Erlebnispädagogik in der Bewährungshilfe

 

Erlebnispädagogik als ein Bestandteil der sozialen Gruppenarbeit führt bisher in der Bewährungshilfe nur eine Schattendasein. Verschiedene Maßnahmen wurden bisher eher vereinzelt durchgeführt: Kanutouren, Segeltörns, Kletter- und Wanderaktivitäten. Diese Aktivitäten waren immer eingebettet in ein sozialpädagogisches Konzept. Hier soll über die Gruppenwanderung der Bewährungshilfe Marburg berichtet werden.

 

"Lernen durch das Tun"

Der erlebnisorientierte Ansatz bietet die Chance näher an der Problemwelt der Probanden zu sein, da gerade ihre Wahrnehmungen handlungsorientiert sind. "Lernen durch das Tun" steht im Mittelpunkt.

Die erlebnisorientierte Gruppenarbeit ist eine anerkannte Methode in der Sozialpädagogik. In der Bewährungshilfe bietet gerade diese Methode die Chance, bei delinquenten Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine positive Perspektive zu entwickeln und Defizite zu reduzieren. Die Erlebnispädagogik bietet die Möglichkeit die allgemeinen Vorteile der Gruppenarbeit zu nutzen und zu intensivieren, da sie mit folgenden Schritten verknüpft ist:

Seit 5 Jahren in Etappen auf dem Jakobsweg

 

Seit 5 Jahren macht sich eine Gruppe der Bewährungshilfe Marburg auf den Weg. Die Probanden – einige haben schon 4x teilgenommen – wandern mit dem Bewährungshelfer auf dem Jakobsweg durch Frankreich nach Spanien. 1995 startete die erste Gruppe in Le Puy, einem historischen Sammelort für die Pilger des Mittelalters auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela. Im Jahr 1999 überquerte die Gruppe nach 10 Tagen Fußweg die Pyrenäen und erreichte Roncesvalles. Insgesamt wurden in den 5 Jahresetappen, die jeweils 1 bis 2 Wochen dauerten, 750 km zurückgelegt.

 

Zwei Wochen auf Wanderschaft

So starteten im August 1999 7 Männer aus Marburg zu der zweiwöchigen Wanderung auf dem Jakobsweg. Begleitet wurde die Gruppe vom Bewährungshelfer und dem Co-Leiter (Student der Erziehungswissenschaften). Die Probanden lernten sich vorher in mehreren Vorbereitungstreffen kennen und entschlossen sich der Herausforderung einer Erlebniswanderung zu stellen. Da diese Wanderung an die vergangenen Etappenwanderungen anknüpfte, war die Vorbereitung auch durch die schon mit der Maßnahme vertrauten Probanden gestützt worden.

 

Herausforderung für alle Beteiligten

2 Wochen in einer Gruppe tagtäglich zusammensein, ist schon eine Herausforderung. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten, die jeweiligen biographischen Eigenheiten, die die Teilnehmer mitbrachten und die gesellschaftliche Stellung verstärkten die Herausforderung der Unternehmung. Bis auf einen Teilnehmer haben alle schon mehrere Gefängnisstrafen verbüßt, ein Teilnehmer war einen Monat vorher nach 4 jähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen worden.

2 Wochen in fremder Umgebung, in einer Gruppe, die alles gemeinsam verrichtete: Anreise, Schlafen im Freien (oder Zelt), Einkauf und Bereitung des Essens, Abwasch, Waschstellen auffinden, Tagesplanung, Wanderung von täglich 25 km, Tagesauswertung, Kassenführung und alles weitere was eine gemeinsame Unternehmung erfordert.

 

"Geh‘ mit Gott, aber geh‘"

"Geh’ mit Gott", ist ein Gruß an die Pilger auf dem Jakobsweg, der bestärkend für die Bewältigung des Vorhabens wirken soll. Freundlich wurden die Probanden immer wieder von anderen Menschen begrüßt. "Aber geh’" drückt die ablehnende und ausgrenzende Haltung des Umfeldes aus, das die Straffälligen als soziale Außenseiter immer wieder erleben. So konnte dies auch die Gruppe auf ihrer Wanderung erleben, wenn sich der freundlichen Begrüßung der Anwohner die skeptische Haltung anschloss, ob denn die Gruppe etwa hier ihr Quartier aufschlagen wollte. So ist der Ausruf "Geh’ mit Gott – aber geh’" ein Synonym für die Erlebnisse auf dem Jakobsweg und der alltäglichen Erfahrung am Heimatort der Probanden. Während der erlebnispädagogischen Wanderung, konnte diese Erkenntnis nutzbar zur Reflexion der eigenen Rolle gemacht werden.

 

Aufmachen auf einen neuen Weg

Mit dieser Aktivität sollte den Teilnehmern ermöglichen werden, den gewohnten Alltag zurückzulassen und sich aufzumachen auf einen ungewohnten, neuen Weg. Das Zurücklassen des gewohnten Weges ist notwendig, denn dieser führte bei den Probanden in soziale und persönliche Schwierigkeiten und mündete schließlich in die Straffälligkeit. Durch das Aufmachen auf einen neuen Weg, der Ungewohntes und Fremdes mit sich bringt, sollte den Probanden ein Lernprozess ermöglichen werden, für einen Weg im Einklang mit der Umwelt und sich selber – ohne soziale Auffälligkeit und Straffälligkeit. Somit sind die Pilgergründe, die früher die Menschen veranlassten sich auf die Wallfahrt zu begeben ein Sinnbild für unsere Unternehmung: das Gewohnte und Alte zurückzulassen und sich auf das Fremde und Neue einzulassen.

 

Neue Wege, die tausend Jahre alt sind

Der Jakobsweg ist für jeden Menschen persönlich erst einmal eine neue Erfahrung, denn er begibt sich in eine fremde Umgebung und in eine unsichere Situation. Es gibt zwar Orte, Herbergen, Campingplätze etc. entlang des Weges, aber keine Gewissheit, welches Tagesziel erreicht werden kann. Jeder Tag war in diesem Sinn eine neue Herausforderung. Dieser Weg ist sehr alt. Er ist gezeichnet durch die Hunderttausenden von Menschen, die ihn über die vergangenen tausend Jahre gegangen sind. Sie strebten nach Santiago de Compostela in Nordspanien – dort wo der Apostel Jakob beerdigt sein soll. Früher machten sich die Menschen von ihrem Heimatort auf, um den Heiligen zu verehren, etwas für das eigene Seelenheil zu tun, eine Buße abzuleisten, in der Hoffnung auf ein Wunder oder in Erfüllung eines Gelübdes.

 

Heutige Motive: Aufbrechen aus der gewohnten Umgebung

Heute sind wieder viele Menschen auf dem Jakobsweg unterwegs. Sie haben dabei ähnliche Motive; aber wie auch damals schon, ist das Aufbrechen aus der gewohnten Umgebung – die nicht immer allen freundlich gesinnt ist –, verbunden mit der Sehnsucht nach Abenteuer und Improvisation, Antriebskraft für diesen beschwerlichen (und früher gefährlichen) Weg.

Gerade diese Impulse werden durch die Aktivität der Bewährungshilfe aufgegriffen. Die eigenen Kräfte sollen für die Bewältigung des Lebensalltags gestärkt werden. Die Gruppe versucht mit einfachsten Mitteln auszukommen. So wurde in der Regel im Freien (unter einer Plane) oder im Zelt übernachtet. Die Übernachtungsstellen fanden sich an Flussufern auf einsamen Weiden.

 

Auf dem Jakobsweg von Condom in die Pyrenäen

Die Strecke bis über die spanischen Grenze wurde zu Fuß zurückgelegt. Es handelte sich um 230 km, die in Tagesetappen gelaufen wurden. Gestartet wurde in Condom, dem Endpunkt der vorjährigen Etappenwanderung. Der Weg führte über den Ibaneta-Paß nach Roncesvalles in Spanien.

Die Anreise erfolgte in einem Kleinbus, der auch die Gruppe jeden Tag begleitete. In ihm wurde das Gepäck transportiert und der Fahrer erledigte den täglichen Einkauf. Die Anreise war sehr anstrengend, denn sie erfolgte in einem Tag. Die Rückfahrt verlief über 2 Tage etwas gemächlicher und war verbunden mit einem Abstecher an die Küste des Atlantischen Ozeans.

 

Das Tagebuch dokumentiert den Verlauf

Zum Standard der Aktivität hat sich das Führen eines Tagebuches bewährt. Es wurde abwechselnd täglich von einem anderen Teilnehmer geschrieben und abends vorgelesen. Damit konnte das Tagesgeschehen reflektiert werden. Im Nachhinein ist die erstellte Broschüre – an der sich auch die Probanden durch aktive Mitarbeit beteiligten – eine Erinnerung an die Maßnahme und ermöglicht ein Wiedererinnern an erfolgreich erlebte Situationen.

 

Das Geld: die gemeinsame Gruppenkasse und eine bittere Erfahrung

Jeder Teilnehmer hat ausnahmslos DM 150.- in die gemeinsame Gruppenkasse für die Einkäufe und Übernachtungskosten eingezahlt. Dinge für den persönlichen Bedarf, wie Tabakwaren, waren natürlich darin nicht inbegriffen. Die Kasse wurde von Gruppenmitgliedern verwaltet. Entsprechend der Absprachen über Einkaufswünsche und Essensplanungen wurde gemeinsam entschieden, was gekauft werden sollte. Ebenso wurde über die Entscheidung, ob die Übernachtung auf einem Campingplatz erfolgen soll, verfahren.

Aus dieser Kasse wurden 300 Francs entwendet. Die Gruppe wurde Opfer eines Diebstahls, wobei nicht aufgeklärt werden konnte, ob ein Gruppenmitglied oder ein "fremder Räuber" für die Tat verantwortlich zu machen war. Die Folge war, dass die Gruppe mit dem geringeren Geldbetrag auskommen musste.

 

Sponsoren und Unterstützer

Die Fahrtkosten übernahm das Hessische Ministerium der Justiz; weitere Zuschüsse wurden von Vereinen beigesteuert. Die Erstellung einer Broschüre wurde durch die Spenden verschiedner Marburger Geschäfte finanziert. Diese Broschüre dokumentiert den Verlauf der Wanderung und beinhaltet das Tagebuch der Teilnehmer.

Standards für Erlebnispädagogik in der Bewährungshilfe

 

Als Standards für die Erlebnispädagogik in der Bewährungshilfe bietet sich aus der Erfahrung der bisherigen Praxis folgendes an.

Über die soziale Gruppenarbeit gibt es gesonderte Informationen: Soziale Gruppenarbeit in der Bewährungshilfe

 

 

Die Broschüre: Auf dem Jakobsweg von Condom nach Roncesvalles ist für Interessierte erhältlich. Bestellungen an E-Mail: info@neuewege-bewaehrungshilfe.de). Ein Film (30 Minuten) kann ausgeliehen werden.

 

 

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