier/Sagebiel, 1983, S. 50 ff)
4.3 Erlebnispädagogik mit Randgruppen
Unter diesem Gliederungspunkt möchte ich der Frage
nachgehen, warum Erlebnispädagogik häufig mit Randgruppen wie z.B. mit
Heimkindern, Straffälligen, Kindern und Jugendlichen in der Erziehungshilfe
etc. durchgeführt wird. Ist denn Erlebnispädagogik eine Methode die greifen
soll, wenn bereits alle anderen Hilfemaßnahmen versagt haben?
Jörg Ziegenspeck, der als Neubegründer der
Erlebnispädagogik in der Bundesrepublik Deutschland gilt, erklärt hierzu, daß
einerseits mit erlebnispädagogischen Projekten eine vorbeugende Breitenwirkung
erzielt werden soll, was zur Folge hat, daß sie eine Methode für viele
Zielgruppen darstellt. Auf der anderen Seite wird Erlebnispädagogik aber häufig
dort eingesetzt, wo die Betroffenen bereits in den berühmten Brunnen gefallen
sind und diese Zielgruppe ist überwiegend im Umfeld der sozialen Brennpunkte zu
finden. In der Praxis sieht das nach Ziegenspeck jedoch so aus, daß beide
Bereiche, die Vorbeugung und das Heilen bereits entstandener Schäden,
unterschiedlich gewichtet sind. Seiner Meinung nach reichen die finanziellen
Mittel nicht aus, um der medizinischen Weisheit, daß Vorbeugen effektiver ist
als Heilen, auch einen erzieherischen Wert zu verleihen. Daraus resultiert, daß
Erlebnispädagogik sich weiterhin überwiegend auf die Problemfälle in den
Randregionen unserer Gesellschaft beziehen wird, was der Methode der
Erlebnispädagogik natürlich einen sehr hohen Anforderungscharakter impliziert,
dem sie oft nur schwerlich gerecht werden kann. (vgl. Ziegenspeck, 1995, S.
111) Nach den Ausführungen von Bauer und Nickolai zum Thema Erlebnispädagogik
und Randständigkeit leben wir in einer Gesellschaft, die selbst immer mehr und
neue Ränder produziert. Auf der Suche nach Scheinmitten und Scheinsicherheiten
werden ihrer Meinung nach unangenehme Gefühle wie Angst und Trauer gemieden und
den Wunsch nach einer völligen Plan- und Kontrollierbarkeit des Lebens,
versucht man höchsten mit gekauftem, gepäckversichertem und organisiertem
Abenteuer etwas Spannung zu verleihen. Eine so geartete Gesellschaft grenzt
alles wirklich Spannungsbezogene als Störfall aus und definiert es einer
anderen Welt zu, die nicht mit ihrer eigenen zu tun hat. Bauer und Nickolai
vertreten weiterhin die Ansicht, daß diese Randgruppen einerseits randständig
sind, andererseits jedoch auch zentral, da sie die inneren Ränder unserer
Gesellschaft markieren. Gerade an diesen Rändern unserer Gesellschaft ist die
Erlebnispädagogik heute überwiegend aufzufinden, dort nämlich, wo Polaritäten
und Spannungen nicht mehr ausgehalten und gelebt werden und wo positive
Entwicklungen nicht mehr ohne fremde Hilfen in Gang gesetzt werden können. Die
Erlebnispädagogik hat demnach ihre Aufgabengebiete dort, wo es zu
Desintegrationserscheinungen gekommen ist, wo Verwahrlosungsformen
schichtspezifischer und schichtübergreifender Art auftreten und wo es zur
Normabweichung sowie zu psychosomatischen und sozialen Erkrankungen und zu
Grenzüberschreitungen kommt. Zusammenfassend kann man hier sagen, daß überall
dort, wo der individuelle und gesellschaftliche Organismus aus dem Gleichgewicht
geraten ist, Elemente der Erlebnispädagogik angetroffen werden, die dieses
Gleichgewicht wieder herstellen sollen. ( Bauer/Nickolai, 1989, S. 25 f)
Die Probanden der Bewährungshilfe stellen genau einen
solche Randgruppe dar, mit der ebenfalls die Erprobung der Methode der
Erlebnispädagogik in vielen Bereichen durchgeführt wird, wenn auch in
geringerem Maße als mit anderen Randgruppen. Ich möchte nun der Frage
nachgehen, was die Gruppe der Straffälligen charakterisiert und welche Gründe
gerade für eine Erlebnispädagogik mit ihnen sprechen.
Die katholische Jugendfürsorge in München führt seit
Anfang der 80er Jahre soziale Trainingskurse mit Jugendlichen im Rahmen einer
Weisung nach § 10 JGG oder einer Bewährungsauflage durch. Die Besonderheiten
der Zielgruppe jugendlicher Straffälliger besteht hier darin, daß sie in vielen
Lebensbereichen eine Anhäufung von Mißerfolgen erlebt haben. Dies manifestiert sich
hauptsächlich in unvollständigen Familien mit häufig wechselnden
Bezugspersonen, in körperlicher Gewalt, Alkohol, in geringer Leistungsfähigkeit
sowie in vorzeitigen Schul- und Lehrabbrüchen. Den oft einzigsten Halt erhalten
diese Jugendlichen im Rahmen von Gleichaltrigengruppen, in deren Subkultur
oftmals Alkohol und Drogen an der Tagesordnung sind. Das Lebensgefühl diese
Jugendlichen ist häufig gekennzeichnet von der Suche nach lustvollen und
erlebnisreichen Höhepunkten, deren Erlebnisintensität mit der Zeit eine
Steigerung erfahren muß. Das oberste Ziel dieser Jugendlichen ist demnach die
Suche nach Lustgewinn in ihrem Leben und ihre eigene mangelnde Handlungskompetenz
führt zu einer Senkung der Hemmschwelle und zu unreflektiertem Handeln.(vgl
Bürger, 1994, S.168 f) Werner Nickolai bestätigt und erweitert diese Annahmen
ebenfalls in seinen Ausführungen zur Erlebnispädagogik mit Randgruppen. Er
erläutert, daß neben den fehlenden und bruchstückhaften sowie abgebrochenen
Schul- und Berufsausbildungen der straffälligen Jugendlichen insbesondere auch
die gestörten sozialen Beziehungen und die mangelhafte Fähigkeiten zur
Ausgestaltung der eigenen Freizeit Faktoren sind, die mitschuldig an der
bisherigen Entwicklung dieser Jugendlichen sind. Die in der
Justizvollzugsanstalt Adelsheim geführte Sozialstatistik in den Jahren 1976
-1978 macht diese Häufung der sozialen Problem- und Mängellagen der Insassen
nochmals sehr deutlich. Demnach stammen etwa 50% der Gefangenen aus strukturell
unvollständigen Familien, 43% weisen Heimaufenthalte auf und ca. 50% hatten
bereits vor dem 14. Lebensjahr Kontakte zur Polizei und zum Jugendamt. Des weiteren
sind 79% ohne Berufsabschluß und 89% waren arbeitslos und davon etwa 50%
bereits länger als sechs Monate. Eine Münchener Studie zur Jugendstrafe an 14 -
15 Jährigen bestätigt diese Angaben ebenfalls. Demnach kommt die Hälfte der
Jugendlichen aus unvollständigen Familien, über 90% besitzen keinen
Schulabschluß, ca. zwei von fünf Jugendlichen besuchten die Sonderschule und
60% waren vorher schon einmal der öffentlichen Erziehung unterstellt.
Verhaltensauffälligkeiten waren die Regel.
Neben diesen sozialstrukturellen und
sozialpsychologischen Gründen, die zur Straffälligkeit führen können, darf ein
wesentliches jugend- und entwicklungspsychologisches Element nicht
unberücksichtigt bleiben. Demzufolge steht nämlich gerade hinter vielen
kriminellen Handlungen auch das Bedürfnis nach Abenteuer in Verbindung mit der
Notwendigkeit aktiv Erfahrungen sammeln zu müssen, um zu erfahren welche Spielräume
und Grenzen gegeben sind. Die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse lassen
immer weniger Spielraum für solche Erfahrungen und die Tendenz zur
Kriminalisierung der Aktivitäten steigt ständig. Der Erlebnishunger der
Jugendlichen verstärkt sich häufig im Rahmen von Gleichaltrigengruppen und die
sogenannte Bandenkriminalität wird oft als fehlgeleitete Suche nach Abenteuer
interpretiert.
Geht man nun einmal davon aus, daß diese Jugendlichen in
Strafhaft genommen werden, so wird deutlich, daß hier zwar schulische und
berufliche Ausbildung im Vollzug geleistet werden kann, ob aber der Jugendstrafvollzug
seinem erzieherischen Auftrag gerecht werden kann, bleibt fraglich.
Vollzugsanstalten sind totale Institutionen mit einem totalen
Versorgungssystem, die weder in der Lage sein werden Erlebnisfelder zu
eröffnen, in denen gestörte soziale Beziehungen oder die Unfähigkeit, mit der
Freizeit umzugehen, bearbeitet werden können, noch pädagogische Werte wie
Selbständigkeit, Verantwortungsgefühl und Eigeninitiative vermitteln können.
Gerade die Erlebnispädagogik bietet hier einen Chance, Situationen zu schaffen,
in denen Jugendliche aber auch Erwachsene Erlebnisse mit sich, mit anderen
Menschen und mit der Natur machen können, die in Alltagssituationen nicht möglich
sind.
Vor allen Dingen hat die Erlebnispädagogik im
Strafvollzug deutlich gemacht, daß Freizeitaktivitäten mit den Gefangenen zu
wertvollen Kontakten mit den Menschen draußen geführt haben und die Reaktionen
der Umwelt haben wichtige Impulse zur Korrektur von Fehlverhalten geliefert, da
Kritik und Anregungen von Außenstehenden und der Umwelt einen größeren Einfluß
ausgeübt haben, als die Anstrengungen seitens des Vollzugspersonals innerhalb
der Anstalt. (vgl. Nickolai, 1991, S. 39 ff)
Stephan Quensel befaßt sich in seinen Ausführungen über
eine alternative Pädagogik für sozial behinderte Jugendliche ebenfalls mit den
Gründen, die für eine erlebnispädagogisch ausgerichtete Arbeit mit
Straffälligen sprechen und die ich deshalb im folgenden kurz darstellen möchte.
Quensel beginnt seine Ausführungen, indem er darauf
hinweist, daß man in der professionellen Arbeit versuchen sollte, die positiven
Seiten der Klienten, wie z.B. Fähigkeiten und Kontakte weiterzuentwickeln,
anstatt ständig seine Aufmerksamkeit auf negativen Seiten zu richten. Dies mag
gerade bei Straffälligen etwas befremdend wirken, denn die Professionellen in
der Praxis sind in der Regel stärker darauf ausgerichtet in jeder Diagnose eine
Störung aufzuzeigen und ihre Gutachten über die Klienten auf der Basis einer
Aneinanderreihung von negativen Eigenschaften und Vorkommnissen aufzubauen.
Nach Quensel ruft gerade die Suche nach negativen Eigenschaften und
Schwierigkeiten diese besonders ins Bewußtsein und kann sich im Endeffekt in
das unbeabsichtigte Gegenteil kehren, wie dies z.B. der Labeling-Ansatz
deutlich aufzeigt. Geht man nun davon aus, daß die Suche nach den positiven
Eigenschaften und Seiten der Klienten genau die gleiche Wirkung erzielt, so
könnten dann diese betont und hervorgehoben werden und die anderen ins Abseits
abgedrängt werden. Fest steht, daß alle diese Jugendlichen solche positiven
Seiten besitzen und wenn es sich nur um die Versiertheit auf bestimmten
technischen Gebieten oder um das Musizieren auf einer Gitarre handelt. Des weiteren
besitzen diese Jugendlichen auch häufig noch Kontakte, die es weiter auszubauen
gilt und denen der Profi nicht gerecht wird, wenn er sie als negative
Einflußvariablen abtut. Sozialarbeit hat in den Augen Quensels demnach die
Aufgabe, die bestehenden Negativdefinitionen bei sich und auch in den Augen der
Betroffen umzukehren und zu erkennen, wie stark sie sich aus der Umwelt
Betroffenen ergeben und wo wieder angesetzt werden kann um, Fortschritte zu
machen. Ein pädagogischer Ansatz, der orientiert ist am Abenteuerkurs und am
sportlichen Erlebnis wäre geradezu ideal, um die Jugendlichen einerseits aus
ihrer alltäglichen Erfahrungswelt herauszunehmen und andererseits an den
Fähigkeiten anzusetzen, die ihnen sowieso näher liegen, um dann später auch an die
Lösung der Probleme heranzugehen, die übrigbleiben und von den Betroffenen auch
selbst als Probleme erlebt werden.
Als weiteres Prinzip im Umgang mit delinquenten
Jugendlichen nennt Quensel die Betonung der Fähigkeiten, im praktischen Bereich
anstatt im verbalen Bereich ständig über Probleme zu diskutieren, um auf diesem
Wege Fähigkeiten zu deren Lösung zu entwickeln. Ausgehend von der Annahme, daß
die Mehrzahl der Betroffenen aus sozial mehr oder weniger benachteiligten
Familien stammen und schon immer Schulstörungen aufwiesen und aufgrund dessen
bereits einschlägige Erfahrungen mit Pädagogen gemacht haben, die sie
vernommen, kontrolliert, Anamnesen erstellt und sie befragt und interviewt
haben. Es ist nachvollziehbar, daß die Jugendlichen mittlerweile die Lust
verloren haben, ständig zu reden und von ihren Unfähigkeiten, Fehlern und
Problemen zu berichten. Hinzu kommt noch der Bewegungsdrang, den Jugendliche
aufweisen um ihren eigenen Körper auszuprobieren und die Tatsache, daß sie oft
bedeutend handwerklicher begabt sind als dies von den Professionellen
angenommen wird, selbst wenn ihre Begabung darin besteht, in kürzester Zeit ein
Auto zu knacken, ist eine Begabung nicht von der Hand zu weisen. Der Lebenswelt
dieser Jugendlichen würden aus all diese Gründen einer eher handwerklich- und
körperorientierter Ansatz entsprechen, da diese Aktivitäten ihnen eher geläufig
sind und nicht allzu viele Vorkenntnisse verlangen. Ist somit erst einmal eine
Basis geschaffen, um mit den Jugendlichen zu arbeiten, so kann im Laufe der
Zeit auch immer ein Stück weiter vorangegangen werden.
Eine weitere Voraussetzung für die Arbeit mit straffällig
gewordenen Jugendlichen ist nach Quensel die Normalisierung der Bziehungen der
Jugendlichen zu ihrer Umwelt sowie zu den Pädagogen. Die sozialen Beziehungen
der Jugendlichen zu ihrer Umwelt sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, daß
sie dort als verwahrlost und kriminell gelten und sich häufig auch entsprechend
verhalten. Die Beziehungen zur Umwelt sind also als gestört aufzufassen. Insbesondere
drückt sich diese Störung in den Beziehungen zu Erwachsenen, wie z.B. zu
Eltern, Lehrern, Lehrherren, Polizisten, Richtern, Sozialarbeitern und anderen
aus, die zwar immer deklarieren, nur das Beste für die Jugendlichen zu wollen,
dieses Beste jedoch oft dann in den Augen der Betroffenen in einer
Bestrafung besteht. Eine alternative
Pädagogik ist hier gefordert, einen Teil dieser Beziehungen zu normalisieren,
die an den Störungen beider Seiten leiden und Möglichkeiten für die
Jugendlichen zu eröffnen, neue Kontakte und Beziehungen zu knüpfen. Den
Jugendlichen sollte aufgezeigt werden, wie sie selbst auch völlig anders als
bisher aufgenommen und anerkannt werden können und zwar immer dann, wenn sie in
der Lage sind, etwas den Anderen anbieten zu können. Dies gilt auch in
besonderem Maße für den erwachsenen Pädagogen, der ebenfalls etwas anbieten
sollte, aber auch mal Fehler machen darf, einmal unterlegen sein kann und von
den Betroffenen auch etwas annehmen sollte. Der Sport und sämtliche erlebnispädagogischen
Aktivitäten bieten eine ideale Gelegenheit, gemeinsam Siege zu feiern und
Niederlagen zu ertragen.
Als viertes Prinzip seiner Ausführungen weist Quensel auf
die Gruppenbeziehungen der Jugendlichen hin, die gerade in dieser Altersphase
eine ganz entscheidende Rolle spielen, da Jugendliche von ihr ihre
Wertschätzung beziehen, akzeptiert werden und sich aus dieser Gruppe
definieren. Gruppenbeziehungen, so Quensel, haben den Jugendlichen seit seiner
Kindheit geprägt in Schulklassen, in der Clique oder in Straßenbanden. Eine
alternative Pädagogik muß gerade die Kontakte zu Gleichaltrigen und ihre Rollen
im täglichen Miteinander betonen und sollte nicht ständig in der individuellen
Kindheit des Einzelnen und seiner Psyche hängen bleiben. Es steht zwar fest,
daß die Störungen der Jugendlichen bereits in ihrer Kindheit begonnen haben,
sie werden jedoch im Laufe der Jahre immer wieder durch negativ erlebte
Sozialbeziehungen verstärkt. Deshalb ist es sinnvoll im Hier und Jetzt der
Betroffenen anzusetzen. Gerade diese Gruppenbeziehungen können im Sport und in
erlebnispädagogischen Maßnahmen hervorragend gepflegt werden, dies reicht von
der Paarbeziehung beim Judo über Gruppenspiele im Wasser bis hin zu einer
mehrwöchigen Tour im Rahmen einer Hüttenwanderung.
Im Weiteren versucht Quensel, die Situation unserer
Gesellschaft zu beschreiben, die einerseits für ihn gekennzeichnet ist von
hohen beruflichen Qualifikationen und struktureller Arbeitslosigkeit und
andererseits vom steigenden Stellenwert der Freizeit und ihrer
Gestaltungsmöglichkeiten. In einer solchen Situation ist seiner Meinung nach
eine Pädagogik fehl am Platze, die übertriebene Arbeits- und Pflichtforderungen
an ihre Klientel stellt. Für viele der delinquenten Jugendlichen ist die Chance
in dieser Zeit relativ gering, noch einmal im Arbeitsprozeß voll anerkannt zu
werden aufgrund ihrer schulischen und beruflichen Ausgangsposition. Deshalb
sollte eine alternative Pädagogik zuersteinmal am Gegebenen ansetzen und den
Jugendlichen zu vermitteln versuchen, wie sie ihre Freizeit sinnvoll gestalten
können und wie sie mit Arbeitslosigkeit umgehen können. Vorrangig ist, ihnen zu
zeigen, daß es Spaß und Freude bereitet, in dieser Welt zu leben und daß es
sich auch lohnt, etwas zu tun. Entscheidend ist hier, den Jugendlichen die
Angst vor dem Neuen zu nehmen und sie anzuspornen, etwas Neues auszuprobieren
und ihre Fähigkeiten zu trainieren. Im Freizeitsport können diese Jugendlichen
solche Erfahrungen sammeln, können lernen, an inneren und äußeren Widerständen
zu arbeiten und sich selbst weiterentwickeln, indem sie an sich selber
arbeiten.
Wie bereits erwähnt ist das Leben delinquenter
Jugendlicher häufig geprägt von Mißerfolgen und Rückschlägen, gerade in den
Augen derer, die für sie wichtig waren. Die einzigen Erfolgserlebnisse
verbuchen sie meist aufgrund ihres abweichenden Verhaltens, was jedoch häufig
nur von kurzer Dauer ist, was Kontakte mit der Polizei und der Justiz ja
offensichtlich werden lassen. Die Folge hiervon ist, daß die Jugendlichen nur
ein sehr geringes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl besitzen und vor allen
Dingen auch ein großes Mißtrauen gegen sich selber hegen. Das typische
Therapeuten und Sozialarbeiter-Verhalten, das in der Regel fixiert ist auf
Fragen nach Problemen und Mißerfolgen der Klienten, unterstreicht genau diese
schlechten Seiten des Klienten und seine Meinung über sich selber. Das Lernen
sollte hier deshalb auf kleinen, mehr oder weniger mühsamen Stufen beruhen, auf
denen zuerst in Begleitung und später selbständig Erfolgserlebnisse gesammelt
werden können und ein Ausbruch aus der Mißerfolgsspirale vollzogen werden kann.
Erlebnispädagogische Aktivitäten bieten die Möglichkeit, solche
Erfolgserlebnisse zu sammeln zu, sei es im Training, in sozialen Kontakten oder
in der Beherrschung und dem Ausbau eigener körperlicher Fähigkeiten. Hier kann
gelernt werden, Niederlagen auszuhalten und Vertrauen zu sich selbst und vor
allen Dingen zu anderen zu finden. Aussprachen über Probleme und Ängste der
Betroffenen ergeben sich nebenbei und haben keinen künstlichen Charakter.
In der Regel ist es so, daß straffällige Jugendliche
weitgehend verwaltet werden in einem System von Regeln und einem
Behördenapparat, der nicht ihre Sprache spricht. Es werden Entscheidungen über
sie getroffen, ohne daß die Jugendlichen dazu befragt werden und ähnliches,
kurz, sie werden zu unselbständigen Kindern und Objekten degradiert. Diese
Jugendlichen haben weder gelernt, eine Sache von langer Hand zu planen,
abgesehen vielleicht von ihren abweichenden Taten, noch haben sie gelernt,
Regeln zu setzen und für sich und andere verantwortlich zu sein. Sicherlich
geht es auch in den Strafanstalten oder ambulanten Maßnahmen der
Straffälligenhilfe um die Vermittlung pädagogischer Werte, wie z.B.
Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Beständigkeit und Verantwortung, doch all dies
lohnt sich doch nur, wenn man am Ende ein wenig Anerkennung dafür erhält. Ohne
realistische Möglichkeiten, diese Werte auch
in die Praxis umzusetzen, bleibt all dies eine bloße Dressur ohne
jeglichen Effekt. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang mit Geld während der
Strafhaft. Die Gefangenen können den Umgang damit im Vollzug kaum erlernen,
weil man ihnen das Geld zum größten Teil vorenthält. Nach der Entlassung hofft
man jedoch, daß sie nun besser als vorher damit umgehen können. Im Bereich der
Freizeitaktivitäten und des Sportes besteht die Möglichkeit solche Werte auch
praktisch zu erproben, wie z.B. Spielregeln zu folgen, eine Sportaktivität zu
organisieren oder eine Mannschaftsaufstellung zu planen. Des weiteren kann
während einer Gebirgswanderung erfahren werden, was es heißt, sich aufeinander
zu verlassen und für andere auch mal Verantwortung übernehmen zu müssen. (vgl.
Quensel, 1991, S. 11 ff)
Quensel spricht in seinen Ausführungen stärker von
Jugendlichen, die bereits in Strafhaft waren oder gerade dort sind und versucht
hier Anregungen für eine alternative Pädagogik im Vollzug zu geben, die von der
herkömmlichen Situation abweicht. Um dies zu untermauern greift, er auf die
Vorgeschichten der Jugendlichen zurück und versucht herauszuarbeiten, warum
gerade für diese Zielgruppe eine erlebnispädagogisch ausgerichtete Arbeitsweise
sinnvoll wäre.
Ich habe die Ausführungen von Quensel in meine Arbeit
übernommen, da ich denke, daß diese auch sehr gut übertragbar sind auf die
Situationen der Probanden in der Bewährungshilfe. Die Vorgeschichten der
jugendlichen Strafgefangenen sind meiner Meinung nach auch durchaus
vergleichbar mit denen der Probanden der Bewährungshilfe, seien es nun
Jugendliche, junge Heranwachsende oder Erwachsene. Deshalb bin ich der Ansicht,
daß die Ausführungen von Quensel durchaus ein Plädoyer darstellen, die
erlebnispädagogische Arbeitsweise in der Bewährungshilfe durchzuführen, denn
auch hier ist die Erfahrung von Mißerfolgserlebnissen ausgeprägt, die
praktische Umsetzung vermittelter Werte hat so gut wie keinen Stellenwert und
das ständige sprechen über Problemlagen läßt positive Eigenschaften der
Probanden völlig in den Hintergrund treten.
4.4 Straffälligenhilfe und Erlebnispädagogik
Die geschichtliche Entwicklung der Erlebnispädagogik hat
verdeutlicht, daß diese keinen Modererscheinung unserer Zeit ist, sondern auf
eine sehr lange Geschichte zurückgeht kann. In den letzten zehn Jahren ist sie
jedoch wieder besonders populär geworden, was die Praxisbeispiele in den
Arbeitsfeldern der Sozialarbeit und Sozialpädagogik belegen, denn hier gibt es
heute kaum ein Praxisfeld, in dem die Erlebnispädagogik nicht Fuß gefaßt hätte.
Ich möchte hier nun im Hinblick auf mein Arbeitsthema auf den Bereich der
Straffälligenhilfe eingehen, um zu verdeutlichen, wo und wie hier die
Erlebnispädagogik eingesetzt wird.
Die Begründer einer Erlebnispädagogik, die sich
insbesondere auf dissoziale und delinquente Jugendliche spzialisiert hat, sind
unter anderen August Aichhorn, Don Bossco sowie A. S. Marenko. Entscheidend für
die Arbeit mit jungen Straffälligen war die Reformpädagogik der
Landerziehungsheime. Reformpädagogisch orientierte Erziehungsprinzipien, wie
die Gemeinschaftserziehung, die Selbstverwaltung, der ganzheitliche Unterricht
sowie sinnstiftende Arbeit und Disziplin machten auch nicht halt vor den
Anstalten der Fürsorgeerziehung und dem Jugendstrafvollzug. Heute werden
erlebnispädagogische Elemente auch im Jugendarrest, ansatzweise sogar im Erwachsenenstrafvollzug
und von freien Trägern, die mit delinquenten Jugendlichen arbeiten, in die
Praxis umgesetzt. Die ersten erlebnispädagogischen Projekte im
Jugendstrafvollzug wurden bereits 1978 von der Justizvollzugsanstalt Adelsheim
in Baden-Württemberg durchgeführt, die regelmäßig mehrtägige Kajakwanderungen,
Skikurse und Hochgebirgwanderungen mit einigen der Gefangenen unternahm und
deren Höhepunkt die Übernahme einer 10-tägigen Rettungswacht durch einige
Strafgefangene an der Ostsee darstellte.
Begründet ist der Einzug der Erlebnispädagogik in den
Bereich des Jugendstrafvollzuges und in die ambulanten Maßnahmen zur
Resozialisierung junger Straffälliger
wohl in dem veränderten Blickwinkel, mit dem Straftaten von Jugendlichen
betrachtet werden. Demzufolge ist das Auftreten jugendlicher Kriminalität
nämlich als normal und episodenhaft zu betrachten, was bedeutet, daß nahezu
alle männlichen Jugendlichen irgendwann einmal straffällig werden und daß das
Auftreten krimineller Handlungen in Jugendalter zu dieser Lebensphase
hinzugehört. Diese Sichtweise schließt gleichzeitig die Annahme mit ein, daß
hier große Chancen für den Übergang in eine normale Entwicklung bestehen,
vorausgesetzt, strafjustizielle Eingriffe unterbleiben weitgehendst. Ein weiteres
Argument für die Erlebnispädagogik in der Arbeit mit Straffälligen stellt die
unter Wissenschaftlern und Praktikern weitverbreitete Auffassung dar, daß
strafbare Handlungen von Jugendlichen auch ein Ausdruck zur Befriedigung des
Bedürfnisses nach Abenteuerlust darstellen. Diesem Bedürfnis nach Abenteuerlust
würde ja gerade im Rahmen der Erlebnispädagogik Rechnung getragen werden.
Des weiteren ist ein wesentlicher Gesichtspunkt der
Erlebnispädagogik, die Ganzheitlichkeit dieses Ansatzes, daß nämlich hier ein
Bezug hergestellt wird zur Körperlichkeit der Klienten wie auch zu deren Herz
und Kopf. Gerade im Strafvollzug oder in teilstationären und ambulanten
Maßnahmen zur Behandlung Straffälliger fehlt dieser ganzheitliche Ansatz nahezu
völlig. Weder besteht die Möglichkeit für die Klienten, ihre Betreuer
ganzheitlich und somit als Menschen in seiner ganzen Persönlichkeit
wahrzunehmen, noch ist dies im umgekehrten Fall gegeben. Im Gegensatz dazu ist
ein mehrtägiges erlebnispädagogisches Projekt sehr wohl in der Lage sich in
einer ganzheitlichen Weise kennenzulernen und sich somit in einer völlig
anderen Art wahrzunehmen und zu erleben. Während eines gemeinsam erlebten
Projektes bilden sich in der Regel völlig andere Beziehungen heraus und
sämtliche Rollen werden neu definiert. Die Fassade, die jeder Einzelne
errichtet hat, um im Vollzug oder auch außerhalb überleben zu können, werden hier
sehr schnell eingerissen und die Person als solche rückt in den Vordergrund.
Festzuhalten bleibt, daß während solchen Maßnahmen Jugendlichen sowie auch
Erwachsenen die Möglichkeit gegeben wird, die Grunderfahrung einer menschlichen
Beziehung nachzuholen oder zu machen, was der Strafvollzug oder eine
Sozialarbeit im Büro wie bei der Bewährungshilfe oder der Jugendgerichtshilfe
nicht leisten kann. (vgl. Nickolai, 1995, S. 82 ff)
Hans Wagner kommt in seinen Überlegungen zur Bedeutung
einer erlebnisorientierten Freizeitarbeit in der stationären Hilfe ebenfalls zu
dem Schluß, daß Erlebnispädagogik in der Straffälligen- und Nichtseßhaftenhilfe
einen festen Platz einnehmen sollte. Begründet wird dies von ihm mit den
Lebenssituationen Straffälliger, Haftentlassener sowie Nichtseßhafter, die
seiner Meinung nach an den eigenen Lebenserfahrungen leiden und nicht in der
Lage, sind dauerhafte zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Geprägt ist
die Personengruppe nach Aussage Wagners
wohl von der Heimerziehung, dem Obdachlosenmilieu und mehreren Haftaufenthalten
sowie Langzeitarbeitslosigkeit und Krankheit. Die Empfindungen der Betroffenen
sind aufgrund dieser Erfahrungen brutalisiert und haben schließlich zu einem
Verlust des Sozialen bei ihnen geführt. Daraus folgt ihre allgemeine
Konfliktscheu und Angstbereitschaft, was neue und fremde Anforderungen und
Menschen betrifft und hieraus wird sichtbar, daß ihnen jegliche Form von
Anstrengungs- und Konfliktbereitschaft fehlt. Des weiteren weist die
Personengruppe der Straffälligen und Nichtseßhaften auch eine gesellschaftlich
bedingte Seite ihres persönlichen Leidens auf, die einerseits darin besteht,
daß sie nur schwer in der Lage sind, Umwelt differenziert wahrzunehmen und zu
beurteilen. Andererseits fehlt ihnen das Vermögen, die eigene Lage und daraus
entstehende Interessen zu artikulieren. Begründet ist das nach Wagner in der
Resignation der Personengruppe aufgrund sozialisationsbedingter Erfahrungen mit
übermächtigen Gesellschaftsmechanismen und in der Hilflosigkeit der Betroffenen
im Umgang mit den Medien des zwischenmenschlichen Austausches.
Hieraus ergibt sich für Wagner eine deutliche
Aufgabenstellung für zukünftige Resozialisierungsbemühungen, für die seiner
Meinung nach vorab ein förderliches Lernfeld organisiert werden muß, welches
sich auf eine erlebbare Wirklichkeit bezieht und in seiner Struktur an den
realen Problemen und Bedürfnissen der Betroffenen ansetzt. Die wesentlichen
Aspekte an denen Menschen ihr Leben in unserer Gesellschaft orientieren, sind
nach Wagner die Aspekte der Bildung, der Arbeit und der Freizeit. Seiner
Meinung nach müssen genau diese Aspekte auch in den Resozialisierungsbemühungen
ihren Niederschlag finden. Wenn dies dann im Rahmen der Erlebnispädagogik
vornehmlich zunächst der Aspekt der Freizeit ist, so ist das ja auch sinnvoll,
da genau dieser Bereich für Haftentlassene und Nichtseßhafte am Tag der
zeitlich ausgedehnteste ist und in seinen Erlebnisstrukturen die individuellen
Problemebenen exakt wiedergibt.
Die Erlebnispädagogik hat nach Wagner im Bereich der
Straffälligen- und Nichtseßhaften Hilfe die Aufgabe, die Lebenswelt der
Betroffenen als Lernraum verfügbar zu machen und die individuellen Fähigkeiten
zur eigenen Initiative zu entwickeln sowie hierfür eine Vielfalt möglicher
sozialer Bezüge zu organisieren. Die Straffälligen- und Nichtseßhaftenhilfe hat
ja den Anspruch straffällig und nichtseßhaft gewordenen Menschen zu helfen, sie
zu betreuen und sie menschlich zu unterstützen. Nach Wagner wird gerade die
Erlebnispädagogik diesem Anspruch gerecht, da sie eine Verbindung zur
Lebenswelt der Betroffenen aufweist, ihre Methoden den gesamten Menschen
einbeziehen und einen emanzipatorischen Anspruch hat. (vgl. Wagner, 1988, 106 f)
4.4.1 Exkurs: Ausgewählte Kriminalitätstheorien
Ich möchte nun hier unter dem Gesichtspunkt der
Erlebnispädagogik in der Straffälligenhilfe einige klassische
Kriminalitätstheorien dahingehend hinterfragen, welche Begründungen sie
möglicherweise für die Verwendung der Erlebnispädagogik in diesem Bereich
beisteuern können.
Beginnen werde ich mit der sogenannten Anomietheorie nach
Merton, die abweichende Verhaltensweisen als Anpassungsprozesse einzelner
Gesellschaftsmitglieder an widersprüchliche Anforderungen seitens der
Gesellschaft begreift. Der Grundgedanke besteht darin, daß in dem System einer
Gesellschaft die Regelungen nicht mehr aufeinander abgestimmt sind und es
aufgrund dessen zu einem normlosen Zustand in dieser Gesellschaft kommt. Die
Anomietheorie sieht die Ursachen des anomischen Zustandes und damit der Devianz
in den sozialstrukturellen Bedingungen einer Gesellschaft. Demnach besteht eine
Differenz zwischen der kulturellen Struktur,. die sich in den
Verhaltensforderungen an das einzelne Gesellschaftsmitglied manifestiert und
der sozialer Struktur, in der es um die Verteilung von legitimen oder
illegitimen Realisierungschancen geht. Diese Diskrepanz führt dann dazu, daß
dem Einzelnen nicht die legalen Mittel zur Verfügung stehen, um die
gesellschaftlich vorgegebenen Ziele und Möglichkeiten zu erreichen. Die Folge
wiederum ist, daß sozialer Druck auf das Individuum ausgeübt wird, der entweder
dazu führt, daß die kulturell gesteckten Ziel an Attraktivität verlieren oder
daß der durch die Normen vorgeschriebene Weg zur Erreichung verlassen wird, was
die Devianz zur Folge hat. (vgl. Lamnek, 1993, S. 106 ff
Betrachtet man nun die Gruppe der Straffälligen, so kann
man davon ausgehen, daß es bei ihnen aufgrund sozialstruktureller Bedingungen
zu einer Diskrepanz zwischen kultureller und sozialer Struktur kommt. Die
schlechten sozialstrukturellen Bedingungen sind bei dieser Personengruppe wohl
in den häufig fehlenden oder nur bruchstückhaft abgeschlossenen Schul- und
Berufsausbildungen begründet und der daraus folgenden hohen Arbeitslosenzahlen
sowie in der generell schlechten Arbeitsmarktlage unserer Zeit, in der ein
Vorbestrafter noch weniger Chancen auf einen Arbeitsplatz hat als ein nicht
Vorbestrafter. Dazu kommt die kulturelle Struktur, die gewisse Möglichkeiten
und Ziele dem Einzelnen als erstrebenswert vorgibt, die sich häufig gerade in
einem konsumorientierten Leben manifestieren. Die Gruppe der Straffälligen hat
jedoch aus den genannten Gründen nicht die legalen Möglichkeiten, ein solch
konsumorientiertes Leben zu führen, es sei denn sie ermöglichen es sich durch
abweichende Verhaltensweisen. Die Erlebnispädagogik kann hier neue
Möglichkeiten und Chancen eröffnen, um den Betroffenen neue Formen der Lebens-
und Freizeitgestaltung an die Hand zu geben, die sich im Rahmen der Legalität
bewegen und keine abweichende Verhaltensweise nötig machen. In der Regel ist es
nämlich so, daß gerade Straffällige Schwierigkeiten haben, ihre eigene Freizeit
zu gestalten. Der "Normalbürger" ist ja aufgrund der
unterschiedlichen sozialstrukturellen Bedingungen, in denen er lebt kein
Maßstab, es sei denn der Straffällige nähert sich diesen Bedingungen mit Hilfe
illegaler Mittel an. Erlebnispädagogische Maßnahmen können den Straffälligen
dann aufzeigen, wie sie mit ihren Mitteln sinnvoll mit ihrer Freizeit umgehen
und sie gestalten können, um so auch ein Stück weit konsumorientiert zu leben.
In eine ähnliche Richtung gehen die sogenannten Theorien
der Subkultur, die davon ausgehen, daß in komplexen Gesellschaften zwar
bestimmte grundlegende Normen und Werte von allen Gesellschaftsmitgliedern
geteilt werden, daß jedoch aufgrund unterschiedlicher sozialstruktureller
Bedingungen sich auch Gruppen bilden, die davon abweichende
Verhaltenserwartungen und Normen entwickeln und praktizieren. Demnach gehen
diese Theorien ebenfalls davon aus, daß gesamtgesellschaftlich gesehen die
sozialstrukturellen Bedingungen unterschiedlich verteilt sind und deshalb auch
von bestimmten Personengruppen unterschiedliche Normen entwickelt werden. Die
Entwicklung anderer Normen wird als Anpassungsprozeß an unterschiedliche
soziale Bedingungen begriffen. Des weiteren werden gesamtgesellschaftlich als
abweichend definierte Verhaltensweisen in der Subkultur durchaus als konform
angesehen. Damit wird auch deutlich, daß abweichende Verhaltensweisen ähnlichen
Entstehungsbedingungen folgen wie konforme, nämlich denen die für die eigene
Lebenswelt brauchbar und sinnvoll sind. (vgl. Lamnek, 1993, S.142 ff) Geht man
davon aus, daß eine große Anzahl der Straffälligen ebenfalls solchen
Subkulturen entstammen, die von den gesamtgesellschaftlich akzeptierten
abweichende Verhaltensweisen entwickelt haben und praktizieren, so wird
deutlich, daß viele Resozialisierungsbemühungen hinter dem Schreibtisch daran
scheitern müssen. Eine Sozialarbeit, die in einer Beratungsstelle vollzogen
wird, ist eben nicht in der Lage sich in die Lebenswelt der Betroffenen
hineinzuversetzten, die so von der eigenen abweicht und kann aufgrund dessen
auch nur schwer erkennen, daß die entwickelten Verhaltensmuster der Klienten in
ihrer Lebenswelt auch durchaus eine Berechtigung besitzen. Solche
Verhaltensmuster aufbrechen und verändern zu wollen, setzt voraus, die Klientel
in der gesamten Komplexität ihrer Lebenswelt kennen und verstehen zu lernen.
Erst dann kann an Veränderungen gearbeitet werden, die von abweichenden zu
konformen Verhaltensweisen führen. Außerdem erscheint es auch sinnvoll, neue
Verhaltensmuster auch praktisch erlebbar zu machen, um deren Vorteile zu
verdeutlichen. Erlebnispädagogik wäre hier in der Lage, den Straffälligen neue
und brauchbare Verhaltensmuster aufzuzeigen, die innerhalb des
Gruppengeschehens kennengelernt und erlernt werden können und die sich im
Rahmen der Legalität bewegen.
Abschließend hierzu möchte ich noch auf die Theorien des
differentiellen Lernens eingehen, die davon ausgehen, daß abweichende
Verhaltensweisen genau wie konforme auch in sozialen Interaktionen erlernt
werden. Je nach Ausprägung der Theorie werden unterschiedliche Modelle des
Lernens unterstellt. Gemeinsam ist allen Theorien jedoch, daß das durch
Interaktionen erfolgt und demnach werden eben nicht nur abweichende
Verhaltensweisen kennengelernt und erlernt, sondern auch Einstellungen, Motive
und Rationalisierungen, die diese erst hervorbringen. Das Erlernen von
Verhaltensweisen setzt wiederum die Interaktion mit der Umwelt voraus, wobei
auch hier die soziologisch - sozialstrukturelle Komponente zum Ausdruck
gebracht wird. Zusammenfassend zu diesen Theorien läßt sich sagen, daß
interaktive Kontakte mit abweichenden Verhaltensweisen und Einstellungen nach
Lernprozessen auch abweichende Verhaltensweisen hervorbringen. (vgl. Lamnek,
1993, S.186 ff)
Die Schlußfolgerung aus dieser Theorien wäre dann auch,
daß abweichende Verhaltensweisen wieder verlernt werden und durch Interaktion
durch konforme Verhaltensweise ersetzbar wären. Hinzu kommt natürlich auch hier
das Erlernen von Einstellungen, Motiven und Rationalisierungen, um die
konformen Verhaltensweisen hervorzubringen. Meiner Meinung nach kann ein
solcher Lernprozeß sehr gut im Rahmen erlebnispädagogischer Maßnahmen
stattfinden und ergibt sich dort zwangsläufig aus dem gemeinsamen Leben in der
Zeit und der Bewältigung der Anforderungen. Natürlich könnte man hiergegen
einwenden, daß zum Beispiel eine erlebnispädagogische Maßnahme mit
Straffälligen wahrscheinlich eher die abweichenden Verhaltensweisen verstärkt,
anstatt neue und konforme Verhaltensweisen hervorzubringen. Diesem Argument
läßt sich jedoch meiner Ansicht nach entgegensetzten, daß es hier auf die
Beschaffenheit des Projektes ankommt. Eine mehrtägige Wanderung zum Beispiel in
relativer Abgeschiedenheit und der Notwendigkeit sich selber zu versorgen und
zurecht zu finden, bringt meiner Meinung nach zwangsläufig andere
Verhaltensweisen zum Vorschein. Es kommt dann darauf an, daß sich der Eine auf
den Anderen verlassen muß, die anfallende Arbeit aufgeteilt und erledigt wird,
für die tägliche Versorgung gesorgt werden muß, und daß sich mit den Problemen
der anderen Teilnehmer auseinandergesetzt werden muß. All dies sind
Erfahrungen, woraus sich Lernmöglichkeiten ergeben, die im alten Umfeld der
Betroffenen vielleicht überhaupt nicht möglich gewesen wären und die eine
Schreibtischsozialarbeit schon überhaupt nicht ermöglichen kann. Straffällige
können hier meiner Meinung nach Einstellungen, Motive und Rationalisierungen
kennenlernen, die sie stärker zu konformen Verhaltensweisen zurückbringen und
eventuell eine erneute Straffälligkeit verhindern können.
4.5 Erlebnispädagogik als Mittel zur Vermeidung von
Straftaten?
Der in kritischen Kreisen natürlich häufig gestellte
Frage nach der Effektivität von Erlebnispädagogik in der Arbeit mit
Straffälligen und deren Auswirkung auf das Begehen neuer Straftaten, kann
entgegengesetzt werden, daß die Erlebnispädagogik, wie die Pädagogik im
Allgemeinen, nur schwer in der Lage ist, ihre Wirkungen zu erfassen.
Wissenschaftliche Belege im Sinne handfester Beweise existieren hier in der
Regel nicht. Weiterhin gibt es auch in keinster Weise wissenschaftlich
ernstzunehmende Erkenntnisse über die Eignung der Erlebnispädagogik zum Abbau
oder zur Vermeidung strafbarer Handlungen. Was die Erlebnispädagogik mit
Straffälligen jedoch noch zusätzlich belastet, ist, daß sie von den Einen als
ungerechtfertigte Belohnung für Delinquenz angesehen wird und von den Anderen
mit zu hohen Erwartungen in Bezug auf ihre Wirkweise befrachtet wird. (vgl.
Nickolai, 1995, S. 87 ff)
Zur Eignung der Erlebnispädagogik im Zusammenhang mit der
Vermeidung oder zum Abbau strafbarer Handlungen macht Wolfgang Gottschalk
einige Aussagen.
Demzufolge kommt es seiner Meinung darauf an, ob die
Erlebnispädagogik in der Lage ist, den Zielsetzungen des Strafrechtes zu
entsprechen, nämlich erneute strafrechtlich relevante Auffälligkeiten zu
vermeiden. Weiterhin besage die internationale Sanktionsforschung, daß es
äußerst schwierig ist, im Rahmen einer individualtherapeutischen Intervention,
wie z.B. durch die Teilnahme an einem Segeltörn, die strafrechtlichen
Zielsetzungen zu erreichen. Er führt hier weiterhin an, daß die Praxis der
Erlebnispädagogik auch in keinster Weise in der Lage sei, Belege für Erfolge in
diesem Sinne zu leisten. Kanufahrten, Drachenfliegen und Tennis spielen sind
nach Gottschalk keinen Beschäftigungen, die generell für das Ausbleiben von
Kriminalität sprechen und aufgrund solcher Betätigungen sei der Teilnehmer nun
auch nicht plötzlich ein anderer und besserer Mensch als vorher. Ein Segeltörn
oder Aktivitäten unter Abgeschiedenheitsbedingungen sind ihm zu Folge nichts
anderes als ebenfalls ein Freiheitsentzug, der Kriminalität verhindert solange
die Maßnahme andauert. Die Folge hiervon ist, daß die strukurelle Analogie
mancher Projekte der Erlebnispädagogik und des Freiheitsentzugs ein gemeinsames
Problem beinhaltet: In einem lebensunwirklichen Raum ein Lernprogramm
realisieren zu wollen.
Diese Problem, welches die Transferproblematik der
Erlebnispädagogik anspricht, ist Ausgangspunkt der heftigsten Kritik an diesem
Ansatz und deshalb werde ich darauf beim Fazit und der kritischen Würdigung
noch näher eingehen.
Am Ende seiner Ausführungen weist Gottschalk darauf hin,
daß die von ihm geübte Kritik keineswegs bedeuten soll, Erlebnispädagogik sei
generell ein untaugliches Mittel in der Arbeit mit Straftätern. Seiner Meinung
nach ist der Ausgangspunkt Strafverfahren und Straftäter ein völlig falscher
Ansatzpunkt für erlebnispädagogische Programme. Des weiteren sollten die
Erwartungen an die Wirkweise dieser Methode im Bereich der Straffälligenarbeit
eher niedrig angesetzt werden und der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf
folgende Punkte gerichtet werden:
- Erlebnispädagogik sollte immer als freiwilliges Angebot
an den Einzelnen vermittelt werden und mit einer Teilnahme sollten weder
Vorteile noch Nachteile verbunden sein
- Erlebnispädagogik sollte nie mit dem Anspruch an den
Start, gehen Rückfälligkeit in strafbare Handlungen stoppen zu können oder zu
wollen
- Erlebnispädagogik ist durchaus geeignet als Methode, um
wichtige Grundsteine für eine weitere Zusammenarbeit zu legen und voneinander
Wichtiges zu erfahren, was das übliche Bereuer-/Probandenverhältnis nicht zu
Tage fördert
- Erlebnispädagogik ist durchaus ein Hilfsmittel für eine
befreitere und gemeinwesenorientierte Gefangenenarbeit und stellt ein Pendant
dar zu der Absurdität des Vollzuges, der auf ein Lernen für die Freiheit in der
Unfreiheit vorbereiten will
- Im Bereich der ambulanten Maßnahmen könnte
Erlebnispädagogik für alle Interessierten angeboten werden, um von dem
Anknüpfungspunkt der Straffälligkeit im Bewußtsein der Justiz und der Pädagogik
wegzukommen
- Erlebnispädagogik schließt in der Regel natursportliche
Bewegung und somit körperliche Ertüchtigung mit ein und hat von daher einen
Wert an sich
- Voraussetzung für alle genannten Punkte ist allerdings,
daß von justizieller Seite sowie von Seiten der Projektbetreiber an der
Entwicklung regionaler Verbundprogramme gerarbeitet wird und Geldmittel
erschlossen werden.
5. Projektvorstellung der Bewährungshilfe Marburg
5.1 Erlebnisorientierte Gruppenarbeit in der
Bewährungshilfe
Näher zu beleuchten ist nun, ob die in der Praxis der
Sozialpädagogik angewandte Methode der Erlebnispädagogik sich auch für die
Arbeit der Bewährungshilfe eignet. Im Bereich der Straffälligenarbeit wird sie
ja schon längere Zeit eingesetzt, wobei die Schwerpunkte, der Literatur zur
Folge, wohl im Jugendstrafvollzug liegen.
Der Marburger Bewährungshelfer Peter Reckling hat sich
bereits mehrfach in der Anwendung der Methode der Erlebnispädagogik in der
Bewährungshilfe versucht und hat durchaus positive Erfahrungen damit gemacht.
In einem bislang unveröffentlichten Manuskript versucht, er den Beweis
anzutreten, daß die Erlebnispädagogik durchaus eine Chance darstellt, um gerade
bei jugendlichen Delinquenten und jungen Erwachsenen eine positive Perspektive
aufzubauen und Defizite zu minimieren.
Reckling nimmt in seinen Ausführungen Bezug auf die
dominierende Arbeitsweise der Bewährungshilfe, die soziale Einzelhilfe. Seiner
Meinung nach reduziere sich diese in der Praxis häufig auf eine
Schreibtischsozialarbeit, welche in der Regel nicht in der Lage ist, an die
wahren Belange der Probanden heranzukommen. Der Zwangscharakter, der aufgrund
der Unterstellung des Probanden durch das Gericht zustandekommt, hat häufig die
Konsequenz, daß die Probanden eine entsprechende Distanz in die Beziehung zum
Bewährungshelfer miteinbringen. Diese Distanz, so Reckling, bleibt in der Regel
auch über die gesamte Bewährungszeit bestehen, wenn nicht von Seiten der
Bewährungshelfer vertrauensbildende und die Persönlichkeit herausfordernde
Maßnahmen in die Beziehung eingebracht werden. Hier liegt in der
Einzelfallhilfe der Knackpunkt, denn zu diesen Maßnahmen kommt es in der Regel
nicht, sondern der Bewährungshelfer argumentiert meist mit dem moralischem
Gewissen der Gesellschaft. Der Proband nimmt daraufhin eine zurückhaltende
Position ein und spielt ein ständiges Versteckspiel, indem er betont, er komme
durchaus zurecht und alles sei in Ordnung. Nach Reckling bestehen hier nun zwei
Möglichkeiten, um aus dem Dilemma herauszukommen und um eine effektive Arbeit
mit den Probanden zu gewährleisen. Entweder trifft man sich auf der
Verstandesebene, was eine Beendigung des Versteckspieles zwischen
Bewährungshelfer und Proband zur Folge hat oder die Erlebnispädagogik bietet
eine Möglichkeit, praktische Fertigkeiten und Kenntnisse erfahrbar zu machen.
(vgl. Reckling, 1996, S. 12 f)
Außerdem ist Peter Reckling aufgrund seiner Erfahrungen
der festen Überzeugung, daß gruppenpädagogische Aktivitäten eine Chance bieten,
Verhaltensdefizite deutlich zu machen und an Veränderungen arbeiten zu können.
Diese Veränderungen sollten seiner Meinung nach mit Einschränkungen durch
positive Bestärkung erfolgen. Er vertritt die Ansicht, daß es völlig falsch ist
zu sagen, daß Pädagogik in der Bewährungshilfe keinen Platz habe, denn setze
sich diese Ansicht durch, dann bestehe keine Möglichkeit mehr zur Aufarbeitung
der einzelnen Lebensschicksale der Probanden und es komme zu einem Verwahren
dieser, was wiederum das Aus für die Bewährungshilfe bedeuten würde. Reckling
ist somit ein Fürsprecher für eine institutionelle Verankerung der
Gruppenpädagogik in der Bewährungshilfe, um so dem Anspruch der Probanden auf
eine effektive Betreuung gerecht werden zu können. (vgl. Reckling, 1996, S.6 f)
Ich möchte nun ein von mir Interview mit dem Marburger
Bewährungshelfer Peter Reckling geführtes Interview anführen, um seine Motive,
Ideen und Zielvorstellungen einer erlebnisorientierten Gruppenarbeit in der
Bewährungshilfe transparenter zu machen. Bereits in den Vorgesprächen mit ihm
bat ich ihn um die Möglichkeit eines Interviews, um quasi sein Konzept für
diese Form der Gruppenarbeit in meiner Diplomarbeit vorstellen zu können.
Bewährungshelfer Reckling willigte auch hierzu sofort ein, mit der Bitte, ihm
die von mir geplanten Fragen im Vorfeld zukommen zulassen, damit er sich auf
sie etwas vorbereiten könne. Das Interview fand in der Beratungsstelle der
Bewährungshilfe Marburg statt und dauerte ca. 15 Minuten, die Tonbandaufnahme
habe ich dann wörtlich übernommen und werde ich nun im Folgenden darstellen :
1. Frage: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen,
erlebnisorientierte Gruppenarbeit in Ihre Arbeitsweise zu integrieren?
P.R.: Ja, also ich arbeite jetzt schon seit 12 Jahren in
der Bewährungshilfe und habe gemerkt, daß es in der Bewährungshilfe schwierig
ist, zu Probanden eine gewisse Nähe herzustellen, um mit ihnen auch wirklich an
Veränderungen zu arbeiten und da war mir Gruppenarbeit schon immer als eine
Möglichkeit im Bewußtsein. Es hat aber auch eine Weile gedauert, bis sich die
Gruppenarbeit doch so richtig, meinen Vorstellungen entsprechend, entwickeln
konnte. Ich selber habe eigentlich positive Gruppenerfahrungen und habe auch in
meinem früheren Job als Erzieher Gruppenerfahrungen mit Kindern und
Jugendlichen gemacht und darauf habe ich in gewisser Weise auch aufgebaut.
Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe hat für mich
eigentlich auch so die Bedeutung, daß an positive Erfahrungen in Gruppen
angesetzt werden kann und daß darin eine Möglichkeit besteht, nicht mit der
Stigmatisierung, wie sonst die Straffälligenhilfe konfrontiert ist, sondern daß
da ein positiver Ansatz möglich ist. Und das dann bleibende Erlebnisse gemacht
Ich möchte nun noch auf ein ganz praktisches Beispiel
hinweisen, daß ich in der Literatur gefunden habe und welches in den 20er
Jahren stattgefunden hat. Adolf Reichwein war ein deutscher Pädagoge und er hat
mit einer Volkshochschulgruppe eine zweimonatige Wanderung durch Skandinavien
durchgeführt und die war, wie man sich vorstellen kann, sehr erlebnisreich.
Diese Gruppe ist dann in einem Teil der Wanderung in Sümpfen steckengeblieben
und zehn Tage lang ohne Zivilisation durch die Gegend geirrt und sie mußten
wirklich befürchten, daß sie dabei sterben müssen. Sie haben dann aber doch
glücklicherweise eine Hütte gefunden, wo sie auch aufgenommen wurden in
Norwegen und im Nachhinein haben Adolf Reichwein und die Teilnehmer dieses
Erlebnis als ein unvergeßlich gebliebenes dargestellt und als ein Erlebnis, an dem
sie ihr ganzes leben noch zehren können und in Erinnerung behalten und wovon
sie noch ihren Verwandten, Freunden und Enkelkindern erzählen werden. Das war
also etwas Sinngebendes. Das waren damals auch junge Leute, die nicht so eine
tolle Perspektive hatten, es waren Arbeiter/Jungarbeiter, die das Interesse
hatten, sich auf diesen Weg zu begeben und sich weiterzubilden. Dieser Adolf
Reichwein hat mir da nochmal ein Motiv gegeben, in dieser Richtung auch
Gruppenarbeit weiterzuentwickeln.
2. Frage: Was versprechen Sie sich von dieser Methode in
der Arbeit der Bewährungshilfe d.h. welche Ziele verfolgen Sie damit?
P.R.: Die Ziele sind, daß die Teilnehmer durch eigene
Erfahrungen in Gruppenaktivitäten lernen sich auseinanderzusetzen mit ihrem
Handeln und mit ihrer Persönlichkeit, so wie sie sind und sich auch so
erfahren, wie sie sind. In dem sonstigen Leben mit seinen existierenden Normen
und Zwängen passen sie sich bestimmten Gruppennormen an, die von außen auf sie
wirken und denen entsprechend sie sich verhalten. In dieser Gruppe, die die
Bewährungshilfe dann anbietet oder die ich anbiete, da können sie sich als
Person bewegen, sie sind auch nicht so vorbestimmt in ihrem Verhalten, sondern
es kommt erst einmal ihre Wesensart zum Ausdruck. Es kann dadurch quasi eine
selbstkritische Betrachtung auf den Weg kommen. In der Gruppenarbeit der
Straffälligenhilfe sollen die Gruppenmitglieder auch mit ihren Taten und mit
ihrem Verhalten konfrontiert werden. Das geschieht auch indem ich kritische
Rückmeldungen gebe und sie auch zu Auseinandersetzungen herausfordere, wenn
bestimmte Verhaltensweisen auch für die Gruppe schwierig sind zu ertragen.
Fehlende Lernprozesse werden nachgeholt und dadurch werden den
Gruppenmitgliedern Neuerkenntnisse ermöglicht, auch mit sozialen Defiziten
umzugehen. Das Erkennen und Auseinandersetzen mit der eigenen Lebenssituation
soll dabei gefördert werden. Den gesellschaftlichen Tendenzen zur Isolation und
Individualisierung wird durch Gruppenerfahrungen entgegengewirkt, daß man in der
Gruppe zusammen lernt miteinander umzugehen, lernt gemeinsame Absprachen zu
treffen und das Alltägliche zu gestalten wie Kochen, Waschen, Verabredungen zu
treffen. Des weiteren wird die häufig mangelnde Verbindlichkeit von Probanden
zum Thema im Gruppengeschehen. Die Dynamik in Gruppenprozessen kann außerdem
zur Selbstbetrachtung der Gruppenmitglieder genutzt werden, wenn sie sich also
selber auch kritisch ansehen. Darüber hinaus bewirken Gruppenerfahrungen, daß
sich die Gruppenmitglieder der Auseinandersetzung mit ihrer Lebenssituation
stellen und sich nicht entziehen können, weil sie ständig mit der Gruppe
zusammen sind. Der Einzelne erkennt, was er für die Gruppe beiträgt und was er
von den Anderen annehmen kann, was also letztendlich auch die Selbstachtung
hebt, weil der Einzelne Beitrag auch mehr gewürdigt wird und er auch in der
Gruppe bestehen kann. Das Erlernte kann aktuell angewandt werden unter
kritischer Begleitung der Gruppe und kann auch langfristige Auswirkungen auf
die Beziehungen im sozialen Umfeld - also nach Gruppengeschehen - haben.
3. Frage: Wie beurteilen Sie die Auswirkungen solcher
Aktivitäten auf die teilnehmenden Probanden?
P.R.: Ich habe ja bereits im Vorhergehenden darauf Bezug
genommen, welche Ziele Gruppenarbeit verfolgt und da sind natürlich auch schon
die Auswirkungen auf die Teilnehmer/Probanden benannt. Ich möchte jetzt dies
vielleicht nochmal ganz konkret an einer für mich wichtigen Frage erläutern.
Also unter erlebnisorientierter Gruppenarbeit verstehe ich auch eine positive
Bestärkung der Probanden. Man muß sich vorstellen, wenn die Teilnehmer in einer
solchen Wochenaktivität 80 - 100 km gelaufen sind, dann ist das eine positive
Erfahrung, weil sie davon, wenn sie nach Hause kommen, auch anderen erzählen
können und sozusagen auch zeigen können, was sie geleistet haben. Diese
Leistung vollbracht zu haben, sehe ich als einen positiven Schritt, da häufig
für die Probanden das Erfahren ist, sie schaffen nichts, sie kommen nicht
voran. Gerade da erhoffe ich mir vielleicht einen Anschub, daß sie für ihr
alltägliches Leben daraus Kräfte gewinnen. Kräfte also gewinnen und dadurch
letztendlich auch Straffälligkeit für sie eingeordnet werden kann und nicht
diese Bedeutung hat und sie auch in einem Legalverhalten positive Kräfte
entwickeln können.
4. Frage: Was kann hier geleistet werden, was die
traditionelle Methode der Bewährungshilfe, die soziale Einzelhilfe, nicht in
der Lage ist zu leisten?
P.R.: Ja, also die Bewährungshilfe, wie sie sich in den
letzten Jahren herausbildete ist vielschichtig. Es gab immer auch schon
Gruppenarbeit, die Einzelfallhilfe hat aber doch eine Dominanz und man muß
einfach sagen, die Einzelfallhilfe führt nicht dazu, daß in der Regel eine Nähe
zum Probanden hergestellt werden kann oder zumindest ist es sehr schwierig.
Dazu kommen noch die Verwaltungsanforderungen, die die Gerichte stellen. Das
Arbeitsverhalten wird bürokratischer und das heißt, daß man immer mehr mit
Berichten und Vermerken umgehen muß und Arbeitskontrollen, auch Kontrollen der
Probanden und für mich ist da eine Weiterentwicklung der Bewährungshilfe durch
die Gruppenarbeit möglich, wenn sie flächendeckender angewendet wird. Es kann
effektiver an den Verhaltensweisen der Probanden etwas getan werden, in dem
Sinne, wie ich das vorher beschrieben habe und ich hoffe, daß durch eine feste
Installation der Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe größere
Veränderungspotentiale bei den Probanden bewirkt werden können.
5.2 Die Wanderung in Frankreich
Im Sommer 1995 führte Bewährungshelfer Peter Reckling
erstmals im Rahmen der Bewährungshilfe eine Wanderung auf dem historischen
Jakobsweg in Frankreich durch. An der Maßnahme nahmen sechs
Probanden/Probandinnen teil, die Teilnehmer waren alle zu einer
Bewährungsstrafe verurteilt worden. Organisiert war diese Aktivität
erlebnisorientiert, was sich darin äußerte, daß mit einfachsten Mitteln in
einer einsamen Gegend gewandert wurde. Täglich wurden zwischen 15 und 20 km zu
Fuß zurückgelegt und übernachtet wurde entweder im Freien oder in Zelten. Die
täglichen Mahlzeiten wurden auf eigener Feuerstelle zubereitet. Die für die
Wanderung ausgesuchte Region in Südfrankreich bot aufgrund des Klimas und dem
geringen Tourismus ideale Voraussetzungen für die Teilnehmern den eigenen
Gedanken einmal freien Lauf zu lassen. Die relative Einsamkeit und die
Reduzierung auf die einfachsten Mittel bot auch die Gelegenheit zum gedanklichen
Austausch mit den Mitwanderen. Im Rahmen dieser Aktivität wurden die Teilnehmer
an Grenzen herangeführt, denen sie in Alltag wenn überhaupt, dann nur sehr
selten ausgesetzt sind. Der Jakobsweg, auf dem gewandert wurde, ist ein
mittelalterlicher Pilgerweg, auf dem sich seit dem Mittelalter hunderttausende
von Menschen auf den Weg begeben haben, um das Grab des Heiligen Jakob in
Santiago de Compostela/Spanien zu besuchen. Desweiteren ist dieser Wanderweg
sehr gut markiert und die Spuren des Mittelalters sind in sämtlichen Gebäuden,
Ortschaften und Kapellen aufzufinden. Neben den religiösen Motiven, die die
Menschen früher dazu veranlaßten, diesen Jakobsweg zu begehen, gab es auch noch
den Hintergrund der Strafwallfahrt. Ein anschauliches Beispiel stellen hier die
von niederländischen Gerichten damals häufig praktizierte Verurteilung für
Gewaltverbrecher dar. Entsprechend der Schwere der Tat mußten diese entweder
bis nach Santiago de Compostela oder kürzere Strecken laufen und sich dabei
schriftlich die vollzogene Pilgerschaft bestätigen lassen. Ziel dieser Maßnahme
war einerseits, die vollbrachte Sühneleistung im Rahmen der Strafwallfahrt und
andererseits hatte es den Vorteil, daß die Straftäter so der Lynchjustiz
entgehen konnten. Nach ihrer Rückkehr bestanden außerdem weitaus größere
Chancen in die soziale Gemeinschaft ihrer Heimat wieder aufgenommen zu werden.
Waren es demnach früher eher religiöse Motive, die die
Menschen dazu veranlaßten sich auf eine Wanderung auf dem Jakobsweg zu begeben,
so ist es heute eher das Ungewisse, die Einfachheit, die Naturverbundenheit und
wohl einfach das Gefühl, sich auf den Weg zu begeben, was die Menschen dazu
motiviert. Alle Teilnehmer an dieser Maßnahme von der Bewährungshilfe in
Marburg haben sich aus freien Stücken daran beteiligt und sind mit einer
gewissen Begeisterung davon zurückgekehrt, was sich auch in den von den
Teilnehmern verfaßten Tagesberichten niederschlägt. Die entstandenen
Verpflegungskosten wurden von den Teilnehmern selbst getragen und die
Fahrtkosten trug das Hessische Ministerium der Justiz.
Bewährungshelfer Reckling hat eine Fortsetzung der
Wanderung für das Jahr 1996 bereits in Betracht gezogen, was bedeutet, daß dann
bis zur nächsten Etappe in Spanien Conques weiter gewandert wird. (vgl.
Reckling, LAG Aktuell, 1996)
Im Anschluß an die Wanderung im Jahre 1995 fanden zwei
Nachtreffen statt, bei denen ein gemeinsam gedrehter Videofilm über die
Wanderung und ein im Fernsehen ausgestrahlter Bericht über den Jakobsweg
angesehen wurden. Im Verlauf dieser Nachtreffen wurde dann bei drei Teilnehmern
der Wunsch laut, die Wanderung auf dem Jakobsweg doch im Jahr 1996
fortzusetzen. Aus diesem Grund hat dann Bewährungshelfer Peter Reckling im März
1996 zu neuen Treffen eingeladen, an denen die genannten drei Teilnehmer und
weitere Interessenten beteiligt waren. In den Monaten Mai, Juni und Juli wurden
weitere Treffen abgehalten, zu denen Bewährungshelfer Reckling immer wieder
neue potentielle Teilnehmer einlud. Es kam zu der Situation, daß Bedenken
bestanden, die Kapazität von 8 Teilnehmern würde überschritten. Bei den letzten
Treffen im Juli kam es jedoch zu erheblichen Kontroversen unter den Teilnehmern,
so daß kurzfristig mehrere Teilnehmer absagten. Die erlebnispädagogische
Wanderung auf dem Jakobsweg vom 22.08 - 29.08 1996 wurde dann schließlich nur
noch mit vier Teilnehmern, wovon einer ein Ex-Proband war, durchgeführt.
Die Reduzierung der Gruppe von anfänglich 13
Interessenten auf später nur noch vier Teilnehmer hatte nach der Meinung des
Bewährungshelfers durchaus ihre positiven Seiten. Die Konflikte in der
Vorbereitungsphase hatten demnach zur Folge, daß viele individuelle
Konfliktpotentiale deutlich wurden, die bei den Teilnehmern der Wanderung dann
später innerhalb der Gruppe weiterbesprochen werden konnten und bei den Anderen
im Rahmen von Einzelgesprächen oder neuen Gruppenkonstellationen aufgegriffen
wurden. Im Vorjahr waren diese Konflikte erst während der Fahrt zum Tragen
gekommen, was Reckling zu Folge jedoch weniger erfreulich war, denn seiner
Meinung nach war es durchaus wertvoll, daß diese nun bereits in der
Vorbereitungszeit deutlich wurden, denn so konnte vorab bereits der Gruppenzusammenhalt
geklärt werden und Risikofaktoren wurden besser kalkulierbar. Diese starke
Reduzierung der Gruppe von anfangs 13 auf schließlich 4 Teilnehmer bewirkte,
daß Bewährungshelfer Peter Reckling überlegte, ob es nicht besser sei die ganze
Aktivität abzusagen. Er entschied sich jedoch schließlich für die Durchführung,
da er einerseits die sich auf die Fahrt freuenden Probanden nicht enttäuschen
wollte und andererseits die Hoffnung hegte, daß die Polarisierung der Gruppe
eine Stabilität nach sich ziehen würde, was sich im nachhinein auch bestätigte.
Nach dem anfänglichen Frust lockerte sich die Stimmung
jedoch sehr schnell auf und mit guter Laune erreichte die Gruppe Le Puy und
fuhr an den Ausgangsort der Wanderung Aumont-Aubrac. Dort wurden an alter
Stelle, wo im Vorjahr die Wanderung geendet hatte, die Zelte aufgeschlagen und
am nächsten Tag wurde die erste Etappe von 22 km zurückgelegt. Insgesamt ist
die Gruppe 100 km gelaufen und hat am 5. Tag ihr Ziel Conques erreicht. Während
der Wanderung fanden viele Gespräche statt, meist in der Konstellation von
zweier-und dreier-Unterhaltungen. Jeden Abend wurde die Auswertung des
vergangenen Tages vorgenommen, wobei die Probanden sehr viel über frühere und
gegenwärtige Lebenssituationen sprachen. Die Probanden beschäftigten ebenso
Fragen der gemeinsamen Gruppengestaltung wie Essensbereitung, Abwasch, Wäsche
und Übernachtungsmöglichkeiten sowie auch individuelle Ansprüche und Probleme.
Bereits in der Vorbereitungsphase der Aktivität kam der
Wunsch auf, sich um einen Pilgerbrief zu bemühen der zweierlei Funktion
erfüllte, einerseits legitimierte er die Gruppe auf dem Jakobsweg und somit
konnte einfache Unterkunft in den Pilgerherbergen in Anspruch genommen werden
und andererseits bot er die Möglichkeit, die zurückgelegte Strecke durch
Abstemplung belegen zu lassen. Auf diesen Wunsch hin verfaßte der Vizepräsident
des zuständigen Landgerichtes ein Befürwortungsschreiben und die Gruppe des
Bewährungshelfers erhielt letztendlich ihren Pilgerausweis. Für die Teilnehmer
war dieser Ausweis von großer Bedeutung, da sie nun darum bemüht waren, an
jedem Ort einen Stempel zu bekommen als Beweis für die zurückgelegte Strecke.
Die Gemeinschaft der Pilger hatte für die Teilnehmer einen stolzverleihenden
Effekt, denn auf der Wanderung stieß man ständig auf Wanderer die die gleiche
Strecke zurücklegten und mit denen Erfahrungsaustausch über Wanderweg,
Abkürzungen, Unterkünfte und ähnliches stattfand. Nach anfänglicher
Reserviertheit wurden die Begegnungen im Laufe der Zeit immer freundlicher und
aufgelockerter.
Peter Reckling zu Folge hat die Einbeziehung der Natur in
eine erlebnispädagogische Aktivität einen therapeutischen Effekt, da hierbei
viele neue Erfahrungen und Empfindungen gemacht werden können. Die Gruppe
durchwanderte beispielsweise zweieinhalb Tage lang eine Hochebene auf 1200
-1400 m, die sehr einsam war und wo man nur sehr selten auf Menschen traf. Der
Blick auf die weite und urwüchsige Landschaft war hier derart unverstellt, daß
immer wieder Teilnehmer stehenblieben, um den herrlichen Anblick zu bestaunen.
Währen der anschließenden Begehung der Flußtäler und Kastanienwälder wurde
immer wieder ein besonderer Reiz vermittelt. Das Durchqueren alter und kleiner
Ortschaften, in denen nur wenige Menschen lebten und deren Häuser aus
Naturstein gebaut waren, lud immer wieder aufs Neue zum Betrachten ein.
Nach den Beobachtungen des Bewährungshelfers setzte die
positive Bestärkung durch die Gruppe bei einzelnen Teilnehmern besondere Kräfte
frei. So schrieb zum Beispiel einer der Teilnehmer durch die gesamte Wanderung
hinweg ein Tagebuch, welches die Geschehnisse genau dokumentierte. Anfangs war
dieser Teilnehmer in der Vorstellung seines Werkes noch etwas zurückhaltend,
doch im Laufe der Zeit gab er dann den Wünschen der Teilnehmer nach, doch hin
und wieder einige Passagen daraus vorzulesen. Der Teilnehmer berichtete nämlich
in seinen Ausführungen in einer besonders netten Art über die Eigenarten der
einzelnen Teilnehmer, was bei der Gruppe auf große Anerkennung stieß. Während der
gesamten Aktivität hat er sich jeweils Stichpunkte gemacht, die er dann
schließlich zu einem 29 seitigen Bericht zusammenschrieb. Bewährungshelfer
Reckling ist der Ansicht, daß hier ein Talent zu Tage gefördert wurde, was sich
lohnt gefördert zu werden. (Auszug des Berichtes, siehe Anhang B) Ein weiterer
Teilnehmer entwickelte ebenfalls besondere Kräfte, indem er der Gruppe viel von
seinen Wissen über die Meereswelt und insbesondere über Walfische vermittelte.
Wurden seine Ansichten auch nicht immer von der ganzen Gruppe geteilt, so stieß
doch sein Kenntnisreichtum über dieses Gebiet auf besondere Anerkennung bei den
anderen Gruppenteilnehmern. Bei einer weiteren geplanten Gruppenveranstaltung
auf der Burg Ludwigstein soll dieser Teilnehmer einen Diavortrag über sein
Wissensgebiet für die teilnehmenden Probanden halten.
Abschließend möchte ich nun noch einiges zur ausgesuchten
Wanderstrecke anführen. Der von der Gruppe begangene Jakobsweg ist Teil der vom
Europarat 1988 ernannten "Ersten Europäischen Kulturstraße".
Historisch gesehen hat er viel zur europäischen Identität beigetragen und
eröffnet heutzutage die Möglichkeit der gemeinsamen kulturellen Identität unter
den Europäern. Die Wanderung ist deshalb nach Meinung des Bewährungshelfers
auch ein Stück Kultur- und Bildungsarbeit mit den Probanden. Eine Fortsetzung
der Wanderung im Jahre 1997 ist bereits geplant, da nun viele Teilnehmer sich
auch das Ziel gesteckt haben, den Jakobsweg bis zum Ende in Santiago de
Compostela zu wandern.
5.3 Die Wanderung aus der Sicht teilnehmender Probanden
An dieser Stelle möchte ich nun die Teilnehmer an einer
solchen erlebnispädagogischen Wanderung am Beispiel dreier Probanden der
Bewährungshilfe Marburg zu Wort kommen lassen. In dem theoretischen Teil über
die Erlebnispädagogik als Methode in der sozialen Arbeit habe ich ja viel über
die Ziele solcher Maßnahmen angeführt, besonders im Hinblick auf die arbeit in
der Straffälligenhilfe. Aufgrund dessen ist es meiner Meinung nach nun wichtig,
an einem konkreten Praxisbeispiel, nachzusehen, welche Bedeutung und Effekte
die erlebnispädagogische Methode in der Praxis mit sich bringt.
Für diesen Zweck habe ich Kontakt mit dem durchführenden
Bewährungshelfer aufgenommen und angefragt, ob es nicht möglich sei, zwei bis
drei Teilnehmer dieser Maßnahme zu interviewen, um das Ganze auch aus der Sicht
der Adressaten zu beleuchten. Bewährungshelfer Reckling hatte keine Bedenken,
was mein Vorhaben anbetraf und arrangierte ein Treffen mit den potentiellen
Interviewteilnehmern bei der Bewährungshilfe in Marburg. Im Laufe dieses
Treffens kristallisierte sich dann heraus, daß alle drei, der vom
Bewährungshelfer Reckling in Betracht gezogenen Teilnehmer bereit waren sich,
in einem Gruppengespräch von mir befragen zu lassen. Noch an Ort und Stelle
vereinbarten wir einen Termin für die nächste Woche, wo wir uns dann in der
Wohnung zweier Probanden treffen wollten. Am Tag des Interviews frühstückten
wir zuerst gemeinsam und unterhielten uns eine ganze Weile über alle möglichen
Themen. Das technische Hilfsmittel zur Interviewaufnahme stellte ein Kassettenrecorder
dar, den wir aus akustischen Gründen während des Interviews mitten auf den
Tisch stellen mußten. Zu Beginn hatte ich den Eindruck, die Situation könnte
aufgrund dessen zu künstlich und zu aufgesetzt werden, diese Befürchtung
bestätigte sich jedoch im Laufe des Interviews keineswegs, denn die Atmosphäre
war geradezu entspannt und gelockert, so daß der Kassettenrecorder auf dem
Tisch fast in Vergessenheit geriet. Das Interview dauerte ca. 30 Minuten. Aus
Platzgründen habe ich dann im Nachhinein einige Passagen, die ich für die
Auswertung und konkrete Maßnahme für nicht so wichtig hielt, zusammenfassend
dargestellt, ansonsten habe ich die Aussagen Wort für Wort vom Band übernommen
und schriftlich festgehalten.
Ich möchte nun in Anlehnung an Hans Moser noch einige
allgemeine Anmerkungen zur Forschungsmethode des Interviews machen. Im
strukturierten bzw. nicht- oder teilstrukturierten Interview geht es generell
um die Erfassung vorliegenden Handelns. Das Handeln wird zwar hier nicht durch
eine direkte Teilnahme am Handlungsprozeß erhoben, sondern es werden
Handlungsteilnehmer befragt, um die gewünschten Gesichtspunkte des Verhaltens
zu erfassen. Zu beachten ist bei dieser Methode, daß das Handeln und seine
Motive somit auf eine indirekte Weise in Augenschein genommen werden, da immer
eine Interpretation durch die Interviewpartner erfolgt. Daraus folgt ebenfalls,
daß der Interviewer hier in stärkerem Maße abhängig ist von dem Gesagten als dies
bei einer Beobachtung der Fall ist. Im Rahmen eines Interviews existiert eine
Vielfalt möglicher Zugriffe, was den Gegenstandsbereich der Fragen betrifft. Es
können demnach sowohl Tatsachen und Ereignisse sowie auch Normen und Werte
Gegenstand der Fragen sein. Man kann unterscheiden zwischen Erfahrungs- bzw.
Verhaltensfragen, Meinungsfragen, Gefühlsfragen, Wissensfragen, Sensorischen
Fragen und Hintergrunds- bzw. demographischen Fragen.
Gegenstand der von mir gestellten Fragen in den beiden
Interviews waren Erfahrungs- bzw. Verhaltensfragen, die darauf Bezug nehmen,
was eine Person tut oder getan hat und beschreiben somit Erfahrungen,
Verhaltensweisen, Handlungen und Aktivitäten. Des weiteren ging es vorrangig um
Meinungsfragen, welche sich auf kognitive und interpretierende Prozesse der
Befragten beziehen d.h. also, was die Befragten über gewisse Dinge denken.
Dabei werden Intentionen, Wünsche und Werte ausgedrückt. Schließlich beinhalteten
die von mir gestellten Fragen nach Moser noch Gefühlsfragen, die auf ein
Verstehen der emotionalen Reaktion der Menschen sowie auf ihre Erfahrungen und
Gedanken abheben.
Zu der Art der Fragestellung läßt sich sagen, daß je nach
bestimmter Themenstellung des Forschungsprojektes die Fragen mehr oder weniger
offen gestellt werden. Im Rahmen der offenen Fragestellung existieren keine
Vorgaben, welche die Antwortmöglichkeiten vorwegnehmen würden, sondern die
Frage lenkt auf einen bestimmten Sachverhalt hin, zu dem die Befragten dann
Stellung nehmen. Halbstrukturierte Fragen im Gegensatz hierzu geben bereits
eine gewisse Richtung vor, was die Beantwortung der gestellten Fragen betrifft.
Im Bereich der qualitativen Forschung bevorzugt man deshalb eher offene
Fragestellungen, da man daran interessiert ist, wie die Interviewteilnehmer an
ein Problem herangehen und wie sie sich dazu äußern. Nützlich für die Planung
eines Interviews ist es, die einzelnen Fragestellungen in einem
Gesprächsleitfaden vorzustrukturieren. Hier werden dann die einzelnen
Inhaltsbereiche angegeben, über die gesprochen werden soll und zu jedem
Inhaltsbereich werden dazugehörige Fragen formuliert. Diese Fragen sind unter
anderem auch hilfreich, um immer wieder auf das Gesprächsthema zurückzukommen
und nicht bei einer bestimmten Fragestellung steckenzubleiben. Um Pannen in
einem Interview zu vermeiden, existieren einige Faustregeln, die der
Interviewer beachten sollte. Demnach sollten die Fragen kurz und präzise
gestellt werden, es sollte nur eine Frage auf einmal gestellt werden und man
sollte Fragen vermeiden, in denen die Antwort bereits vorgegeben wird.
Abschließend ist hierzu noch zu sagen, daß der Forschende immer vermeiden
sollte, mit eigenen Meinungsäußerungen das Interview zu verzerren, wozu eine
offene Gesprächssituation schnell verleiten kann. (vgl. Moser, 1995, S. 152 ff)
Vor Beginn des Interviews hatte ich mir einen Leitfaden
erstellt, an dem ich mich während des Interviews orientieren wollte. Dieser
Leitfaden bestand aus sechs Fragen, die ich jedoch in dieser Reihenfolge
während des Interviews nicht gestellt habe, da die Teilnehmer vieles schon bei
den ersten Fragen mitbeantwortet haben und das Ganze im Laufe des Interviews
eine gewisse Eigendynamik entwickelte, der ich meine Fragen entsprechend
angepaßt habe. Diese Eigendynamik hatte meiner Meinung nach jedoch sehr viele
Vorteile, da hier vieles gesagt und diskutiert wurde, was durch eine bloße
Abhandlung meines vorgefertigten Leitfadens wahrscheinlich nicht zur Sprache
gekommen wäre.
Im Weiteren möchte ich den von mir vorgefertigten
Leitfaden vorstellen und mich auch bei der Auswertung des Interviews an ihm
orientieren, da zu allen Punkten einiges gesagt wurde und ich eine gewisse
Struktur in die Zusammenfassung der Ergebnisse des Interviews hereinbringen
möchte. Anschließend werde ich dann aus den zusammengefaßten Ergebnissen
versuchen ein Fazit zu ziehen und dies mit der theoretischen Abhandlung aus dem
oberen Teil über die Ziele der Erlebnispädagogik in Verbindung bringen.
Praktisch gesehen, habe ich vorab die einzelnen Sequenzen
des Interviews nach ihrem Inhalt durchgesehen und die einzelnen Aussagen dann
den bestimmten Themenbereichen des Leitfadens zugeordnet. Das komplette
Interview befindet sich im Anhang und ich werde mich des weiteren
ausschließlich darauf beziehen. (siehe Anhang B)
Fragen des Leitfadens :
a) Motivation zur Teilnahme?
b) Wie wurde Aktivität erlebt und welche Erfahrungen
wurden gemacht?
c) Was konnte in den Alltag übertragen werden und was hat
Aktivität letztlich gebracht? ?
d) Die Rolle des Bewährungshelfers?
e) Wie wird diese Aktivität gegenüber üblicher
Bewährungshilfearbeit beurteilt?
f) Warum für Straffällige, d.h. was kann
Erlebnispädagogik gerade hier erreichen?
Zu a): Motivation zur Teilnahme
Die
erlebnispädagogische Wanderung war lediglich ein Angebot an die Probanden, und
die Teilnahme war demnach freiwillig. Zwei der drei Teilnehmer hatten bereits
an der Wanderung im Vorjahr teilgenommen und sind ein zweites Mal mitgefahren,
weil sie positive Erinnerungen an die erste Maßnahme hatten und hofften in
dieser Woche einfach mal ihrem Alltag entfliehen zu können. Der dritte
Teilnehmer nahm zum ersten Mal an der Maßnahme teil. Die Gründe für seine
Teilnahme waren ebenfalls die Flucht aus dem Alltag und das abgeschottet sein
von den alltäglichen Problemen. Der Teilnehmer M. führt an, daß es einfach wie
in einer anderen Welt sei, wenn man so eng mit der Natur verbunden ist wie dort
in Frankreich und es kein Telefon gibt und keinen Briefkasten, in dem Briefe
sind, die Probleme beinhalten. Die Teilnehmerin Ma. gibt an, daß dieses Angebot
von der Bewährungshilfe auch für sie die Möglichkeit bot, mal in den Urlaub zu
fahren, da dies aus finanziellen Gründen sonst überhaupt nicht zu realisieren
gewesen wäre. Des weiteren ist sie der Ansicht, daß nur wenige der
Bewährungshilfeprobanden bereit sind an einer solchen Aktivität teilzunehmen
und das jemand, der schon lange in einer Vollzugsanstalt gewesen ist, sich wohl
kaum davon überzeugen ließe daran teilzunehmen.
Zu b): Wie wurde Aktivität erlebt und welche Erfahrungen
wurden gemacht
Zum Einen wurde die Erfahrung gemacht, daß man sich
untereinander sehr gut austauschen konnte, wenn man mit Menschen zusammen war,
die das gleiche Schicksal wie man selber teilten. Es wurde beispielsweise
darüber gesprochen, wie jeder in das Ganze hineingeraten war und jeder hat ein
wenig über sich erzählt und am Ende der Aktivität wußte dann jeder über jeden
Bescheid, obwohl die Einzelschicksale nicht in der Gruppe diskutiert wurden,
sondern nur innerhalb von zweier-oder dreier-Unterhaltungen. Entscheidend war
hier wohl, daß die gleichen Problemlagen die Möglichkeit boten, sich in Sachen
Lösungsmöglichkeiten sehr gut untereinander auszutauschen. Gerade in dieser
Gemeinschaft und aufgrund des häufigen diskutierens des Straffälligseins und
des Umstandes Bewährung zu haben, erwuchs dann nach Aussagen der Teilnehmer in
vielen der Vorsatz, keine neue Bewährung mehr haben zu wollen und keine
Straftaten mehr zu begehen.
Des weiteren wurde es als sehr positiv erlebt, daß bei
auftretenden Konflikten in der Gruppe immer nach einer gemeinsamen Lösung
gesucht wurde und die Meinung aller gefragt war und nicht der Bewährungshelfer
die alleinige Entscheidungsgewalt besaß.
Die Maßnahme wurde außerdem von den Teilnehmern als
Chance erlebt, um sich einmal Gedanken über sich selber und über ihr Leben zu
machen. Die Teilnehmer führten an, daß dies im täglichen Alltag in dieser Form
überhaupt nicht möglich sei, da man aufgrund der ständigen Einflüsse von außen
nicht dazu komme, sich einmal ruhig hinzusetzen. Ein Teilnehmer ist der Meinung,
die Aktivität habe wie eine Entgiftung auf ihn gewirkt und im Laufe der
Maßnahme seien durchaus neue Türen gezeigt worden, die seiner Meinung auch
geöffnet wurden. Im Vordergrund steht für alle Interviewteilnehmer wohl die
Pause und das Abschalten von ihrem häufig doch stark problembelasteten Alltag. Teilnehmer
H. erklärt hierzu sogar, die Maßnahme habe für ihn auch die Möglichkeit
geboten, direkt über das nachzudenken, was er verbrochen hat und die Einsicht
in ihm hervorgerufen, daß das alles nicht hätte sein müssen und daß er aufgrund
dieser Pause vom Alltag erst das Problem, weshalb und wieso er straffällig
wurde, erst richtig erkannt habe.
Weiterhin geben die Teilnehmer auch an, mit einer ganz
anderen Motivation aus dem Urlaub zurückgekehrt zu sein, die ihnen auch dabei
half, ihre Angelegenheiten zu Hause viel besser in den Griff zu bekommen.
Begründet wird dies von den Probanden mit den Erfahrungen, die sie im Rahmen
der Aktivität machen konnten. Sie sind nach ihren Aussagen sehr häufig an ihre
eigenen Grenzen gestoßen, da sie wirklich etwas geleistet hatten in dieser
Woche und am Ende jedes durchmarschierten Tages sie nur noch ihr Zelt aufgebaut
haben und erschöpft auf ihre Isomatten gefallen sind. Die Erschöpfung und die
erbrachte Leistung wirkte nach Aussagen der Teilnehmer wie ein Ansporn für sie
und zeigte ihnen auch, daß sie etwas erreichen und leisten können. Diese
Erfahrung kann ihnen ihr Alltag nur schwer übermitteln, da sie hier nach
eigenen Aussagen doch häufig nur unnütz herum sitzen.
Die meiner Meinung nach wichtigste Erfahrung für die
Teilnehmer ist das gewachsene Gefühl in ihnen anerkannt und angesehen zu sein
und eben nicht nur ein Straffälliger zu sein, der in seinem Leben sowieso mehr
falsch als richtig gemacht hat. Das Gefühl der Anerkennung erlebten alle drei
Teilnehmer ganz stark, wenn sie als Pilger durch die kleinen Ortschaften in
Frankreich zogen und die Franzosen sie herzlich als Pilger begrüßten und sie
für ihren zurückgelegten Fußmarsch bewunderten. Nasch Aussage der Teilnehmerin
Ma. sind sie zwar mit einem Bus voller schlechter Menschen und Straffälliger
nach Südfrankreich gefahren, doch dieses Etikett und Stigma war dort nicht mehr
relevant und entscheidend, sondern vielmehr, was diese Gruppe als Pilger
leisten konnte. Sie als Menschen waren gefragt und gefordert und nicht der
Straffällige. Auch Teilnehmer H. führt hierzu an, man habe sich einfach ganz
anders gefühlt und zwar viel angesehener und anerkannter als vorher.
Zu c) Was konnte in den Alltag übertragen werden und was
hat Aktivität letztlich gebracht?
Auf die Frage hin, welche Erfahrungen im Rahmen der
Aktivität gemacht wurden und welche davon in den Alltag transferiert werden
konnten wurde zuerst einmal die Erfahrung, eine Verpflichtung zu haben genannt.
Der Umstand, daß innerhalb einer solchen Gruppenunternehmung jeder sich an
gewisse Regeln zu halten hatte, was schon mit dem Zeitpunkt des Aufstehens
jeden Tag begann, hat nach Aussagen der Teilnehmer viel bei ihnen bewirkt, und
sie haben dies auch mit in ihren Alltag hineingenommen. Sie erklärten, daß
jeden Abend geplant wurde, was am nächsten Tag so alles erreicht werden sollte
und um welche Uhrzeit sie dafür aufstehen mußten. Das hätte dazu beigetragen,
daß sie dies in ihrem Alltag heute auch so planen und nicht bis in den späten
Vormittag im Bett liegen blieben, da sie so nichts erreichen könnten und auch
sicherlich nicht einer geregelten Arbeit nachgehen könnten. Des weiteren
führten die Interviewteilnehmer an, daß sie zum Zeitpunkt der Maßnahme alle
arbeitslos waren und so jobmäßig überhaupt keine Verpflichtungen hatten.
Während der Aktivität hätten sie gelernt, in der Gruppe zusammenzuhalten,
gemeinsam zu arbeiten, Karten zu lesen usw. Man mußte sich aufeinander
verlassen und auch Rücksicht nehmen. Nach Aussagen der Teilnehmer ist dies
unumgänglich, wenn man eine Woche auf engstem Raum zusammenlebt. Die Aktivität
hatte den Teilnehmern zur Folge großen Anteil daran, daß sie nun plötzlich ein
ganz anderes Verhältnis zu ihrer Bewährung bekommen haben, ob dies nun das
Bezahlen an Gerichtskassen ist oder sonstige Bewährungsauflagen. Sie meinten,
daß sie nun erkannt hätten, daß sie diese Auflagen erfüllen müßten und dann im
Endeffekt auch dafür belohnt würden. Sie hofften dann ein normales Leben führen
zu können wie andere Menschen auch, ohne erneut straffällig zu werden. Die
Teilnehmer machten die Maßnahme sogar dafür verantwortlich, daß sie alle drei
innerhalb dieses Jahres einen Job gefunden hätten, da sich jeder ein Ziel
gesteckt habe und nun einer geregelten Arbeit nachgeht. Begründet wurde dies
mit dem Pflichtbewußtsein, welches die Teilnehmer auf dieser Fahrt gelernt
hätten und welches ihnen deutlich gemacht habe, daß es so wie bisher nicht
weiter gehen könne und daß jeder etwas tun müßte und nicht alles einfach so auf
sich zukommen lassen könne. Sich ein Ziel zu stecken habe einzig und allein die
Fahrt und das geänderte Verhältnis zur Bewährungshilfe bewirkt. Sie seien so
von der Einstellung weggekommen, daß man Arbeitsloser eigentlich ganz gut leben
könne. Abschließend läßt sich sagen, daß die Fahrt wohl einen gewissen
Motivationsschub ausgelöst hat, der die Teilnehmer aus ihrer passiven Haltung
herausgeführt hat und sie dazu veranlaßte aktiv, an ihrer Zukunft zu arbeiten.
Zu d) Die Rolle des Bewährungshelfers
Unter diesem Punkt geht es nun darum, wie die Teilnehmer
ihren Bewährungshelfer, den sie sonst
nur hinter dem Schreibtisch der Beratungsstelle der Bewährungshilfe antreffen,
erlebt haben. Die Teilnehmer erklärten hierzu, daß der Bewährungshelfer
Reckling ihnen auf der Fahrt das "Du" angeboten hatte, was ein viel
freundschaftlicheres Verhältnis entstehen ließ. Reckling sei im Laufe der
Maßnahme mit jedem Einzelnen mal in eine Weile zusammen gelaufen und hatte so
die Möglichkeit, die Probanden besser kennenzulernen und umgekehrt. Die Fahrt
habe die Probanden erkennen lassen, daß der Bewährungshelfer helfen will und
nicht nur einfach seine Arbeit macht. Hier wird also die Authenzität des
Bewährungshelfers deutlich, die nach Aussagen der Probanden sehr hilfreich ist,
wenn man Bewährung hat und sich ziemlich alleine und verlassen fühlt. Die Teilnehmer
geben auch zu Bedenken, daß es für ihren Bewährungshelfer sicherlich auch ein
großes Wagnis war, sich auf eine solche Unternehmung einzulassen, da er ja die
Verantwortung übernehmen mußte. Hier kommt zum Ausdruck, daß die Teilnehmer dem
Bewährungshelfer dieses hoch anrechnen. Sie fühlen sich anscheinend positiv
bestärkt, da ihr Bewährungshelfer ihnen zutraut, im Sinne der Maßnahme und der
Gemeinschaft bestimmte Regeln einzuhalten und zu akzeptieren
Zu e) Wie wird diese Aktivität gegenüber üblicher
Bewährungshilfearbeit beurteilt?
Alle drei Teilnehmer führten hierzu den Wandel in der
Beziehung zu ihrem Bewährungshelfer an. Ma. sowie M. berichteten von ihren
Gefühlen, vor dem ersten Treffen mit dem Bewährungshelfer im Rahmen der
Bewährungsauflage. Es herrschten hier anfangs allgemein die Befürchtungen, daß
dort ein Mensch sie erwarte, nur sein Kreuzchen nach Erscheinen der Probanden
machen muß. Sie sollten ihm als völlig Fremden ihre Probleme anvertrauen. Diese
Befürchtungen bringen ganz deutlich den Zwangscharakter der Bewährungshilfe zum
Ausdruck. Man ist in keinster Weise bereit, sich einem völlig fremden Mensch
vom Amt zu öffnen. Folge ist, ein schwieriges Arbeiten mit den Probanden, da
diese Distanz nahezu unüberwindbar ist. Die Teilnehmer beschrieben im Interview
jedoch den Wandel dieser Beziehung von einer Zwangsbeziehung zu einem nahezu
freundschaftlichen Verhältnis. Hilfreich waren hier, die Einzelgespräche, die
eine Basis für ein effektives Arbeiten legten.
Die drei Interviewpartner waren außerdem der Ansicht, daß
die herkömmliche Bewährungshilfearbeit eher dazu führt, daß die Probanden die
Bewährungshilfe zwar aufsuchen, in ihrem Leben jedoch ansonsten nichts
verändern. Nach der Maßnahme haben alle drei Probanden keine Mahnung von der
Bewährungshilfe mehr bekommen, sich dort zu melden, sondern sind hin und wieder
zwanglos auf einen Freundschaftsbesuch dort vorbeigegangen. Innerhalb dieser
Gespräche wurden entweder Problem angesprochen oder einfach ungezwungene
Gespräche geführt. Weiterhin vertreten die Probanden die Ansicht, daß eine
solche Aktivität die Beziehung zur Bewährungshilfe und zum Bewährungshelfer
enorm festigt und dazu beiträgt, die Angelegenheit der Bewährung und den darin
liegenden Sinn ernst zu nehmen. Als Beweis hierfür führten sie einen Ausflug
ins Eisstadion an. Sie seien die einzigsten Teilnehmer gewesen, da sie die
Sache inzwischen ernster nehmen würden als die Anderen. Hinzu kommt noch, daß
nach Meinung der Probanden die Teilnehmer einer solchen Aktivität ihre Probleme
besser kennenlernen und verstehen als Bewährungshilfeprobanden, die alle zwei
Monate einmal zum Bewährungshelfer gehen, dabei schon Mißbehagen verspüren und
froh sind, wenn sie das Büro der Beratungsstelle wieder verlassen haben.
Begründet ist dies nach Aussagen der Probanden darin, daß der Bewährungshelfer
und die ganze Institution der Bewährungshilfe als negativ empfunden wird
aufgrund der engen Anbindung an die Justiz. Eine gemeinsam durchgeführte
Aktivität wie die erlebnispädagogische Wanderung auf dem Jakobsweg in
Frankreich, ist ihrer Meinung nach in der Lage, dieses negative Etikett ein
wenig abzubauen und dazu beizutragen, ein völlig anderes Verhältnis zur
Bewährungshilfe und zur Bewährung zu bekommen.
Zu f) Warum für Straffällige, d.h. was kann es gerade bei
dieser Zielgruppe erreichen?
Ein Interviewteilnehmer führte hierzu an, daß er, wie
viele andere Bewährungshilfeprobanden am Anfang der Bewährungszeit psychisch
sehr angegriffen und oft niedergeschmettert gewesen sei. Eine Aktivität
außerhalb der üblichen Bewährungshilfe könne dazu beitragen, sich losgelöst vom
Alltag und den damit verbundenen Problemen Gedanken darüber zu machen, wo man
im Moment stehe und wie es in Zukunft weitergehen könne und solle. Vorschub
leiste hier der Umstand, daß während der Maßnahme niemand da sei, der mit neuen
Problemen an Einen herantreten könne und damit erneut das Gleichgewicht damit
zum Wanken bringe. Bei Probanden, die eine solche Aktivität nicht machen
könnten, komme es demnach nicht zu dieser Phase der Besinnung. Sie seien von
ständig neuen Problemen überflutet und demzufolge fehle die frische Motivation,
um ihr Leben neu zu ordnen und zu verändern. Der Teufelskreis, in dem sich
Straffällige oft befinden kommt hier zu keiner Unterbrechung und die Spirale
der negativen Erfahrungen und Mißerfolge dreht sich immer weiter. Weiteren
gaben die Teilnehmer an, auf einer solchen Maßnahme keine Fassade errichten zu
müssen, die versucht negative Eigenschaften wie das Straffälligsein zu
vertuschen. Hier wird wieder der Vorteil erwähnt, mit Menschen zusammen zu
sein, die das gleiche Schicksal teilen und denen man deshalb auch ungeschönt
gegenübertreten kann. Die Probandin Ma. fügte hier noch hinzu, daß gerade die
einsame Gegend dort in Frankreich, wo die Gruppe auf sich allein gestellt war,
viel dazu beigetragen habe, das Miteinander zu lernen und das sich auf den
Anderen Einlassen zu üben. Sie führte sich selbst als Beispiel an und machte
deutlich, daß unter den Straffälligen Einzelgänger seien, die keinen großen
Freundeskreis besäßen. Eine solche Maßnahme biete für diese Menschen eine
enorme Chance das Miteinander zu erlernen und auch schätzen zu lernen. Dem
stimmte auch Interviewteilnehmer H. zu und führte das Beispiel von Gefangenen
in Strafvollzug an, die seiner Meinung nach ihre Strafe absäßen und dabei ihre
Frustrationen nicht abbauen könnten. Damit werde überhaupt nichts erreicht und
der Gefangene habe dort nicht die Möglichkeit etwas an sich zu verändern bzw.
an sich zu arbeiten. Im Gegensatz hierzu biete eine Maßnahme im Rahmen der
Erlebnispädagogik durchaus die Chance, an sich zu arbeiten und neue Wege im
Leben einzuschlagen.
5.4 Zusammenfassung der Ergebnisse
Ich möchte nun die Ergebnisse der beiden von mir
durchgeführten Interviews zusammengefaßt darstellen und mit dem theoretischen
Ausführungen aus dem oberen Teil zur Methode der Erlebnispädagogik mit
Randgruppen, hauptsächlich mit Straffälligen in Verbindung bringen.
Das Interview mit dem durchführenden Bewährungshelfer der
erlebnispädagogischen Maßnahme Peter Reckling hat zum Ausdruck gebracht, daß er
vorrangig das Ziel verfolgt, eine gewisse Nähe zum Probanden herzustellen, um
effektiv an Veränderungen arbeiten zu können. Reckling ist der Ansicht, daß
Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe eine Chance bietet, um an positiven
Erfahrungen anzusetzen und weniger mit der Stigmatisierung der Straffälligkeit
zu arbeiten, was ja ein generelles Charakteristikum der Straffälligenhilfe ist.
Die vollbrachte Leistung der Teilnehmer im Laufe einer solchen Maßnahme sieht
er als eine positive Bestärkung der Probanden, welche im krassen Gegensatz zu
den sonstigen Erfahrungen der Teilnehmer steht, die eher von Mißerfolgen und
daraus resultierender Resignation geprägt sind. Aus positiven Bestärkung der
Probanden heraus, die merken, daß sie in der Lage sind, etwas zu erreichen und
zu leisten, erhofft sich Peter Reckling einen Motivationsanschub auch für ihr
alltägliches Leben und die dort vorhandenen Probleme. Außerdem sollen die
Teilnehmer einer solchen Maßnahme lernen, sich mit sich selber und ihrem
Verhalten auseinanderzusetzen, da hier keine Gruppenzwänge und -normen
herrschen, denen sie sich anpassen müssen. Innerhalb der Gruppe können sie sie
selber sein und so auch Neuerkenntnisse über sich gewinnen. Außerdem ist nach
Reckling eine solche Gruppenaktivität auch dazu geeignet, fehlende Lernprozesse
nachzuholen und den Umgang miteinander zu erlernen, sowie auch die Teilnehmer
mit ihren eigen Taten und Handlungen zu konfrontieren. Peter Reckling sieht in
der Durchführung von Gruppenaktivitäten eine Möglichkeit, den Zwangscharakter
der Bewährungshilfe abzuschwächen. Er fühlt sich in die Lage versetzt, mit den
Probanden an ihren Problemen zu arbeiten, da diese, anders als im Büro der
Beratungsstelle im Laufe einer solchen Maßnahme sehr schnell zum Vorschein
kommen. Für die Probanden sieht er hier auf der anderen Seite auch die Chance
einmal Erfahrungen zu machen, die nicht negativ belastet sind, sondern die sie
im Gegenteil positiv bestärken und daraus auch Kräfte für die Bewältigung ihre
alltäglichen Angelegenheiten freisetzen.
Das Interview mit den teilnehmenden Probanden hat
ähnliches ergeben. Die von dem Bewährungshelfer verfolgten Ziele wurden auch
von den Probanden als Ergebnisse der Maßnahme wahrgenommen. Für sie war die
Fahrt zunächst nur eine Gelegenheit dem Alltag und den dortigen Problemen zu
entfliehen. Sie begrüßten den Umstand, sich während der Maßnahme mit Menschen
ähnlichem Schicksal austauschen zu können und Lösungsmöglichkeiten ähnlich
gelagerter Probleme miteinander diskutieren zu können. Für die Teilnehmer bot
die einwöchige Maßnahme außerdem die Chance, sich über sich selber und die
eigene Lebenssituation Gedanken zu machen. Weiterhin lernten sie das Miteinander
und aufeinander Einlassen in der Gruppe sowie das Gefühl, sich aufeinander zu
verlassen und auftretende Konflikte gemeinsam lösen zu können. Nach eigenen
Angaben sind sie mit einer ganz neuer Motivation aus dem Urlaub zurückgekehrt,
da sie auf der Fahrt etwas geleistet und erreicht haben, was ihnen einen
gewissen Ansporn gegeben hat auch die Angelegenheiten zu Hause anders
anzufassen. Des weiteren hat ihnen die Wanderung auch das Gefühl verliehen,
irgendwo Anerkennung unabhängig von dem zu finden, was sie in der Vergangenheit
vielleicht falsch gemacht haben. Sie waren in Frankreich als Gruppe von Pilgern
angesehen, und der zurückgelegte Fußmarsch rief bei Anderen Bewunderung und
Anerkennung hervor, was den Teilnehmern nach eigenen Aussagen sehr gut getan
hat.
Für einen entscheidenden und wichtigen Lerninhalt dieser
Maßnahme hielten alle drei Teilnehmer das dort entstandene Pflichtbewußtsein
für sich selber und für andere, welches sie ihren Aussagen nach auch in den
Alltag mit genommen haben. Die Wanderung hat ihnen demnach deutlich gemacht,
daß es wichtig, ist etwas zu unternehmen und zu tun, wenn man etwas erreichen
will. Sie lernten, daß die eigene Zukunft gestaltbar und demnach die jetzige
Situation aus eigenen Kräften heraus veränderbar ist. Aufgrund von
Arbeitslosigkeit hatten die Teilnehmer nach eigenen Angaben keinerlei Verpflichtungen
gehabt und lebten in den Tag hinein. Die erlebnispädagogische Maßnahme habe
ihnen jedoch beigebracht, Verantwortung und Verpflichtung zu übernehmen und
aktiv an der Gestaltung von Situationen mitzuwirken, bzw. diese nach eigenen
Bedürfnissen zu verändern. Die Probanden waren sogar der Ansicht, daß sie alle
drei aufgrund dessen nun eine Arbeitsstelle angenommen haben und ein relativ
geregeltes Leben führen. Aus der Sicht der Probanden hat die Wanderung ihr
Verhältnis zur Bewährungshilfe und zum Sinn der Bewährung verändert. In
Frankreich ist ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den Probanden und
ihrem Bewährungshelfer entstanden. Die Person des Bewährungshelfers als Mensch
kam zum Vorschein. gekommen. Im Gegensatz zu der üblichen Arbeitsweise der
Bewährungshilfe ist hier nach Meinung der Teilnehmer der Zwangscharakter, der
Bewährungshilfe mit all ihren negativen Stigmata durchbrochen worden und es
entstand ein freundschaftliches Verhältnis, welches dazu beigetragen hat, sich
dem Bewährungshelfer zu öffnen und an Problemen zu arbeiten. Die Überwindung
der Distanz hat des weiteren dazu beigetragen die Angelegenheit der Bewährung
einmal mit ganz anderen Augen zu sehen und zu erkennen, daß es wichtig ist,
sich an Auflagen und Forderungen zu halten, um dann im Nachhinein ein normales Leben führen zu können.
Abschließend beurteilen die Teilnehmer die Aktivität als Möglichkeit neue Türen
und Wege zu eröffnen und auch in Zukunft an sich zu arbeiten.
Im Weiteren möchte ich nun damit fortfahren, die im
oberen theoretischen Teil angeführten Ziele der Erlebnispädagogik und
Kriterien, die für eine Erlebnispädagogik mit Straffälligen sprechen, mit den
Ergebnissen meiner Interviews in Verbindung zu bringen. Meine Absicht ist hier,
die Theorie der Literatur über Ziele und Merkmale der Erlebnispädagogik an
einem konkreten Praxisbeispiel festzumachen und zu prüfen, was in der Praxis
leistbar ist. Für diese Überprüfung habe ich mir die Ausführungen von Werner
Nickolai und Stephan Quensel ausgesucht, da ich der Meinung bin, daß sie die
Lebenssituationen Straffälliger sehr gut erfassen und daraus Schlüsse ziehen,
die für erlebnispädagogische Maßnahmen mit dieser Zielgruppe sprechen.
Nach Nickolai sind vor allen Dingen fehlende und
bruchstückhafte Schul- und Berufsausbildungen sowie gestörte und soziale
Beziehungen und die Unfähigkeit, mit der eigenen Freizeit umzugehen Gründe, die
eine Straffälligkeit im jugendlichen Alter und als junge Heranwachsende
begünstigen. Hinzu kommt ein wesentliches jugend- und
entwicklungspsychologisches Element, welches zum Ausdruck bringt, daß hinter
vielen kriminellen Handlungen das Bedürfnis nach Abenteuer steht, verbunden mit
der Notwendigkeit, aktiv Erfahrungen sammeln zu müssen, um gegebene Grenzen
kennenzulernen. Daraus läßt sich ableiten, daß Jugendliche in der Strafhaft
wohl abgebrochene Schul- und Berufsausbildungen nachholen können, hier jedoch
keine Erlebnisfelder geöffnet werden, die das Bearbeiten gestörter Beziehungen
oder der Unfähigkeit, mit der eigenen Freizeit umzugehen, ermöglichen würden.
Des weiteren werden hier kaum pädagogische Werte wie Verantwortungsgefühl,
Selbständigkeit und Eigeninitiative vermittelt. Dies betrifft außer den
Inhaftierten auch diejenigen, die sich in den ambulanten Maßnahmen der
Straffälligenhilfe befinden. (vgl. Nickolai, 1991, S. 39 ff)
Sieht man sich hierzu die Angaben über die Erfahrungen
der Marburger Teilnehmer an, so wird deutlich, daß sie nach eigenen Angaben
sehr wohl gelernt haben, Verantwortung zu übernehmen und Eigeninitiative zu
entwickeln. Einige der Teilnehmer gaben im Interview an, Einzelgänger gewesen
zu sein und auf dieser Maßnahme erst das Miteinander kennen und schätzen
gelernt zu haben. Soziale Beziehungen zu den anderen Teilnehmern aufzubauen und
diese zu pflegen, gaben alle drei Teilnehmer als eine wichtige Erfahrung an,
welche für sie auch den Vorteil des gegenseitigen Austausches und der
gemeinsame Suche nach Lösungsmöglichkeiten mit sich brachte. Alle diese
Erfahrungen stimmen demnach sehr genau mit den von Nickolai genannten Defiziten
dieser Problemgruppe überein, womit die Teilnehmer ihn durch ihre Aussagen
bestätigen.
Stephan Quensel erweitert in seinen Ausführungen die
Kriterien noch, die für den Einsatz von erlebnispädagogischen Aktivitäten im
Bereich der Straffälligenhilfe sprechen. Seiner Meinung nach sollte eine
professionelle Sozialarbeit versuchen, die positiven Seiten der Klienten zu
fördern und nicht ständig ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die negativen Seiten
der Klienten richten. Die Suche nach den negativen Eigenschaften ruft diese dem
Klienten besonders ins Bewußtsein und erzielt somit gerade einen nicht
erwünschten Effekt. Erlebnispädagogische Aktivitäten sind nach Quensel ein
ideales Medium, um die positiven Seiten der Klienten zum Vorschein zu bringen,
was die Teilnehmer des Marburger Projektes auch in der Praxis bestätigen. Einer
der Teilnehmer schrieb am Ende der Maßnahme einen 29seitigen Bericht darüber
und ein anderer Teilnehmer erfreute den Rest der Gruppe mit seinem vielfältigen
Wissen über die Meereswelt. Hier wurden zwei Talente entdeckt, die ansonsten
vielleicht im Verborgenen geblieben wären.
Des weiteren konstatiert Quensel, daß Erlebnispädagogik
eine Möglichkeit für Randgruppen und somit auch Straffällige bietet, um diese
aus ihrer alltäglichen Erfahrungswelt herauszunehmen und an Fähigkeiten
anzusetzen, die ihnen sowieso näher liegen. Diese Zielgruppe muß sich in der
Regel mit Betreuern und Sozialarbeitern verbal über ihre Problemlagen und
ähnliches auseinandersetzen, was ihnen jedoch aufgrund häufig fehlender
schulischer und beruflicher Qualifikationen sehr schwer fällt.
Erlebnispädagogik kann hier im praktischen Bereich ansetzen und entspricht
somit stärker der Lebenswelt der Betroffenen. Sie holt sie dort ab, wo sie
gerade stehen. Später kann hier dann auch die Lösung von vorhandenen Problemen
in die Arbeitsweise miteinfließen. Quensel ist auch mit seinen Feststellungen
sehr nahe an der Realität der Betroffenen, denn auch die Marburger
Bewährungshilfeprobanden berichten von einem Unbehagen während den ersten
Gesprächen beim Bewährungshelfer, da sie ein völlig fremder Mensch erwartete,
mit dem sie sich über ihre Probleme unterhalten sollten. Die Wanderung in Frankreich
machte ihnen deutlich, daß der Bewährungshelfer ein Mensch ist, der sich für
ihre Probleme interessiert und sich für sie einsetzt. Die Schwellenangst vor
dem Bewährungshelfer und Institution der Bewährungshilfe verringerte sich
aufgrund dessen und es entstand ein anderes Verhältnis, welches im Nachhinein
ein effektiveres Arbeiten ermöglichte. Auch wurden auf der Wanderung nicht
ständig die Probleme der Einzelnen diskutiert, sondern im Vordergrund stand die
praktische Tätigkeit und Bewältigung der erforderlichen Aufgaben wie Kochen,
Waschen, Karten lesen und den Wanderweg sowie Übernachtungsmöglichkeiten und zu
organisieren. Diese praktischen Tätigkeiten lagen wohl den Marburger Probanden
auch näher als das ständige Diskutieren der eigenen Lebensgeschichte und den
negativen Eigenschaften der Einzelnen. Natürlich kam es auch hier zu Konflikten
und problematischen Verhaltensweisen der Einzelnen, die im Laufe der Maßnahme
dann zum Thema wurden. Entscheidend ist doch, daß hier ein neuer Zugang zu
ihnen gefunden wurde über den praktischen Bereich, der der Lebenswelt der
Probanden eher entspricht, zu gehen.
Als nächstes Kriterium führt Quensel die Notwendigkeit
an, die Beziehungen der Betroffenen zu ihrer Umwelt und zu dem Pädagogen zu
normalisieren, da diese Beziehungen häufig davon gekennzeichnet sind, daß die
Klienten hier als kriminell und verwahrlost gelten und sich auch
dementsprechend verhalten. Erlebnispädagogische Aktivitäten bieten nach Quensel
die Chance zur Normalisierung der Beziehungen, da die Betroffenen in die Lage
versetzt werden, Anderen etwas anzubieten mit ihnen wetteifern und gemeinsame
Erlebnisse zu haben. Das hat zur Folge, daß sie erleben können ganz anders als
bisher aufgenommen und anerkannt zu werden. Ein hervorragendes Beispiel hierzu
sind die Aussagen der Teilnehmer der Marburger Maßnahme über ihre Gefühle, als
sie als Gruppe von Pilgern durch die französischen Ortschaften gewandert sind
und die dortigen Franzosen sie freundlich begrüßten und aufnahmen. Die
Probanden berichten hier selber, daß es ein gutes Gefühl war anerkannt und
bewundert zu werden für den zurückgelegten Fußmarsch. Sie fühlten sich nicht
mehr als Straftäter, wie sie es aus ihrem Alltag gewohnt sind. Das
Selbstbewußtsein und das Selbstvertrauen der Probanden hat aufgrund dessen eine
enorme Steigerung erfahren und ihnen aufgezeigt, daß die Straffälligkeit nicht
das einzige Kriterium zur Eigendefinition ist über das sie sich definieren
können, sondern viel entscheidender ist, was sie leisten und erreichen können.
Im Weiteren geht Quensel auf die gesellschaftlichen
Gegebenheiten ein, die ebenfalls die Situation straffällig gewordener Menschen
mit beeinflussen. Tatsache ist für ihn, daß viele delinquente Jugendliche und
junge Erwachsene in der heutigen Zeit aufgrund ihrer schulischen und
beruflichen Ausgangssituationen kaum eine reale Chance haben, jemals wieder
voll im Arbeitsprozeß anerkannt zu werden, aufgrund ihrer schulischen und
beruflichen Ausgangssituationen. Wichtig ist deshalb seiner Meinung nach,
dieser Zielgruppe zu vermitteln, wie sie ihre Freizeit sinnvoll gestalten und
mit Arbeitslosigkeit umgehen können. Wichtig ist außerdem ihnen aufzuzeigen,
daß sie etwas tun müssen und ihnen die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen,
damit sie einen Ansporn haben Neues auszuprobieren und die eigenen Fähigkeiten
zu trainieren. Nach Quensel tragen besonders Erfahrungen während
erlebnispädagogischen Maßnahmen dazu bei an inneren und äußeren Widerständen zu
arbeiten und sie selber weiterzuentwickeln. Auch hiervon berichten die Marburger
Probanden, denn ihren Aussagen zur Folge sind sie mit einer völlig anderen
Motivation von der Reise zurückgekehrt und hatten nun einen Ansporn, die
Angelegenheiten zu Hause endlich in den Griff zu bekommen und die eigene
Zukunft aktiver mitzugestalten anstatt einfach alles auf sich zukommen zu
lassen. Das Problem der Gestaltung der eigenen Freizeit sprechen sie ebenfalls
an, indem sie angeben, zu Hause doch nur meist unnütz herumzusitzen. Die
Teilnehmer lernten in der Schönheit der südfranzösischen Natur, vom Alltag
abzuschalten und sich stärker über die eigene Lebenssituation. Die intensiven
Erlebnisse machten ihnen deutlich, daß es sich lohnt, etwas zu unternehmen, da
es so viel schönes im Leben geben kann.
Weiterhin erklärt Quensel, daß das Leben von Delinquenten
stark von Rückschlägen und Mißerfolgserlebnissen geprägt ist und das die
einzigsten Erfolgserlebnisse in abweichenden Verhaltensweisen verbucht werden
könnten. Die Folge ist ein sehr geringes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen
der Betroffenen. Diese Mißerfolgsspirale kann nach Quensel ideal im Rahmen
erlebnispädagogischer Aktivitäten unterbrochen werden, nicht jedoch mit dem
typischen Sozialarbeiter- und Therapeutenverhalten, welches nur die negativen
Seiten der Klienten unterstreicht. Erlebnisorientierte Projekte bieten die
Möglichkeit Erfolgserlebnisse zu sammeln, was die Marburger Probanden
eigentlich während des gesamten Interviews bestätigen. Alle Erfahrungen auf der
Wanderung konnten von den Teilnehmern als positive Leistungen verbucht werden
und sind somit ihn der Lage, ihr Selbstwertgefühl und ihr Selbstbewußtsein zu
stärken.
Abschließend gibt Quensel noch zu Bedenken, daß
Straffällige sowie auch andere Zielgruppen der Sozialarbeit in der Regel von
einem System von Regeln und einem Behördenapparat verwaltet werden, der nicht
ihre Sprache spricht. Pädagogischer Werte wie Pünktlichkeit, Verantwortung,
Zuverlässigkeit und Beständigkeit werden hier häufig rein theoretisch
vermittelt, ohne daß es zur praktischen Erprobung kommt. Es wird nicht geübt
etwas von langer Hand zu planen, abgesehen von Straftaten vielleicht, noch
selbst Regeln zu setzen oder für andere verantwortlich zu sein. Ein gutes
Beispiel hierfür ist die Strafhaft, die die Inhaftierten auf ein Leben
außerhalb des Vollzuges vorbereiten will, ohne jedoch den Gefangenen die
Möglichkeiten zur praktischen Umsetzung des Erlernten zu geben. Im Rahmen einer
erlebnispädagogischen Maßnahme müssen vermittelte Werte nicht nur bloße Dressur
bleiben, sondern können unter der kritischen Betrachtung der gesamten Gruppe
vom Einzelnen auch in die Praxis umgesetzt werden. Die Marburger
Bewährungshilfeprobanden, die an der Wanderung teilgenommen haben, berichten
ebenfalls davon, daß sie gelernt hätten, Regeln einzuhalten und zu akzeptieren,
Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen sowie Rücksichtnahme und
Toleranz im Umgang miteinander zu üben
Aus den genannten
Punkten ergibt sich, daß vieles, was von Quensel und Nickolai als Vorteil der
Erlebnispädagogik im Bereich der Straffälligenhilfe angeführt wurde mit den
Erfahrungen und Aussagen der Marburger Probanden übereinstimmt. Auch die Ziele
und Erwartungen, die der durchführende Bewährungshelfer Peter Reckling
formuliert hat, haben nach Aussagen der Teilnehmer ihre Wirkung erzielt und vor
allen Dingen den Zwangscharakter in der Beziehung zur Bewährungshilfe
aufgebrochen, was wohl in Zukunft ein effektiveres Arbeiten zur Folge haben
wird.
5.5 Fazit und kritische Würdigung
Wie bereits erwähnt hat die Marburger Bewährungshilfe
durchaus gute Erfahrungen mit erlebnispädagogischen Maßnahmen gemacht und auch
die teilnehmenden Probanden haben die positiven Auswirkungen solcher
Aktivitäten deutlich zum Ausdruck gebracht. Um hier jedoch nicht ein
einseitiges Bild der Thematik entstehen zu lassen, möchte ich im Folgenden die
durchaus berechtigte Kritik an solchen Aktivitäten erwähnen, die einerseits
mehrfach in der aktuellen Literatur diskutiert wird, andererseits mir selbst
als problematisch aufgefallen ist.
Einer der wohl in der Fachdiskussion am häufigsten
auftauchenden Kritikpunkte an der Erlebnispädagogik ist der der
Transferproblematik. Hier wird zum Ausdruck gebracht, daß die meisten
erlebnispädagogischen Projekte fernab von der Lebenswelt der Betroffenen
durchgeführt werden, wie dies z.B. bei. Langzeitmaßnahmen in den Pyrenäen, auf
Sardinien oder in Griechenland der Fall ist. Nach Meinung einiger Kritiker hat
die mangelnde Lebensweltorientierung zur Folge, daß ein Transfer der gemachten
Erfahrungen in die alltägliche Lebenswelt deshalb häufig nicht gelingt. Es
stoßen hier demnach zwei Welten aufeinander: einerseits die Abenteuer- und
Erlebniswelt und andererseits die Lebenswelt, die sich nach Meinung der
Kritiker nicht miteinander verbinden lassen. (vgl. Schuhmann, !997, S. 92 ff)
Wolfgang Antes ist ebenfalls der Ansicht, daß die unter
der Transferproblematik zusammengefaßte Kritik durchaus einen konzeptionellen
Knackunkt der Erlebnispädagogik darstellt und daß diese Kritik ernstzunehmen
ist. Es stellt sich die Frage, wie Teilnehmer, die bestimmte Erfahrungen in
einem Umfeld gesammelt haben, welches sich deutlich von ihrem Alltagleben
unterscheidet, diese dann in ihren Alltag übertragen und nutzbar machen können.
Antes versucht diese Kritik zu entkräften, indem er anführt, daß das Lernen an einem
fremden Ort, unter fremden Bedingungen sowie auch in der Regel mit fremden
Menschen, vorrangig eine Möglichkeit bietet, um überhaupt bestimmte
Lernprozesse zu aktivieren, die in der Regel aufgrund negativer Erfahrungen
vorher nicht möglich waren. Des weiteren gibt er zu Bedenken, daß natürlich die
Struktur einer erlebnispädagogischen Aktivität viel dazu beiträgt, ob ein
Transfer der gemachten Erfahrungen ins Alltagsleben möglich ist. Seiner Meinung
nach sollten hierzu flankierende Maßnahmen nutzbar gemacht werden, was
bedeutet, daß die Maßnahme nicht als isolierte Aktivität angeboten werden
sollte. Eine intensive Vor- und Nachbereitung sollte erfolgen, wie auch
tägliche Reflexionsrunden. In der Vorbereitungsphase sollten demnach Lernziele
deutlich und bewußt formuliert werden und die Teilnehmer sollten auf die
bevorstehenden Erlebnisse vorbereitet werden. Die Nachbereitung kann dann die
Teilnehmer bei der Übertragung der gemachten Erfahrungen in ihr Alltagsleben
unterstützen, indem die Umsetzungsmöglichkeiten der Erfahrungen mit dem
Projektleiter reflektiert werden. Die Notwendigkeit der Nachbereitung ergibt
sich unter anderem auch daraus, daß gewisse Konflikte bei der Rückkehr in das
Alltagsleben entstehen können. Die Konflikte speisen sich meist aus der
Tatsache, daß der Teilnehmer aufgrund gemachter Erfahrungen und Erlebnisse zu
Einstellungsveränderungen gelangt ist, die den Erwartungshaltungen seines
alltäglichen Umfeldes nicht mehr entsprechen, da sich dieses ja nicht verändert
hat. Da die Konflikte einer positiven Motivation und Veränderung entstammen,
sollten sie aber in Form einer Nachbereitung konstruktiv genutzt werden. (vgl.
Antes, 1995, S.17 ff)
Annette Reiners sieht den Hauptkritikpunkt der
Erlebnispädagogik in der Transferproblematik, da es ihrer Meinung nach
schwierig ist, einen Transfer in den Alltag zu beweisen, da die Teilnehmer nach
Beendigung der Maßnahme oft das Umfeld des Betreuers verlassen und einer
Verfolgung des eventuellen Lerneffektes aufgrund dessen nicht mehr nachgegangen
werden kann. Des weiteren gibt sie zu Bedenken, daß nur wenige Studien über die
Wirksamkeit erlebnispädagogischer Maßnahmen existieren und wenn, dann wurden
sie in der Regel von Mitarbeitern des Projektes oder der Institution verfaßt,
was die Objektivität in Frage stellt. Reiners stimmt Antes insofern zu, daß für
einen Transfer die Reflexion entscheidend ist. Zentral für sie sind die
Erfahrungen, welche auf dem Weg zum Ziel gemacht wurden und nicht so sehr das
Ziel als solches. Wichtig sind ihrer Meinung nach immer die
Bewältigungsstrategien, die von Teilnehmern angewendet werden, um bestimmte
Herausforderungen zu meistern, da diese auch im Alltag zur Lösung von Problemen
angewendet werden können und von daher die eigentliche Lernerfahrung
darstellen. (vgl. Reiners, 1992, S. 10 f)
Ein weiterer Vorwurf an die Erlebnispädagogik
manifestiert sich in den Aussagen, daß sie völlig unpolitisch orientiert sei
und lediglich eine Freizeitpädagogik ohne wichtigen Erziehungsauftrag
darstelle. Demzufolge klammere sie die eigentlichen Probleme der Zielgruppen
wie Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, Schule und Elternhaus völlig aus und
verhindere außerdem Lernchancen einer politischen Bildung. (vgl.
Heckmair/Michl, 1994, S.163) In die gleiche Richtung geht das Argument,
Erlebnispädagogik sei Kernstück einer reaktionären Pädagogik mit antiaufklärerischer
Wirkung. Demnach seien vorrangige Ziele dieser Pädagogik romantische Ideale wie
Naturerlebnis, Abenteuer und Gemeinschaft und sie trage weniger dazu bei, den
Betroffenen bei der Orientierung in der sie umgebenden Risikogesellschaft zu
unterstützen. Nach Schuhmann kommt gerade die antiaufklärerische Tendenz in
Parolen zum Ausdruck, daß z.B. Erleben besser ist als Reden. Seiner Meinung
nach greift das zu kurz, da hier nicht über die aktuellen Erlebnisse
hinausgegangen und somit weder Vergangenheit und Zukunft miteinbezogen werden.
(vgl. Schuhmann, 1997, S. 93)
Ein weiterer Kritikpunkt gegenüber der Erlebnispädagogik
ist, daß sie versucht, Erlebnisse zu planen und sich dann eine entsprechende
Wirkung davon auf das Innenleben der Betroffenen erhofft. Hiermit soll zum
Ausdruck gebracht werden, daß die subjektive Wirkung eines Erlebnisses auf den
Einzelnen in keinster Weise planbar ist, da zum Beispiel 15 Teilnehmer einer
Klettertour die gewonnenen Eindrücke dabei auch 15mal unterschiedlich zu
Erlebnissen verarbeiten, was eine Planbarkeit gänzlich ausschließt. (vgl.
Heckmair/Michl, 1994, S. 164) Auch Annette Reiners gibt zu Bedenken, daß im
Rahmen erlebnispädagogischer Maßnahmen immer die Frage nach der Bedeutung des
Erlebnisses für den Einzelnen offen bleibt. Dem Erlebnis kommt ihrer Meinung
nach eine rein individuelle Erfahrungsqualität zu, da die Erfahrung, welche von
einer Person durch ein bestimmtes Erlebnis gewonnen wird, für den anderen nicht
greifbar ist. (vgl. Reiners, 1992, S. 10) Heckmair und Michl setzen dem jedoch
entgegen, daß damit in keinster Weise der pädagogische Auftrag zunichte gemacht
werde, da ihrer Meinung nach entscheidend ist, daß die Betroffenen der
Überzeugung sind, daß aufgrund erlebnispädagogischer Aktivitäten neue
Dimensionen des Lernens für sie eröffnet werden. Dann erst setzt nämlich erst
der wichtigste Teil des pädagogischen Auftrages ein, indem am Ende einer
erlebnispädagogischen Aktivität das Erleben und das Reden miteinander verbunden
wird. (vgl. Heckmair/Michl, 1994, S. 164)
Eine in der Öffentlichkeit viel diskutierte Frage ist die
nach der Berechtigung der finanziellen Aufwendungen erlebnispädagogischer
Projekte. Saharadurchquerungen mit Drogenabhängigen, Segeltörns mit auffälligen
Jugendlichen und Auslandsprojekte in Frankreich und Griechenland lassen die
kritischen Fragen auch als durchaus berechtigt erscheinen. Solch
kostenintensive Maßnahmen werden in der Regel in Betracht gezogen, wenn das
Kind schon in den bekannten Brunnen gefallen ist. Die normale
Durchschnittsfamilie mit einem Einkommen und zwei Kindern ist nur in den
seltensten Fällen in der Lage, ihren Kindern solche Reisen bieten zu können und
hier stellt sich natürlich die Frage, warum man dies gerade auffälligen,
delinquenten oder drogenabhängigen Jugendlichen zu Teil werden läßt und ob
nicht kostengünstigere Aktivitäten eine ähnliche Wirkung erzielen könnten.
Nicht umsonst stellt Wolfgang Gottschalk die Frage, ob man erst klauen und
somit ein Verbrechen begehen muß, bevor man einen Segeltörn machen kann oder
einen Ausbildungsplatz erhält. (vgl. Gottschalk, 1994, S. 40)
Die Gründe für die kritische Betrachtung solcher
Aktivitäten liegen meiner Meinung nach zum einen darin, daß seitens der
Organisatoren der Maßnahmen zu wenig transparent gemacht wird, was dort
geschieht und mit welchen Intentionen es geschieht. Zum anderen wurden schon
sehr viele negative Vorfälle im Rahmen von Auslandsprojekten bekannt bei denen
sich die Betreuer eine schöne Zeit machten und die Jugendlichen unter
unmöglichsten Bedingungen lebten. Beispiele solch negativer Vorfälle werden in
der Regel dann über die Presse breitgetreten und oft einseitig dargestellt, was
natürlich eine Mißstimmung der Öffentlichkeit gegenüber solchen erlebnispädagogischen
Maßnahmen zur Folge hat. Hinzu kommt noch, daß das Erlebnis in der heutigen
Zeit einen hohen Stellenwert in der Bedürfnishierarchie der Menschen
eingenommen hat und aufgrund dessen nun vermarktet wird und zu einem Konsumgut
geworden ist. Hier steht dann Kommerz versus Erziehung und es kommt sicherlich
auch vor, daß bei vielen Aktivitäten das Geld in den Vordergrund rückt. Diese
Aktivitäten sollten jedoch nicht mit denen, die im Rahmen der Jugendhilfe oder
anderer sozialer Einrichtungen angeboten werden, in Verbindung gebracht werden,
was leider häufig der Fall ist. Hierzu möchte ich noch ein Zitat von Dr. Jörg
Ziegenspeck anführen, welches meiner Meinung nach die Problematik nochmals
verdeutlicht: "Erlebnispädagogik ist Erziehung: Die jugend- und
sozialerzieherische Potenz muß bei allen Vorhaben und unter allen Umständen
definiert sein und sichtbar bleiben, also die jeweilige Praxis begründbar und
transparent machen." (Ziegenspeck, 1995, S. 110) Ich denke, diese Aussage
drückt außerdem sehr gut aus, daß transparent gemacht werden muß, was in diesen
Maßnahmen mit welchen Intentionen und finanziellen Aufwendungen geschieht, um
die Praxis begründbar zu machen. Des weiteren kann so Unterstellungen
vorgebeugt werden, die die Aktivitäten als Urlaub ohne jeglichen erzieherischen
Hintergrund für Betreuer und Teilnehmer ansehen.
6. Schlußbetrachtung
Nachdem ich in nun im Rahmen meiner Diplomarbeit der
Frage nachgegangen bin, ob erlebnisorientierte Gruppenarbeit eine geeignete
Methode in der Arbeit mit Probanden der Bewährungshilfe darstellt, kann ich
sagen, daß sie meiner Meinung nach durchaus eine Arbeitsweise ist, über deren
verstärkte Anwendung in der Bewährungshilfe nachgedacht werden sollte.
Geht man noch einmal zu den Aufgaben der Bewährungshilfe
zurück, so bestehen diese nach dem Gesetz darin, dem Verurteilten helfend und
betreuend zur Seite zu stehen, um ihn zu unterstützen, ein Leben in
Straffreiheit zu führen. Außerdem überwacht der Bewährungshelfer im
Einvernehmen mit dem Gericht die Erfüllung der Auflagen und Weisungen sowie der
Anerbieten und Zusagen. Die Bewährungshilfe hat also demnach zwei Funktionen zu
erfüllen: einerseits zu helfen und zu betreuen, andererseits zu überwachen und
zu kontrollieren. Meiner Meinung nach erschwert diese Aufgabenstellung und der
Zwangscharakter der Beratung sowie die enge Anbindung der Bewährungshilfe an
das Gericht ein effektives Arbeiten mit dem immer schwieriger werdenden
Klientel. Aus diesem Grund bin ich in meiner Diplomarbeit der Frage nachgegangen,
ob Erlebnispädagogik in der Lage ist, ein effektives Arbeiten zu erleichtern.
Die intensive Auseinandersetzung mit themenspezifischer Literatur sowie das
Kennenlernen des Marburger Projektes und teilnehmenden Probanden hat mich
überzeugt, daß erlebnisorientierte Gruppenarbeit eine ideale Arbeitsmethode in
der Bewährungshilfe darstellen kann.
Das Marburger Projekt und die Aussagen der Teilnehmer
haben deutlich gemacht, daß aufgrund der Teilnahme an der Maßnahme ein ganz
anderes Verhältnis zur Bewährungshilfe entstanden ist, welches anschließend
auch eine völlig veränderte Basis für das Arbeiten schuf. Der Zwangscharakter
wurde hier weitgehend aufgebrochen, und die teilnehmenden Probanden konnten
sich in einer völlig anderen Art und Weise dem Bewährungshelfer öffnen, was
eine effektiveres Arbeiten zur Folge hatte. Des weiteren förderte die Maßnahme
nach Aussagen der Probanden eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen
Lebenssituation und ihren Straftaten und hat den Wunsch in ihnen geweckt, in
Zukunft ein straffreies Leben zu führen. Die vollbrachten Leistungen im Rahmen
des Projektes und die dafür erhaltene Anerkennung von Außenstehenden hat den
Teilnehmern gezeigt, daß sie in der Lage sind, etwas zu leisten und zu
erreichen und hat ihnen aufgrund dessen Mut und neue Motivation für die Zukunft
gegeben. Des weiteren haben die Aussagen über die Zielvorstellungen des
durchführenden Bewährungshelfers in den Äußerungen der Teilnehmer Bestätigung
gefunden, nämlich, daß hier wertvolle Lernprozesse angestoßen wurden und eine
gewisse Nähe entwickelt werden konnte sowie Verhaltensdefizite deutlich wurde.
Abschließend möchte ich noch erwähnen, daß
Erlebnispädagogik meiner Meinung nach in der Lage ist, die Aufgabenstellung der
Bewährungshilfe besser erfüllen zu helfen, da hier eine Situation geschaffen
wird, die sich deutlich von der herkömmlichen Schreibtischsozialarbeit
unterscheidet. Meiner Auffassung nach ist es so viel besser möglich, den
Probanden als ganzen Menschen kennenzulernen und auch wirklich seine wahren
Belange und Probleme zu erfahren,. Dies halte ich für entscheidend für die
weitere gemeinsame Arbeit und auch für den Arbeitsauftrag der Bewährungshilfe,
dem Probanden zu helfen, ein Leben in Straffreiheit zu führen. Diesem
Arbeitsauftrag kann man nur gerecht werden, wenn man weiß, mit welchen Menschen
man es zu tun hat und wo die Probleme und eventuell unerfüllten Bedürfnisse
liegen, die Grund für die Straffälligkeit waren. Die herkömmliche
Bewährungshilfearbeit ist meiner Ansicht nach nur schwer in der Lage, die dafür
notwendige Nähe zum Probanden herzustellen, da oftmals wegen bestehenden
Vorbehalten und aus Zeitmangel vorhandene Probleme, Bedürfnisse und
Verhaltensdefizite überhaupt nicht zur Sprache kommen. Des weiteren sind ja wie
bereits erwähnt die Erfahrungen und Lebenssituationen Straffälliger in der
Regel geprägt von Mißerfolgserlebnissen und Frustrationen, denen eine
Schreibtischsozialarbeit nichts entgegenzusetzten hat, da hier keine Lernfelder
eröffnet werden, in denen davon abweichende Erfahrungen gemacht werden können.
Aufgrund dessen bietet hier ebenfalls die Erlebnispädagogik eine Chance, aus
der Mißerfolgsspirale auszusteigen und positive Erfahrungen zu sammeln, die
neuen Aufwind für die Zukunft geben. Letztlich wird den Probanden hiermit auch
einfach eine neue Form der Freizeitgestaltung an die Hand gegeben, die nicht
nur mit illegitimen Mitteln erreichbar ist ,sondern sich im Bereich des Legalen
abspielt.
In der Praxis der Bewährungshilfe sieht es jedoch bis
heute leider so aus, daß erlebnisorientierte Gruppenarbeit nur von Einzelnen
und eher sporadisch durchgeführt wird. Wichtig wäre aber, von der dominierenden
Arbeitsweise der sozialen Einzelhilfe in der Bewährungshilfe, etwas
wegzukommen. Einen Ausweg könnte meiner Meinung nach eine feste Verankerung
erlebnispädagogischer Gruppenarbeit in jeder Beratungsstelle bieten und zwar,
indem pro Beratungsstelle ein Bewährungshelfer solche Maßnahmen für dort
unterstellte Probanden anbietet. Eine andere Variante wäre die Gründung eines
Vereins, wie er bereits von einigen Bewährungshelfern geplant wird, der
beratungsstellenübergreifend erlebnispädagogische Maßnahmen für Probanden
anbietet.
Der kritischen Beurteilung erlebnispädagogischer
Maßnahmen kann man meiner Meinung nach entgegenwirken, indem transparent
gemacht wird, was hier geschieht, mit welchen Intentionen und mit welchem
Kostenaufwand. Die Bewährungshilfe Marburg hat ja bewiesen, daß es durchaus
möglich ist, kostengünstigere Maßnahmen durchzuführen, die ebenfalls ihre
Wirkung haben. In Bezug auf die Transferproblematik ist es wichtig, eine gute
Vor- und Nachbereitung der Maßnahmen durchzuführen sowie tägliche
Reflexionsrunden abzuhalten. Somit werden den Probanden angestrebte
Zielvorstellungen bewußt gemacht und es kann eine Hilfestellung bei der
Übertragung der gemachten Erfahrungen in das tägliche Leben gegeben werden.
Entscheidend ist meiner Ansicht nach abschließend noch, daß Erlebnispädagogik
nicht mit der Erwartung angeboten werden sollte, strafbare Handlungen zu
vermeiden. Sie stellt ein Medium dar, welches einen anderen Zugang zur Klientel
schaffen kann, wodurch wiederum ein effektiveres Arbeiten möglich wird das
einer erneuten Begehung von Straftaten entgegenwirkt.
7. Literaturverzeichnis der Diplomarbeit
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Baden-Württemberg, 2. Auflage, Münster, 1995, S. 11 - 25
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Erlebnispädagogik im Rahmen von sozialen Trainingskursen bei der kath.
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Erlebnispädagogik zum Abbau oder zur Vermeidung strafbarer Handlungen gibt es
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wo andere Hilfen versagen", in: Erlebnispädagogik, Jugenstiftung Baden
Würtemberg (Hrsg.), 1995, S. 107 - 111
Anhang A :
Interview mit drei der teilnehmenden
Probanden an der erlebnispädagogischen Wanderung der Bewährungshilfe Marburg
Interviewerin: So,
ich wollte Euch erst einmal fragen, warum Ihr denn überhaupt da teilgenommen
habt, denn das war ja wohl freiwillig und Ihr mußtet das ja nicht machen?
Hans: Nee, machen mussten wir es
nicht. Och wir sind einfach freiwillig mitgefahren, um hier aus dem Alltag
einfach mal rauszukommen, weil es halt ne gute Sache war, was von der
Bewährungshilfe angeboten wurde.
Manfred:
Also bei mir
war’s halt so, bei mir war’s halt anders als bei den andern beiden, weil die ja
schon mal da waren und Ihr ward bestimmt schon mal da, weil’s halt schön war.
Hans: Ja sicher, zum zweiten Mal sind
wir mitgefahren, weil’s halt schön war.
Manfred: Und bei mir war’s halt einfach
so, gut ich war erst drei Monate auf Bewährung: für mich war’s halt eigentlich
auch nur mal, dem Alltag zu entfliehen. Aber jetzt, wenn ich da jetzt dieses
Jahr wieder mitfahr, dann ist es einfach nur - es gibt nix schöneres, wenn man
so ne Natur sieht oder so. Das bindet halt irgendwie auch an die Bewährung,
irgendwie wenn man das dann alles sieht und denkt, wenn man jetzt nochmal Mist
baut, dann kann man so was nie mehr erleben. Da gehört man halt zu einer ganz
anderen Welt, wenn man da nur mit der Natur verbunden ist. Daß kann man gar
nicht mit Worte erklären. Für mich ist es eigentlich ne Sucht geworden. Ich
weiß haargenau, weil mir halt den berühmte Weg, den Jakobsweg gewandert sind,
hab ich mir halt das Ziel gesetzt bis nach Santiago durchzulaufen und wenn ich
das alleine durchziehe. Das ist halt irgendwie was ganz anderes, wenn man so
mit der Natur verbunden ist. Es gibt kein Alltag, es gibt Nix, es gibt kein
Telefon, es gibt kein Briefkasten, wo ein Brief kommt auf dem irgend ein
Problem draufsteht.
Hans: Ja, die kommen ja, wenn Du
wieder zu Hause bist. Aber Du kriegst auch einen anderen Bezug zur
Bewährungshilfe irgendwie und zum Bewährungshelfer auch. Der setzt sich dann
für Einen auch mehr ein, wenn man - der sieht halt, daß er sich auf Einen
verlassen kann, daß man zuverlässig ist und das ist halt - ich weiß nicht.
Doris: Bei mir hat das halt mit der
Vorgeschichte zu tun. Ich hatte also vorher ein Drogenproblem gehabt. Bin von
Kassel hier her nach Marburg gekommen und mir ging es irgendwie gar nicht so
gut und den Peter Reckling, den hatte ich auch erst neu kennengelernt. Den hab
ich halt hier in Marburg als Bewährungshelfer zugeteilt bekommen und der hat
mir das halt angeboten und normalerweise war so ne Gruppenfahrt oder mit
anderen Leuten irgendwie länger weg zu fahren gar nicht so mein Ding. Der H.
und ich wir haben uns halt überlegt, wenn die Fahrt nix wird, wenn man mit den
Leuten irgendwie nicht auskommt oder so, dann machen wir halt wenigstens nen
Urlaub für uns. Machen uns halt paar schöne Tage und weil wir halt überhaupt
nicht die Möglichkeit hatten, irgendwie anders einen Urlaub zu finanzieren,
haben wir halt gesagt, fahren wir mal mit. Gerade weil die Gegend, also ich war
schon mal da im Zentralmassiv, und das ist ne tolle Gegend und da haben wir uns
gedacht, das bringt auch irgendwie was. Man hat Zeit irgendwie über sich ein
wenig nachzudenken und da hab ichs mal auf mich zukommen lassen.
Hans: Ja das war ja auch ne gute
Sache, daß da vom Gericht irgendwie auch Finanzen dazukamen. Es war jetzt nicht
so, daß jetzt von der Seite her gar nix kam. Da sieht man auch, daß das Gericht
daran interessiert ist, was weiß ich, die Bewährungshilfe mitzugestalten. Für
viele ist es so, die gehen einmal die Woche zum Bewährungshelfer, nur weil sie
der Bewährungshelfer sehen möchte und die weiterhin ihren Scheiß bauen und
sowas. Aber wenn man da irgendwie mal an sowas teilgenommen hat, so ne
Aktivität von der Bewährungshilfe aus, dann ist das irgendwie ganz anders. Man
geht beim Bewährungshelfer vorbei, einfach so einen Freundschaftsbesuch mal. Also
der Peter hat uns nicht einmal angeschrieben, seit dem wir da mit waren, daß
wir da vorbeikommen sollen oder so. Wir gehen halt freiwillig hin und sagen
"Hallo" und dann wird halt das besprochen, was vielleicht ein Problem
ist oder keins ist.
Doris: Auf der Fahrt, da hat er
(Bewährungshelfer) uns halt das "Du" angeboten, weils ein bißchen
blöd war, wo wir da halt ein paar Tage schon zusammen waren, da immer noch
"Sie" zu sagen. Also er hat uns gesiezt und wir ihn und irgendwann
hat er halt gesagt : "Wir bleiben jetzt beim Du". Dadurch hat sich
das Verhältnis total geändert, irgendwie mehr freundschaftlich jetzt.
Interviewerin: Und welche Erfahrungen habt Ihr denn da gemacht,
wo Ihr sagen könnt, also als wir dann nach Hause gekommen sind, das hat uns was
gebracht und die haben wir halt auch mit in den Alltag nehmen können?
Manfred: Das ist auch so die
Verpflichtung irgendwie. Also es gibt auch ne Regel, daß man im Team zusammen,
kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Drogen.
Hans: Ganze Abstinenz war das nicht,
nur Alkohol und Drogen waren untersagt.
Manfred: Und dann halt auch morgens das
Aufstehen, da kann das nicht sein, daß irgendeiner morgens zwei Stunden länger
schläft. Es müssen alle da sein und das Aufstehen war schon ein bissel
Verpflichtung. Hät man das halt nicht so gemacht, dann hät man das auch
irgendwie nicht sehen können und das hab ich mir danach irgendwie in den Alltag
mit rein genommen. Weil, wenn ich jetzt morgens bis elf oder zwölf Uhr schlaf,
dann kann ich nix erreichen, als wenn ich morgens um acht oder um sieben Uhr
aufsteh. Abends hat man sich dann überlagt, was machen wir morgen und wie laufen
wir und dafür muß ich um acht Uhr aufstehen, wenn ich das erreichen will. So
hab ich das halt zu Hause dann irgendwie gemacht. Ich hatte mir vorher halt das
Ziel gesetzt, mir in der Reise alles, meine ganzen Probleme durch den Kopf
gehen zu lassen und mal alles aus mir raus zu lassen irgendwie. Und dann hab
ich halt dadurch gelernt, daß es wichtig ist, wenn man abends etwas plant, dann
zu planen, wann ich früh morgens dann aufstehn muß. Wenn ich bis elf oder zwölf
Uhr im Bett lieg, brauch ich mich nicht zu wundern, wenn ich keine Arbeit
krieg.
Hans: Wir waren alle irgendwie
arbeitslos oder sonst was und haben nix gemacht jobmäßig und in der Richtung
überhaupt keine Verpflichtungen gehabt. Und dann hat man da doch gelernt
irgendwie zusammen zu halten und zusammen zu arbeiten und auch das miteinander
Laufen und so was, Karten lesen, den Weg finden. Da mußte sich schon der Eine
auf den Anderen verlassen können und es wurde alles gemeinsam gemacht, die
ganzen Aktivitäten da in Frankreich. Es war schon ne tolle Sache.
Im
Weiteren erzählen die Interviewteilnehmer nun von der ersten Wanderung auf dem
Jakobsweg im Vergleich zu der zweiten und kommen zu dem Ergebnis, daß beim
zweiten Mal alles besser klappte als vorher, da die Organisation besser war.
Doris: Bei uns war es halt so, wie wir
halt aus Frankreich kamen, wir waren bestimmt noch acht Wochen danach so im
Urlaubsfieber in der Fahrt da drin, also es hat lange angehalten irgendwie.
Hans: Ja, das war jetzt die Sache zum
Urlaub, aber was die Bewährungshilfe betrifft, man kriegt einfach einen ganz
anderen Bezug dazu find ich, wenn man sowas mitgemacht hat von der
Bewährungshilfe. Ich kann mich noch daran erinnern nach der ersten Fahrt, wo
wir dann ins Eisstadion wollten (ebenfalls von der Bewährungshilfe aus) und wo
dann kein Mensch kam. Wir waren die
Einzigen, die dann da waren. Da hat man dann doch gesehen, daß wir die Sache
ernst genommen haben und die anderen das eben auf die leichte Schulter genommen
haben und dachten "Der kann mich grad mal".
Doris: Ich kann mich das erste Mal
daran erinnern, als ich beim Peter (Bewährungshelfer) saß, ich hab mich echt
gefragt, was willste denn da. Jetzt mußt du zweimal im Monat zu dem Kerl halt
hin und mußt dich mit dem da über irgendwas auseinandersetzen. Und ich fand
schon wichtig über so ne Fahrt oder wir hätten ja auch was anderes machen
können, aber daß man sich halt näher kennenlernt und so. Anders miteinander
umgeht und jetzt ist das schon in Ordnung so auf einer freundschaftlichen Basis
und man hat viel mehr Vertrauen und redet auch ganz anders, als wenn das
einfach nur so en Mensch da von so einem Amt ist, dem öffnet man sich gar nicht
so.
Manfred: Also das find ich auch. Wo ich
mit der Bewährung angefangen habe, da dachte ich auch, das ist wie beim Arbeitsamt,
wo du alle drei Wochen hingehen mußt, damit die ihr Kreuzchen machen können. Erst
auch, aber dann, mit solchen Aktivitäten, da merkt man halt, denen geht es
nicht nur um ihren Job, sondern die strengen sich wirklich an, die wollen dir
helfen. Das hilft unheimlich, man steht halt ziemlich alleine da, wenn man
Bewährung hat. Das ist halt unheimlich wichtig, wenn jemand da ist, der dir
zeigt...
Doris: Der Peter ist auch während der
Wanderung mit jedem Einzelnen mal in so ne Ecke gelaufen und hat mal ein Gespräch
geführt, um denjenigen halt kennenzulernen. Also das hat toll funktioniert.
Hans: Also, er hat die Leute richtig
kennengelernt und jeder selber hat ihn auch besser kennengelernt.
Interviewerin: Sind
da denn auch mal so Probleme angesprochen worden, wie Ihr zum Beispiel in das
Ganze reingekommen seid und warum Ihr Bewährung habt ?
Hans: Doch sicher, die Leute
gegenseitig haben sich sicher mal darüber unterhalten, wenn man mal so
zusammengelaufen ist oder sonstwas. Das man halt mal gesagt hat, weshalb hast
Du Bewährung oder so. Weshalb und warum ist es so gekommen. Aber man hat doch
gemerkt, alle Leute, die da irgendwie mit waren, die gehen damit nem ganz
anderen, die haben halt das Ziel:" Ich will keine Bewährung mehr haben und
so. Das ist Scheiße, kein Mist mehr bauen." Das ist ganz anders wie bei
Leuten, die auch bei Vortreffen mit waren.
Hans erzählt hier weiterhin von
potentiellen Teilnehmern der Wanderung, die viel um die Sache herumgeredet haben,
letztendlich aber doch nicht mitgefahren sind.
Doris: Das sind eben nur wenige von
den Leuten, die dazu bereit sind sowas zu machen. Also so Leute, die schon ewig
im Knast gesessen haben, die kann man auch nur schwer überreden so ne Fahrt
mitzumachen. Ich denk mir, das ist ein kleiner Teil, der auch wirklich dazu
bereit ist. Wir haben ja auch wirklich was geleistet, die Kilometer, die wir da
laufen und überhaupt das Zusammenleben und so, daß kann ja auch nicht jeder. Man
muß auch ne Bereitschaft zeigen, mit anderen Leuten - es war zwar nur eine
Woche - aber wenn man eine Woche auf engstem Raum zusammen wohnt praktisch,
dann muß man sich schon auf den Einen oder Anderen einlassen und Toleranz
zeigen.
Hans: Ja für den Peter ist es
bestimmt auch nicht einfach, er verläßt sich ja dann auch auf uns. Das wir uns
da gegenseitig vertragen und daß nichts passiert. Kann ja passieren, daß da
Einer mitfährt und in Frankreich plötzlich auffällig wird, zum Beispiel in
einem Geschäft die Taschen vollsteckt. Es wird vorher gesagt, das und das gibt
es nicht, das ist Out und daran hält sich dann jeder.
Doris erzählt nun von Problemen, die
es auf der ersten Fahrt gab und berichtet davon, daß man immer versuchte die
Konfliktlösungen gemeinsam in der Gruppe worden sind zu finden.
Doris: Da war immer die Meinung von
allen gefragt und das hat nicht einfach der Peter entschieden und das war schon
so ne Gemeinschaft.
Hans: Da kam es ja auch drauf an, das
war ja auch Sinn und Zweck der Sache.
Interviewerin: Warum
meint Ihr, sind solche Aktivitäten gerade etwas für Straffällige, was bringt es
gerade den Leuten?
Manfred: Ja wenn ich jetzt zum Beispiel
bei mir war’s halt so, ich hatte ja gerade frisch Bewährung. Ich war total
drunten gewesen eigentlich, wo ich die Reise angetreten hab und bei anderen war
das ja auch so, denn die leben ja im Alltag weiter d.h. die Probleme sind immer
bei denen drin. Ist klar durch die Reise sind jetzt nicht die Probleme weg,
aber du gehst halt ganz anders damit um. Wenn du jetzt irgendwie auf so einer
Reise bist, dann kannst du das viel besser verarbeiten, denn es ist halt keiner
da, der an dich kommt. Du kannst das alles rauslassen, du kannst dich mit
Leuten darüber unterhalten, du kannst alles rauslassen und so. Ich mein wenn du
so im Alltag bist, dann frißt man das alles viel mehr in sich rein, aber auf so
einer Reise kannste mit anderen reden. Da kannst du der sein der du bist und
mußt nicht der sein, was andere vielleicht wolle.
Doris: Gerade in dieser einsamen
Gegend, wir waren ja wirklich so auf uns gestellt und mußten halt das
Miteinander, wie ich zum Beispiel, ich hab überhaupt kein Freundeskreis gehabt,
ich war halt so ein Einzelgänger. Ich mußte das mehr oder weniger auch lernen
mit anderen Leuten halt auszukommen über diese Zeit und so. Und gerade in
dieser einsamen Gegend war das also schon gut zu lernen irgendwie. Man hatte
viel Zeit sich halt Gedanken zu machen und so.
Hans: Na, weil Straffällige sind ja
nun mal ne Problemgruppe genau wie Heimkinder auch oder sowas, was weiß ich. Aber
es ist schon gut, daß so etwas unternommen wird, daß die Leute halt auch mal
lernen, das gegenseitige Verlassen auf den Anderen und sowas, das ist irgendwie
sonst nicht. Wenn jemand in den Knast gesperrt wird, dann sitzt er seine Zeit
ab und schiebt nur einen Frust und sowas, was nicht viel bringt. Aber wenn
diejenige Person da irgendwie in der Zeit wo er draußen ist, mehr unternimmt
und an sich arbeitet, dann bringt das viel mehr. Der sieht dann auch ein, daß
er Scheiße gebaut hat und er sieht das Problem, wo es ist. Man sieht’s halt.
Interviewerin: Meint
Ihr, bei solchen Maßnahmen kann man vielleicht eher die eigenen Probleme
erkennen und an sich arbeiten ?
Hans: Auf jeden Fall.
Doris: Man hat jedenfalls die Zeit
dazu, sich überhaupt Gedanken zu machen. Wenn man so zu Hause im Alltag steckt,
dann ist irgendwie jeden Tag was anderes und man kommt überhaupt nicht dazu,
sich irgendwie ruhig hinzusetzen und über sich und über das Umfeld halt
nachzudenken. Da hatte man halt die Möglichkeit, weil von außen keine Einflüsse
halt kamen, konnte man sich wirklich die Zeit nehmen und sich da Gedanken
machen.
Hans: Ja, über die Sache halt selber
mal nachzudenken und weshalb man den Scheiß gebaut hat und warum und daß es ja
eigentlich nicht sein brauch, daß man das tut, ne. Und dann kriegt man halt
auch ein anderes Verhältnis dazu. Was weiß ich, zu dem Ganzen halt was man
verbrochen hat. Man sieht halt, man hat Scheiße gebaut. Man sieht das Problem,
ne, und läuft nicht daran vorbei, wenn man da einmal oder zweimal im Monat zum
Bewährungshelfer geht, da geht man schon mit einem Hals hin. Äh - muß ich
wieder da hin und äh - das ist nur Gelaber und da sitzt man ne viertel- oder ne
halbe Stunde da, kriegt Fragen gestellt, die beantwortet man, geht raus und das
wars. Das Problem ist aber nicht erkannt dadurch und da sieht man halt, ich
weiß nicht woran das liegt, man denkt darüber nach. Was hat man gemacht und
wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich halt nie in die Scheiße reingeraten
oder sonstwas und man sieht halt, daß man Scheiße gebaut hat.
Manfred: Man ist halt mit ner ganz
anderen Motivation aus dem Urlaub gekommen und hat seine Angelegenheiten zu
Hause also die dann zu Hause auf Einen gewartet haben - mir gings jedenfalls so
- ganz anders angefaßt jetzt so.
Hans: Ja, alles, dieses Ganze, ob das
jetzt Bezahlen war an Gerichtskassen oder sonst alles, egal was da jetzt
anliegt so an den anderen Bewährungsauflagen. Man hat das alles ganz anders
gesehen, man hat plötzlich gesehen, das mußte halt tun, es ist halt wichtig daß
du das tust und wenn du es machst, dann wirst du auch im Endeffekt belohnt
dafür. Das du nicht wieder straffällig wirst oder sonst was und man führt halt
ein normales Leben halt wie andere Leute auch und hat überhaupt keine Lust mehr
dazu, irgendwie straffällig zu werden oder sonstwas oder irgendwie nen Scheiß
zu bauen.
Interviewerin: Habt
Ihr denn da auch so in der Gruppe voneinander lernen können?
Hans: Ja sicherlich, klar. Man hat
darüber gesprochen wie es jedem ergangen ist. Zum Ende der Fahrt wußte
eigentlich jeder über jeden Bescheid, obwohl das nicht da in der Gruppe
diskutiert wurde oder sonstwas, aber man hat sich schon untereinander
ausgetauscht. Und dann hat der mal erzählt und der mal erzählt und das war halt
immer mal gut mit jemanden zu reden, der das gleiche Problem hat oder sowas. Und
wie der das angeht und so, aber zum Schluß hat jeder den richtigen Weg
gefunden, denk ich mal. Auf jeden Fall die Leute, die letztes Jahr mit
waren.
Doris wendet hier ein, daß dies nicht
bei allen Teilnehmern der Fall war und berichtet von einem Probanden mit einem
Alkoholproblem, der nach der Fahrt erst so richtig abgestürzt sei, jetzt jedoch
eine Therapie begonnen habe. Hans erzält im Weiteren von den Problemen
auf der ersten Fahrt. Er führt an, diese sei noch etwas unorganisiert gewesen,
also mehr wie ein richtiges Abenteuer. Außerdem sei es zu keinem richtigen
Gruppenzusammenhalt gekommen, da einige der Teilnehmer die Maßnahme überhaupt nicht
ernst genommen hätten und die Wanderung ihnen auf den "Senkel"
gegangen sei.
Manfred: Aber ich finde schon, daß durch
so ne Fahrt neue Türen gezeigt werden, die auch geöffnet werden. Ich finde
schon, daß das irgendwie gut ist, wenn man mal aus seinem Alltag einfach
flüchten kann, weglaufen kann. Wenn auch nur für ne kurze Zeit.
Interviewerin: Man
kommt aber doch wieder zurück!
Manfred: Ja. ja aber man kriegt mal ne
Pause irgendwie. Das war wie so ne Entgiftung.
Hans: Ich denke mal, uns drei, wie wir
hier sitzen, hat es viel gebracht irgendwie. Ich mein also uns hat es viel
gebracht. Wir haben auch irgendwie einen Sinn darin gefunden, weil, was die
Reise angeht, wir sind ja immer, wenn das erste Mal, das war ein bißchen schief
gelaufen, und es war ne tolle Gegend und wir sind beim zweiten Mal auch
deswegen mitgefahren, weil man auch den Bezug zur Bewährungshilfe nicht
verloren hatte oder sowas, ne.
Weiterhin
berichtet Hans von Probanden, welche man hin und wieder mal treffe und
die ihre Zeit bei der Bewährungshilfe eben ableisten würden, ohne sich weitere
Gedanken über den Sinn und Zweck zu machen. Er führt an, daß die Teilnehmer an
diesen Maßnahmen jedoch von diesem Zeitpunkt an ein ganz anderes Verhältnis zur
Bewährungshilfe bekommen hätten.
Hans: Wir jedoch hatten ab diesem
Zeitpunkt ein ganz anderes Verhältnis zur Bewährungshilfe, zur Sache an sich,
was die Bewährung eigentlich angeht. Man hat halt erkannt, um was es geht. Sonst
sieht man einen Bewährungshelfer als einen Menschen, wo man hingehen muß, daß
ist ne Auflage vom Gericht. Das ist irgendwas schlimmes, daß ist vom Gericht
aus und schon ist es Scheiße, obwohl es eigentlich ne gute Sache ist.
Doris: Und jetzt ist es halt so en
Ansporn, also man leistet ja wirklich was während so einer Fahrt. Das ist ja
nicht, daß wir da einfach mit dem Bus so durch die Gegend fahren. Und deswegen
ist es schon irgendwie so an seine Grenzen zu gehen, wenn man den ganzen Tag
gelaufen ist und hat halt abends sein Zelt aufgebaut und fällt nur noch auf
seine Isomatte oder auf seinen Schlafsack. Also es ist irgendwie schon ein
tolles Gefühl, wenn man so ein bißchen ausgelaugt ist und man hat halt was
getan und nicht vielleicht wie zu Hause so unnütz darum gesessen.
Manfred: Man lernt halt nach Regeln zu
leben.
Interviewerin: Wenn
man also so an seine eigenen Grenzen geht - die Bewährungshilfe und das ganze
Straffälligsein ist ja eigentlich so belastet von lauter negativen
Eigenschaften. Auf solchen Maßnahmen soll man ja auch Seiten von sich
kennenlernen, die eben positiv sind und die einem zeigen, daß man auch was
erreichen kann und nicht nur schlecht ist, weil man straffällig ist. Habt Ihr
das auch so erlebt?
Hans: Ja sicher. Ich denke da dran
liegt das auch, daß wir alle durch die Bank weg einen Job jetzt in diesem Jahr
gefunden haben. Das ist ja grad bei Straffälligen ist es schwierig dann sich
wieder einzugliedern in die normale Gesellschaft halt und sonstwas. Jeder hat
sich irgendwie ein Ziel gesteckt und geht einer geregelten Arbeit nach und
sowas. Ich denke, mal das ist - die Fahrt hat viel bewirkt bei jedem, also
jeder hat irgendwie gelernt: ich muß was tun, so geht es einfach nicht, daß ich
alles auf mich zukommen lasse und sowas. Und man hat halt dort ein gewisses
Pflichtbewußtsein gelernt.
Doris: Was ich aber auch schön fand,
wir sind alle irgendwie, wir sind alle mit der Bewährungshilfe rübergefahren
und waren halt die meisten Knackis und halt ein Bus voll schlechte Menschen, so
ungefähr. Und wo wir halt durch Frankreich gelaufen sind, erstmal die Franzosen
in den Ortschaften, alle waren total freundlich und nett und wir kamen da auch
mit unseren Pilgerstäben und Rucksäcken vorbei und alle haben uns begrüßt und
so irgendwie. Und wir waren da auch anerkannt als Pilger, daß wir halt zu Fuß
da diesen Marsch machen und waren halt nicht mehr diese schlechte Menschen
irgendwie.
Hans: Man hat sich anders gefühlt,
ne, angesehener wie jetzt hier gesagt wird, daß ist eh ein Straffälliger und
das ist ein schlechter Mensch, obwohl man sollte sie ja net alle über einen
Kamm scheren!
Interviewerin: Das
ist aber doch oft so und das erlebt Ihr doch bestimmt auch so?
Hans: Das ist überall so, ob man
jetzt einen Job sucht oder sonstwas, ne. Das ist halt - ich hab hier letztens
erst von meinem Chef wieder gehört und das fand ich auch als irgendwie als
Bestätigung, daß er halt sagt zu mir : "Man kann Einem nur bis vor den
Kopf gucken". Er hat halt gemerkt, daß ich in der Arbeit gut bin und sowas
und sagte die inneren Werte zählen halt eben, ne?! Das, was man erreichen will
und was man kann. Da ich halt jetzt noch in der Ausbildung bin. Er hat mir
angeboten, daß wenn ich fertig bin, daß ich da sofort meinen Job hab. Das war
halt das, was im Praktikum gelaufen ist. Man geht die Sache anders an, man will
was erreichen und man will halt leben, wie die anderen Menschen auch leben,
halt in Ruhe und Frieden und nicht als armer Knacki oder sowas. Wenn man halt
immer so weiter lebt, ach es ist egal ob ich jetzt einen Job hab oder nicht,
das arbeitslos sein ist ganz gut, ich brauch nix zu tun und mit dem Geld komm
ich auch rum und sowas. Man muß sich halt ein Ziel stecken. Man muß halt
einfach sagen, ich kann auch mehr als das, und ich denke mir mal, daß die
Fahrten da viel beigetragen haben. Das jetzt, mir das Ziel zu stecken,
eigentlich nur die Fahrten und die ganze Beziehung zur Bewährungshilfe und
dann.
Stephanie Volk